Schein und Sein – Die Lage in Syrien nach dem Erdbeben

Schein und Sein – Die Lage in Syrien nach dem Erdbeben

Schein und Sein – Die Lage in Syrien nach dem Erdbeben

Karin Leukefeld
Ein Artikel von Karin Leukefeld

In den frühen Morgenstunden des 7. März hat die israelische Luftwaffe den Flughafen von Aleppo bombardiert. Die Raketen waren nach Angaben des syrischen Militärs westlich der Hafenstadt Latakia über dem Mittelmeer abgefeuert worden. Menschen seien nicht zu Schaden gekommen, hieß es in arabischen Medien. Israel äußerte sich nicht. Deutsche Nachrichten gaben an, Israel wolle verhindern, „dass der Iran eine permanente militärische Präsenz in Syrien aufbaut“. Iran nutze die Flugrouten „für Waffenlieferungen an Verbündete in Syrien und im Libanon“. Belege dafür gibt es nicht. Von Karin Leukefeld.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Aufgrund der Schäden an den Start- und Landebahnen wurde der Betrieb auf dem Flughafen Aleppo eingestellt. Damit stoppt die internationale Hilfe für die Erdbebenopfer in Aleppo und Umgebung. Auf dem Flughafen von Aleppo waren in den letzten Wochen viele Hilfsflüge aus arabischen und asiatischen Ländern gelandet. Täglich landeten Hilfsflüge aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und aus Saudi-Arabien, die viele Jahre mit Geld und Waffen den Sturz der syrischen Regierung befeuert hatten. Die Not nach dem Erdbeben bietet den reichen Golfstaaten die Möglichkeit, ihre Kontakte zu Damaskus wieder zu normalisieren.

Der mit Syrien verbündete Iran gehörte mit Irak und dem Libanon zu den Ersten, die Hilfe nach Syrien schickten. Iran ist erdbebenerfahren und konnte mit Rettungsteams, schwerem Gerät und mit medizinischer Versorgung helfen. Bei Jibreen, am östlichen Rand von Aleppo, werden von den Irakischen Volksmobilisierungseinheiten (Al Hashd as Shaabi, PMF) 500 Fertighäuser gebaut, die 500 obdachlosen Familien bis auf Weiteres ein Dach über dem Kopf geben.

Die Erdbebenkatastrophe

Vier Wochen ist es her, dass die Menschen im türkisch-syrischen Grenzgebiet, entlang der östlichen Mittelmeerküste bis nach Gaza, ein schreckliches Erdbeben erlebten, dem wenig später ein zweites Beben folgte. Die Epizentren lagen im Südosten der Türkei bei Kahramanmaras und bei Gaziantep.

Mehr als 51.000 Menschen verloren ihr Leben, Hunderttausende sind verletzt und obdachlos, die Zahl der Vermissten ist unbekannt. UNICEF gibt an, dass 850.000 Kinder in den Erdbebengebieten diesseits und jenseits der Grenze ihr Zuhause verloren. Die Erde in dem Gebiet kommt nicht zur Ruhe, mehr als 10.000 Nachbeben wurden registriert.

Die Weltbank schätzt den reinen Sachschaden in der Türkei auf mindestens 34,2 Milliarden US-Dollar (rund 32,4 Milliarden Euro). In Syrien geht die Weltbank von einem Schaden von mindestens 5,1 Milliarden US-Dollar (4,8 Milliarden Euro) aus. Die Wiederaufbaukosten könnten doppelt so hoch sein. Etwa die Hälfte des Gesamtschadens seien demnach Schäden an Wohngebäuden, etwa ein Drittel betreffe Nichtwohngebäude. Knapp ein Fünftel sei öffentliche und zivile Infrastruktur wie Straßen, Strom- und Wasserversorgung. Die Aufstellung ist vorläufig.

Geisterdebatte in Deutschland

Die Katastrophe erfordert umfassende Hilfe, die aus allen Teilen der Welt diesseits und jenseits der Grenze eintraf. Doch während Dutzende Länder ihre Hilfe in beide Länder schickten und ihr Mitgefühl und ihre Solidarität bekundeten, begann in Deutschland eine Geisterdebatte über Syrien.

Politiker und Medien spalteten die syrischen Erdbebenopfer in zwei Kategorien. Da waren diejenigen, die „in regime-kontrollierten Gebieten“ lebten, und die anderen, die „in Gebieten unter Kontrolle von Rebellen im Nordwesten“ lebten. Eine ehemalige ARD-Korrespondentin in Damaskus (2001-2008) und Nahost-Expertin kam in zahlreichen Interviews in Funk, Fernsehen und in den Printmedien zu Wort. „Das Assad-Regime bestimmt, wem geholfen wird und wem nicht“, so die Journalistin. Die „Hilfsgüter (werden) in Warenhäusern des Regimes“ gestapelt und später verkauft. Das „Assad-Regime“ versuche, die „Erdbebenhilfe für sich zu nutzen“, und das „Regime“ bekomme „tonnenweise Hilfslieferungen“, die täglich auf den syrischen Flughäfen Damaskus, Aleppo und Latakia landeten. „Der ganz große Teil der Hilfe geht an das Assad-Regime“, sagte sie. Obwohl „die Mehrheit der Erdbebenopfer in Syrien gar nicht in den Regime-Gebieten lebt, sondern in den oppositionell kontrollierten Gebieten – nämlich mehr als 80 Prozent“. Bei diesen Menschen „kommt diese Hilfe nicht an.“

„Assad erpresst die UN“ titelte die FAS (19. Februar 2023) einen Meinungsbeitrag ihres Korrespondenten. Der syrische Präsident missbrauche die humanitäre Hilfe, „um seine Herrschaft zu zementieren“, hieß es in dem Beitrag. „Das Regime zweigt dreist Geld und Güter von der UN-Hilfe ab.“

Und die langjährige Damaskus-Korrespondentin der ARD sagte, sie „bekomme Berichte aus den betroffenen Gebieten (…) unter Regimekontrolle, dass Menschen dort auch gar nicht vom Regime geholfen wird“. Sie habe Berichte darüber, dass „die Hilfsgüter direkt in die Warenhäuser des Regimes gehen und dann verkauft werden“. Die Menschen müssten sich untereinander helfen, und das heiße: „Assad ist eben nicht der Ansprechpartner.“

Die Journalistin, die selbst nicht aus Syrien berichtet, beschuldigt darüber hinaus die UNO, sie habe „die Menschen im Stich gelassen“. Sie habe zu spät gehandelt, die Passage der Hilfsgüter aus der Türkei über drei Grenzübergänge aus der Türkei sei zu langsam und zu bürokratisch. Man wisse „sehr genau“, wie es in Nordsyrien aussehe, weil man die Informationen von „nicht-staatlichen Organisationen“ erhalte. Als Beispiel nennt sie die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, die in Idlib verschiedene Notfallkliniken betreibe. Die Organisation nutze keinen der „drei autorisierten Grenzübergänge, weil es viel zu umständlich ist. Es dauert ewig, von den UN dort grünes Licht zu bekommen.“ Daher führen die „Ärzte ohne Grenzen“ mit einem Konvoi über einen anderen, südlicheren Grenzübergang, so die Journalistin: „Dort kann man einfach rüberfahren, das ist eben nicht von den UN kontrolliert.“ Und so machten es „auch andere Organisationen“, die in der Region mit Partnern arbeiteten.

Warum die UNO Hilfslieferungen aus der Türkei nach Idlib kontrolliert

Zur journalistischen Arbeit gehört, die Lage zu erklären. Und um die politische Lage entlang der türkisch-syrischen Grenze und an den Grenzübergängen zu verstehen, sei hier auf die UN-Sicherheitsratsresolution 2254 verwiesen, die als Grundlage für eine politische Lösung in Syrien gilt. Diese Resolution betont die „Souveränität und territoriale Integrität“ Syriens. Besatzung, Land- und Ressourcenraub im Norden, Nordwesten und Nordosten Syriens verletzten sowohl die Souveränität als auch die territoriale Integrität Syriens. Die Grenzübergänge (in die Türkei) werden auf syrischer Seite nicht von der syrischen Regierung, sondern von bewaffneten Gruppen kontrolliert. Darunter ist auch der Al-Qaida-Ableger Hay’at Tahrir al Scham (vorher Nusra Front), der Idlib kontrolliert und international als Terrororganisation gelistet ist.

Um während des Krieges Hilfsgüter (u.a.) aus der Türkei über die Grenze nach Idlib zu transportieren, wurde mit einer Sonderresolution des UN-Sicherheitsrates über „grenzüberschreitende Hilfe“ die Souveränität Syriens außer Kraft gesetzt. Syrien lehnt die Maßnahme ab und erreichte zumindest, dass diese Transporte von der UN kontrolliert werden müssen. Zuletzt war die UNSR-Resolution für grenzüberschreitende Hilfe am 9. Januar 2023 für sechs Monate verlängert worden.

Der Grund für die genauen UN-Kontrollen der Lastwagen ist, dass Waffenlieferungen unterbunden werden sollen. Dass Waffen auch mit Hilfsgütern geschmuggelt werden, weiß man nicht erst, seit italienische Flughafenarbeiter im März 2022 am Galilei-Flughafen Pisa (Italien) Waffenlieferungen in die Ukraine stoppten.

Im Februar 2012 berichtete ein französischer Arzt, der für „Ärzte ohne Grenzen“ illegal nach Homs gereist war, „um zu helfen“, dass er in einem Fahrzeug von Kämpfern aus dem Libanon nach Syrien geschmuggelt worden sei. Sein Arztbesteck habe dabei neben einer Kiste mit Raketenwerfern gestanden.

Erdbebenhilfe für Syrien

Gibt man das Stichwort „Erdbebenhilfe für Syrien“ bei Google ein, reihen sich Spendenaufrufe von Hilfsorganisationen aneinander. Eine deutsche Mitarbeiterin des Kurdischen Roten Halbmonds, der von einer deutschen Hilfsorganisation unterstützt wird, begleitete einen Konvoi aus der nordsyrischen Stadt Qamishli in die Provinz von Aleppo nach Shehba/Tell Rifaat. Dort leben seit Jahren kurdische Familien aus Afrin, die im Januar 2018 von der Türkei vertrieben worden waren.

Tagelang sei der Konvoi an einem Kontrollpunkt der syrischen Armee aufgehalten worden, heißt es in dem Bericht. Die Soldaten hätten die Herausgabe von Hilfsgütern gefordert. Erst die Intervention von höchster UN-Stelle in Genf habe schließlich die Weiterfahrt ermöglicht.

Wer mit den örtlichen Gegebenheiten der Region nicht vertraut ist, kann den Bericht nur so verstehen, dass die syrische Armee sich an der humanitären Hilfe bereichern und verhindern wollte, dass die Hilfe bei den Erdbebenopfern ankomme. Tatsächlich aber gibt es in dem Gebiet, das der Konvoi vermutlich durchfahren hat, viele Frontlinien und Checkpoints. Um sich dort zu bewegen, benötigt man Genehmigungen und Absprachen zahlreicher bewaffneter Akteure: von den kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), von der US-Armee, von der russischen Militärpolizei, von der syrischen Armee, von der Türkei, von der von der Türkei finanzierten Nationalen Syrischen Armee, von der Nusra Front, heute Hay’at Tahrir al Scham, um nur einige zu nennen. Hinter allen stehen verschiedene Geheimdienste, und alle versuchen, mehr oder weniger Gebühren von jedem Hilfskonvoi zu kassieren.

Wenig wurde darüber berichtet, was der Chef des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley, am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz erklärte. Auf Regierungsebene hätten Syrien und die Türkei gut kooperiert, um Hilfslieferungen in alle betroffenen Gebiete in Syrien zu ermöglichen. Probleme gebe es allerdings mit den „Autoritäten im Nordwesten“ Syriens. Sie blockierten die Durchfahrt von Hilfstransporten, die aus Syrien kämen, sagte Beasley. Er wisse nicht, warum sie blockierten, das führe zu Engpässen bei der Verteilung der Hilfsgüter. „Warum spielen sie jetzt solche Spiele? Ich fordere sie auf, das zu unterlassen, und werde dazu nicht schweigen.“

Was in Syrien wirklich geschieht

Am 10. Februar entschied die syrische Regierung, dass die Verteilung der humanitären Hilfsgüter vom Obersten Komitee für Hilfe übernommen und kontrolliert wird. Dem Komitee gehören der Syrische Arabische Rote Halbmond (SARC), die UN-Organisationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) an. Von Regierungsseite sind das Gesundheitsministerium und das Ministerium für die lokale Verwaltung und Umwelt zuständig.

Am 13. Februar stimmte Assad in Damaskus bei einem Gespräch mit dem Leiter des UN-Nothilfeprogramms (OCHA), Martin Griffiths, zu, dass zwei weitere Grenzübergänge aus der Türkei – Bab al Salam und Al Ra’ee – für den Transport von Hilfsgütern aus der Türkei genutzt werden können, um Hilfe in die Gebiete zu bringen, die nicht von der syrischen Regierung kontrolliert werden. Diese Zusage wurde vom syrischen Parlament bestätigt und ist auf drei Monate befristet.

Ebenfalls am 13. Februar (NY-Ortszeit) hieß es in einem Vorbericht zu einem UN-Sicherheitsratstreffen, dass die syrische Regierung am 10. Februar ein Dekret erlassen habe, wonach ein nationaler Fonds für den Wiederaufbau der vom Erdbeben betroffenen Gebiete in Aleppo, Latakia, Hama und Idlib eingerichtet worden sei. Das Dekret beinhaltet auch, dass humanitäre Hilfe über innersyrische Frontlinien (in Gebiete unter Kontrolle von bewaffneten Regierungsgegnern) gebracht werden sollen. Dies soll in Koordination mit dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), dem Syrischen Arabischen Roten Halbmond (SARC) und den UN-Hilfsorganisationen geschehen.

In einem ersten Bericht des Obersten Komitees für Hilfe heißt es, dass 91.794 Familien, insgesamt 414.304 Personen, registriert worden seien. 1.553 Personen seien lebend aus den Trümmern geborgen worden, sechs Personen würden noch vermisst. 4.444 Gebäude seien nicht stabil genug, um Menschen zu beherbergen. 29.751 Gebäude müssten restauriert werden. Weitere 30.113 Gebäude seien vom Erdbeben betroffen, aber stabil genug, um Menschen aufzunehmen. 292 Häuser seien abgerissen worden. Die Untersuchung der Häuser sei abgeschlossen, neue Unterkünfte würden gebaut. Die Hilfsgüter werden an die betroffenen Familien auf der Grundlage einer neu geschaffenen Datenbank verteilt.

Nachrichten aus Syrien

In verschiedenen Telefonaten soll die Darstellung in deutschen Medien mit der Realität in Syrien überprüft werden. Ein Gesprächspartner ist Elia S., der Mitglied der oppositionellen Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei (SSNP) ist. Die in den 1930er-Jahren von Antoun Saadeh gegründete Partei gibt es heute im Libanon und in Syrien und ist in vier Flügel gespalten. Die SSNP, der Elia S. in Syrien angehört, hat einen Fonds für Studierende aufgelegt, deren Familien vom Erdbeben betroffen sind. Die Parteimitglieder spenden, um die Studierenden finanziell zu unterstützen.

Auf die Frage, ob es zutreffe, dass „Assad Hilfsgüter in Lagern“ verstaue, um sie dann zu verkaufen, antwortet Elia S. mit einer Gegenfrage: „Was ist mit „Assads Lagern“ gemeint? Wenn damit die Lager des Gesundheitsministeriums, des Ministeriums für Lokale Administration und des SARC (Syrischer Arabischer Roter Halbmond) gemeint sind, lautet die Antwort: Ja, das ist richtig. Hilfsgüter werden in Lagerhäusern zwischengelagert und von dort weiter verteilt. Weil es anfangs keine zentrale Kontrolle bei der Verteilung der Hilfsgüter gab, gab es beispielsweise an manchen Orten sehr viel Reis, aber kein Milchpulver. An anderen Orten war es umgekehrt. Jetzt gibt es ein Komitee, dem Vertreter der Ministerien (Gesundheit, Lokale Administration), SARC, die UNO und das IKRK angehören. Die Unterbringung in den Lagerhäusern ist vorübergehend, die Hilfsgüter werden täglich verteilt.“

Einige Personen, die der (bewaffneten) Opposition nahestünden, beschuldigten Assad, sich zu bereichern. Das treffe nicht zu, die Verteilung der Hilfsgüter sei inzwischen gut organisiert. Ja, es sei richtig, dass die Gebiete, die nicht unter Regierungskontrolle seien, anfangs zögerlich versorgt worden seien und insgesamt weniger Hilfe erhalten hätten. Die Zufahrtsstraßen (aus der Türkei, kl) seien durch das Erdbeben beschädigt worden, zudem habe es unter den bewaffneten Gruppen Streit über die Humanitäre Hilfe gegeben. Wenn die Hilfslieferungen einmal die innersyrischen Frontlinien passiert hätten, habe die syrische Regierung keine Kontrolle mehr darüber. Man habe Kontakt zu Menschen in den Gebieten, die bestätigt hätten, dass es keine Kontrolle bei der Verteilung der Hilfe gebe.

Auf die Frage, ob Hilfsgüter gestohlen würden, antwortet Elia S.: „Ja, es gibt Menschen, die sich bereichert haben. Weil es anfangs keine Kontrolle gab, gingen die Menschen von einer Verteilstelle zur nächsten und nahmen mit, was sie bekommen konnten. Was sie nicht für sich nutzten, haben sie verkauft. Inzwischen ist die Kontrolle gut, die Menschen müssen sich für die Hilfe registrieren und können nicht an beliebig vielen Verteilstellen etwas bekommen.“

Allerdings dürfe man auch nicht vergessen, wie schlecht die Lebensverhältnisse der Menschen in Syrien seien. Täglich würden Produkte teurer, die monatlichen Einkommen selbst von staatlichen Angestellten oder den Soldaten der Armee betrügen nicht mehr als 25, 30 US-Dollar. „Ja, es wird gestohlen, für sich und ihre Angehörigen.“

Auf die Frage, ob es zutreffe, dass „Assad die UN erpresst“, antwortet Elia S., das sei komplett unkorrekt und eine „politisch gefärbte“ Behauptung. „Jede Regierung muss kontrollieren, was ins Land gebracht wird. Und jede Regierung hat dazu auch das Recht.“ Im Übrigen sei es schon während des Krieges so gewesen, dass „jede Seite die andere Seite beschuldigt“, Hilfsgüter zu stehlen. Er habe die Möglichkeit, mit Menschen in Idlib und Afrin zu sprechen, und die berichteten, dass es unter den bewaffneten Gruppen viel Konkurrenz gebe. Jeder wolle die Kontrolle über die Hilfsgüter haben, um Einfluss auszubauen.

Auf die Frage, ob es zutreffe, dass die überwiegende Mehrheit der Erdbebenopfer – „mehr als 80 Prozent“ – in Idlib lebten, antwortet Elia S. erneut mit einer Nachfrage: „Man muss fragen, wie „betroffen sein“ definiert wird. Je nachdem unterscheiden sich die Zahlen. Dass 80 Prozent in Idlib leben sollen, ist eine politische Aussage und soll erreichen, dass die Menschen dort mehr Aufmerksamkeit und mehr Hilfe bekommen sollen. Die Realität ist so, dass fast alle Syrer betroffen sind – wenn nicht direkt, dann indirekt.“

Ein anderer Gesprächspartner, George B., der mit kirchlichen Vertretern arbeitet, die Hilfe in alle vom Erdbeben betroffenen Landesteile schicken, berichtet, was der Leiter einer Notunterkunft in Aleppo ihm vorgerechnet habe: „Nehmen wir an, in einer Schule sind 1.000 Erdbebenopfer untergebracht. Sie brauchen drei Mal am Tag etwas zu essen. Dazu kommen Kleidung und Hygieneartikel. Sie brauchen Matratzen und Decken. Sie brauchen Öfen zum Heizen und etwas zum Kochen. Normalerweise wird bei uns mit Gas gekocht, doch das gibt es nicht. Öl und Gas sind knapp und teuer. Alles wird nicht nur an einem Tag, sondern Monat um Monat gebraucht.“ Was immer an Hilfsgütern geschickt werde, so das Fazit von George B., „es ist nicht genug“.

Nachtrag: Kurz vor Abgabe des Textes erreicht die Autorin eine Nachricht aus Aleppo. Der Absender ist Dr. Emile, der ein Krankenhaus leitet und in den letzten Tagen immer wieder Fotos der Menschen geschickt hat, die nach dem Erdbeben ohne Unterkunft sind. „Hallo, liebe Freunde! Ich hoffe, dass es Euch gut geht. Abgesehen von den täglichen Erschütterungen, die uns an das große Erdbeben vom 6. Februar erinnern, bombardierte die israelische Luftwaffe gestern Nacht um 2 Uhr den Flughafen von Aleppo, auf dem humanitäre Hilfe ankam. Sie bringen Lärm und Zerstörung in dieser katastrophalen Lage, in der die Menschen sich befinden. Das alles hätten wir nicht gebraucht.“

Titelbild und Bilder: © Lama Khaly, Aleppo

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