Warum ich für Waffenstillstand und den Frieden auf die Straße gehe – Eine sehr persönliche Anmerkung

Warum ich für Waffenstillstand und den Frieden auf die Straße gehe – Eine sehr persönliche Anmerkung

Warum ich für Waffenstillstand und den Frieden auf die Straße gehe – Eine sehr persönliche Anmerkung

Brigitte Pick
Ein Artikel von Brigitte Pick

Jeden Tag sind die meinungsmachenden Medien in diesem Land mittlerweile voll von Propagandameldungen, die nur eine Ausrichtung und Forderung kennen: Die Lieferung von immer mehr und immer schwereren Waffen, denn „der Russe“ muss schließlich auf dem Schlachtfeld besiegt werden. Ich werde immer wieder gefragt, wieso ich am 25. Februar zu der Friedensdemonstration von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer gegangen bin, und warum ich mich auch sonst in der aktuellen Situation gegen Waffenlieferungen und stattdessen für Waffenstillstandsverhandlungen ausspreche. Meine Antwort hat viel mit dem Schicksal meiner Eltern in den beiden Weltkriegen zu tun. Von Brigitte Pick.

Meine Eltern haben den Ersten und Zweiten Weltkrieg erlebt. Im Ersten Weltkrieg war mein 1905 geborener Vater nach dem Tod seines Vaters an der Front, erschossen im Juni 1915, nun als Ältester verantwortlich für seine fünf Geschwister, da meine Großmutter nun die Familie ernähren musste, ehe sie meinen Stiefgroßvater kennen lernte. Sie heirateten einen Tag vor Heiligabend im Jahr 1922. Als Postbeamter konnte er die große Familie ernähren und kümmerte sich rührend. Alle Kinder erlernten einen Beruf.

Wie muss sich mein Vater bei seiner Zwangseinberufung 25 Jahre später gefühlt haben? Er wusste, dass sein Vater kurz nach seiner Einberufung am 15.3.1915 als 30-jähriger, 6-facher Familienvater am 15.6.1915 starb. Mein Vater war damals 10 Jahre alt und musste als Ältester schon Verantwortung in der Familie übernehmen. Einem Brief ist zu entnehmen, dass mein Großvater nicht die allgemeine Kriegseuphorie teilte, sondern berechtigte Angst hatte, zu sterben. Am 15.3.1915 schreibt er aus einer Kaserne in Spandau einen Brief an seine Frau, meine Großmutter:

„Mein liebes Herz,

Ich will Dir hiermit die letzten Gedanken, welche mich vor meinem Ausrücken bedrücken zu Papier bringen, und bitte Dich, auch noch persönlich, diesen Brief erst nach meinem Ausrücken zu lesen.

Ich konnte gestern Abend nicht schlafen und habe mich ruhelos umhergeworfen, weil ich mit meinen Gedanken nur bei Dir war.

Ich sah mich in Gedanken draußen im Felde liegen, ob krank, verwundet oder tot, ich weiß es nicht. Und weiter dachte ich an Dich und die Kinder und heiße Tränen habe ich geweint bei dem Gedanken Dich und die Kinderchen vielleicht nicht wieder zu sehen.

Ich hoffe auf Gott, dass er mich Dir und den Kindern erhält.

Auch habe ich all das Unrecht, was ich glaube, Dir in der langen Zeit unserer Ehe angetan zu haben, tief bereut und bitte Dich herzlichst um Vergebung mein Liebling!

Hoffe auf Gott und bete für mich, ich will es auch für Dich tun, so wird er mich beschützen und mich gesund zurückkehren lassen.

Meine Feldadresse lautet, damit Du sie nicht vergisst: 5. Garderegiment zu Fuß, verstärkte 5. Garde Infanterie Brigade 25, Reserve Korps. 

Es fehlt nur noch die Kompanie, die gebe ich Dir später an.

Nun lebe wohl, und möchte Gott, auf Wiedersehen, Dein treuer Richard“

Nur drei Monate später war er tot. Als Angehöriger der Fußtruppen des 5. Garderegiments war er als 30-jähriger, sechfacher Vater am Feldzug im Osten beteiligt. Nicht zu klären ist, warum er in seinem Alter und Status als sechsfacher Familienvater so früh in den Krieg eingezogen wurde oder ob er sich womöglich freiwillig gemeldet hatte. Er gehörte zur Reserve und war Teil der 11. Armee, die von der Westfront an die Ostfront verlegt wurde, um die Russen aus Ostpreußen zu vertreiben. 

Mein Vater war 1940 bei seiner Einberufung 35 Jahre und Vater eines Kindes, das ihm beim Exerzieren in der Kaserne in der Eiswaldstrasse in Berlin-Lankwitz, wo meine Eltern wohnten, zuschauen konnte. Im Mai 1940 wurde meine Schwester geboren.

Ein Einführungskurs als Funker fand in Dresden statt und dann ging es zu Silvester 1941 zum Einsatz in einem Flakregiment bei Antwerpen an die Westfront. Auch von dort hörte er immer wieder von den Luftangriffen auf Berlin vom Januar, Februar und März ’43. In der Nacht vom 23. auf den 24. August 1943 erwischte es auch die Wohnung unserer Familie in der Eiswaldstraße 9 in Lankwitz. Wir wurden ausgebombt, die Familie mit zwei Kindern stand vor dem Nichts. Der Vater eilte bereits am 26. August aus Chartres nach Berlin. Er bekam bis zum 7. September Heimaturlaub aus gegebenem Anlass, dem dritten nach den Urlauben im Januar (10.-26. Januar 43), bei dem es zu zwei Luftangriffen auf Berlin am 16./17. Januar und 17./18 Januar kam.

An 1943 bis 1945 erinnert sich meine Schwester und bringt 1995 Folgendes zu Papier:

„Als ich fast vier Jahre alt war, gingen wir zurück nach Berlin, wo unsere Wohnung ausgebombt war. Ich erinnere mich, wie wir auf den Trümmern rumkrabbelten und nach Sachen aus der Wohnung suchten.

Wir erhielten bei Bekannten meiner Eltern in Teltow bei Berlin eine Bleibe. Dieses Haus lag direkt an der russischen Einmarschlinie. Der Schützengraben war direkt vor unserer Tür. Die Erinnerung an diese Zeit ist geprägt von Angst: nächtlicher Fliegeralarm, Aufenthalt in dunklen Kellern, bedrohliche Soldaten, die sich unberechenbar verhielten. Außerdem gab es nichts zum Essen. Meine Mutter nahm lange Fußmärsche auf sich, um dick geschälte Kartoffelscheiben aufzutreiben. Als ich 5 Jahre alt war, kam mein Vater aus dem Krieg zurück. Für mich war er der fremde Mann, der er irgendwie blieb.“

Ich finde Unterlagen in einem Ordner zum „ Lastenausgleich“ für Ausgebombte, die auf die Beschädigung des Umzugsgutes meiner Mutter aus Schlesien nach Teltow hinweisen. Ein Tieffliegerangriff auf die Bahn am 24. Oktober 1944 beschädigte und vernichtete einen Teil des aufgegebenen Gepäcks der jungen Familie Pick, die aus Jakobsdorf zurückreist. Akribisch waren die Paketinhalte aufgelistet und der neunjährige Jürgen führte die Listen auf Ansage und malte dazu. Weg waren Skier, ein Fahrrad und ein Kinderbett für die damals dreijährige Christel. Die Erfahrung der Bombenangriffe – man nannte sie offiziell Terrorangriffe – in der Nacht vom 22. zum 23. August 1943 hatte die Familie gelehrt, wie zu verfahren ist.

Die Kriegssachschädenämter verlangten akribische Listen und Preise. „Mein Hab und Gut“ Besitznachweis des Haushaltes, so lauteten die Vordrucke des Amtes, die man in Papier- und Buchhandlungen erwerben konnte. Sie listeten auf: A. Möbel und Einrichtungsgegenstände; B Gemälde, Kunst, Antiquitäten C. Schmuck, Goldwaren D. Tafelgeschirr, Besteck, Kristall, E. Wäsche; F. Kleidungsstücke G. Sonderposten wie Kraftwagen, Sparbücher, Versicherungen etc. Zeugen mussten den Verlust bestätigen.

Der Verlust meiner Familie summierte sich auf 13.000 RM, ein ganz normaler Haushalt in einer Zweizimmerwohnung ohne luxuriöse Gegenstände, Kunst oder Schmuck. Mein Bruder verlor seine Märklin-Eisenbahn, seine Ballonroller sowie ein Tretauto. Das Silberbesteck meiner Eltern glich dem unsrigen heute von der WMF. In der Verlustmeldung ist verbürgt, dass mein Vater eine Geige besaß. Der rechtliche Durchschnittswert für einen Haushalt mit drei Personen wurde auf 7.000 RM festgelegt. Die Presse informierte darüber. Sie erhalten am 31. August 1943 vorläufig 1.000 RM Vorschuss für den Verlust.

Die Luftangriffe fanden nie von den Russen statt, bleibt zurückhaltend anzumerken. Wohnungslos und bei Bekannten an unterschiedlichen Orten in und bei Berlin, kam ich als drittes Kind 1946 auf die Welt, geboren in Zerstörung und Armut. Nach vielen Hilfsarbeiten wie der Aufforstung des Tiergartens bekam mein Vater als gelernter Versicherungskaufmann im Juli 1950 endlich eine feste Anstellung bei der Berliner Bank und die Familie eine Dreizimmer-Wohnung in Berlin-Zehlendorf.

Ein Antikriegs-Gen ist mir in die DNA eingebrannt und deshalb gehe ich mit 76 Jahren immer wieder für den Frieden auf die Straße. Ich erinnere mich an die großen Vietnam-Demonstrationen 1968 in Berlin. Wir waren mit den gemeinsamen Demonstranten weltweit ein Baustein für das Kippen der Stimmung gegen den Krieg und sein Ende wurde erst Ende April 1975 besiegelt. Solange können und dürfen wir nicht warten. Es pressiert.

Ich wünsche mir, dass wir sichtbarer und immer mehr werden. Die verschiedenen Friedensinitiativen müssen sich zusammenschließen.

Titelbild: Gemeinfrei, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=640204

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