Christoph Butterwegge: „Der denunzierte Sozialstaat“.

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BILD, SPIEGEL, Christiansen, alle ziehen über die „Schmarotzer“ am Sozialstaat her. In den 1970er und 80er Jahren war es der „Asylmissbrauch“, nach einer drastischen Einschränkung des Asylgrundrechtes wurden Anfang der 90er die Sozialhilfeempfänger zu „Sozialschmarotzern“ und heute denunziert der scheidende Wirtschaftsminister Clement die Alg-II-„Parasiten“. Seit über 30 Jahren wird der Sozialstaat systematisch denunziert.

Einstmals, in der Zeit des „Kalten Krieges“ als Modellfall für einen humanen Kapitalismus hochgelobt, gilt der Zeit Sozialstaat seit geraumer als „Auslaufmodell“, ja sogar, wie der SPIEGEL-Ideologe Gabor Steingart verkündet, er ist der Anfang vom „Fall Deutschlands“.

Der Sozialstaat wird als zu teuer, als nicht mehr finanzierbar dargestellt und er würde darüber hinaus wegen der dramatischen „demografischen Entwicklung“ die nachwachsenden Generationen überfordern.

Wie schon in seinem Buch „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ – übrigens ein Muss für jeden, der sich über die Grundlagen und über die Politik des Sozialabbaus informieren möchte – stellt Christoph Butterwegge in der taz Fakten gegen die Denunzianten des Sozialstaats.
Hätten Sie angesichts der Medienkampagnen der letzten Wochen etwa gewusst, dass die Bundesrepublik hinsichtlich der Leistungsgewährung unter den alten 15 EU-Ländern im unteren Mittelfeld (auf Platz 8 oder 9) rangiert?
Hätten Sie angesichts der allgemeinen Polemik gegen die „soziale Hängematte“ geglaubt, dass Deutschland im OECD-Vergleich seit zwanzig Jahren so weit zurück gefallen ist, dass es gerade noch das allgemeine Niveau erreicht.
Oder habe Sie in der politischen Debatte gehört, dass der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt – trotz der Zusatzbelastung der deutschen Einheit, trotz Massenarbeitslosigkeit – heute nicht höher ist als Mitte der 1970er Jahre.

Butterwege schreibt: „Unsozial ist allerdings nicht der Sozialstaat, vielmehr eine Gesellschaft, die sich seiner mit der Begründung zu entledigen sucht, er sei nicht mehr finanzierbar, obwohl sie – ausweislich des Bruttoinlandsprodukts, das Rekordhöhe erreicht hat – so reich ist wie nie zuvor.“

Keiner, der sich heute über den Sozialstaat auslässt, vergisst dabei auf die Dramatik der „Vergreisung“ Deutschlands zu verweisen, um die zwingende Notwendigkeit für den Sozialabbau und vor allem für die Privatisierung der sozialen Vorsorge zu begründen. Oft sind es gar noch dieselben „Zeitgeistler“, die noch vor kurzem mit dem gleichen Tremolo „das Boot ist voll“ riefen, die jetzt das „Land ohne Volk“ beschwören.
Viel entscheidender für die finanziellen Engpässe in den sozialen Sicherungssysteme als die „demografische Entwicklung“ ist die Massenarbeitslosigkeit und die Fehlfinanzierung der deutschen Einheit über die Sozialversicherungen.

Dazu Butterwegge: „Rentensicherheit ist aber keine Frage der Biologie (Wie alt ist die Bevölkerung?), vielmehr der Ökonomie (Wie groß ist der erwirtschaftete Reichtum?) und der Politik (Wie wird dieser Reichtum auf Klassen, Schichten und Altersgruppen verteilt?). Es fehlen nicht etwa (deutsche) Babys, sondern Beitragszahler/innen, die – dem “Generationenvertrag” entsprechend – nach dem Umlageverfahren für eine wachsende Rentnerpopulation in die Versicherungskassen einzahlen.“

Quelle: taz

Buchtipp: Christoph Butterwegge hat im Sommer 2005 ein äußerst informatives Buch „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ veröffentlicht, in dem er auf 318 Seiten die Grundlagen, die Organisationsstrukturen und die Geschichte des Sozialstaates darstellt. Wer den ständig wiederholten Behauptungen von den Zwängen der Globalisierung und den demografischen Notwendigkeiten zum „Umbau“ des Sozialstaats eine Vielzahl von Fakten und sachlichen Argumenten entgegen stellen können will, der sollte dieses „Nachschlagewerk“ unbedingt lesen.

Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2005, 318 Seiten.
24,90 Euro. ISBN 3-8100-4138-6

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