Eine fast vergessene Episode: Die bulgarisch-mexikanische Annäherung in den Zeiten des Kalten Krieges

Eine fast vergessene Episode: Die bulgarisch-mexikanische Annäherung in den Zeiten des Kalten Krieges

Eine fast vergessene Episode: Die bulgarisch-mexikanische Annäherung in den Zeiten des Kalten Krieges

Ein Artikel von amerika21

In den 1970er und frühen 1980er Jahren gab es eine erstaunliche Annäherung zwischen Mexiko und Bulgarien, die in ihrer Art wahrscheinlich einzigartig war. Das mittelamerikanische und das südosteuropäische Land bauten dabei ihre kulturellen, politischen und – in einem begrenzten Rahmen – auch ihre ökonomischen Beziehungen immer weiter aus. Dieses politische Rapprochement ereignete sich in einem komplizierten Geflecht der weltweiten Systemkonfrontation auf der Nordhalbkugel, dem Freischwimmen der Nichtpaktgebundenen vom Einfluss der Groß- und Kolonialmächte und Umbrüchen in der internationalen politischen Ökonomie. Von David X. Noack.

Diplomatische Beziehungen nahm Mexiko mit Bulgarien das erste Mal bereits im Jahr 1938 auf. Im Verlauf der 1930er Jahre hatte das südosteuropäische Land Beziehungen mit einer Reihe von lateinamerikanischen Staaten etabliert: 1931 mit Argentinien, 1934 mit Brasilien und 1935 mit Chile.

1936 besuchte der bulgarische Schriftsteller Swetoslaw Minkow Argentinien anlässlich eines Kongresses des Schriftstellerverbandes P.E.N. und schrieb danach das Buch “Das andere Amerika”, welches das damals entstehende frühe bulgarische Lateinamerikabild entscheidend prägte.

Im Jahr 1938 regierte in Mexiko der Reformer Lázaro Cárdenas del Río und in Bulgarien der autoritäre und erzkonservative Zar Boris III., der wenige Jahre später sein Land in ein Bündnis mit Nazideutschland führte. Wenige Tage nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg brach die mexikanische Regierung am 20. Dezember 1941 die diplomatischen Beziehungen mit den Achsenmächten, zu denen dann auch schon Bulgarien gehörte, ab. Nachdem im Mai 1942 zwei mexikanische Öl-Tanker im Golf von Mexiko von deutschen U-Booten versenkt wurden, erklärte die Regierung in Mexiko-Stadt dem faschistischen Staaten der Achsenmächte auch den Krieg. Als – neben Brasilien – einer von zwei lateinamerikanischen Staaten entsandte die Regierung in Mexiko-Stadt Truppen an die Fronten des Zweiten Weltkriegs: Mexikanische Bomber waren in den folgenden Kriegsjahren mit US-Truppen im Pazifik im Einsatz und an der Befreiung der Philippinen von den japanischen Faschisten beteiligt. Bulgarische und mexikanische Truppen dürften sich auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs nicht begegnet sein.

Den Vereinten Nationen trat die Volksrepublik Bulgarien im Jahr 1955 bei. Mexiko war dabei kein Hindernis für die UN-Aufnahme des Balkanlandes. Die UN-Delegation des lateinamerikanischen Landes hatte ein Jahrzehnt lang den Widerstand zur Aufnahme des faschistischen Spaniens, das im Verlauf des Zweiten Weltkriegs engste Beziehungen mit den Achsenmächten pflegte, in die Vereinten Nationen angeführt. Im Falle Sofias gab es solch eine ablehnende Haltung nicht – das nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges realsozialistische Land hatte nur wenig mit dem Regime aus der Zeit vor 1945 gemein. Im Jahr 1955 traten eine Reihe vormals faschistischer Staaten wie Italien (damals dann schon Nato-Mitglied), Rumänien (damals Mitglied der Warschauer Vertragsorganisation, WVO) und Albanien (zu dieser Zeit ebenso WVO-Mitglied) bei.

Trotz der gemeinsamen UNO-Mitgliedschaft von Bulgarien und Mexiko ab 1955 blieben die bilateralen Beziehungen beider Länder auf einem niedrigen Niveau. Vertreter beider Seiten trafen sich im Rahmen der Vereinten Nationen, aber es gab keine gemeinsamen politischen Initiativen oder Ähnliches. Sofia streckte zu dieser Zeit zunächst seine Fühler zu anderen lateinamerikanischen Staaten aus. Nach dem Sieg der Kubanischen Revolution 1959 nahmen Bulgarien und Kuba im Jahr 1960 erstmals diplomatische Beziehungen auf. Die größte der Antilleninseln entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einem aktiven Mitglied des realsozialistischen Staatenblocks. Im Jahr 1972 trat Kuba sogar dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfen (RGW), dem Wirtschaftsbündnis der mit der Sowjetunion verbündeten sozialistischen Staaten, bei.

Der einzige lateinamerikanische Staat neben Kuba, mit dem Bulgarien etwas engere Beziehungen pflegte, war Argentinien. Dieses Land beherbergte damals die größte bulgarische Diaspora-Community Mittel- und Südamerikas. Zwischen Mexiko und der Bulgarischen Volksrepublik hingegen existierten weiterhin zunächst keine aktiven diplomatischen Beziehungen. Das änderte sich erst im Jahr 1974. Kurz nach der Wiederaufnahme der offiziellen Beziehungen eröffneten beide Länder auch Botschaften in dem jeweils anderen Land.

Die vorher kaum existenten Beziehungen beider Länder erlebten damit binnen kürzester Zeit eine massive Aufwertung – kleine Länder wie Bulgarien unterhalten nicht in vielen Staaten Botschaften.

Zu dieser Zeit näherte sich das bevölkerungsreichste mittelamerikanische Land politisch und ökonomisch verstärkt dem realsozialistischen Block an. Unter dem die mexikanische Außenpolitik auf lange Zeit prägenden Präsidenten Luis Echeverría (im Amt von 1970 bis 1976) versuchte die Regierung in Mexiko-Stadt das Land als eine führende Macht des Globalen Südens zu positionieren. Das schloss auch eine bis dahin beispiellose Annäherung an die realsozialistischen Staaten mit ein. 1975 erhielt Mexiko einen Beobachterstatus im RGW. Damit konnten Regierungsvertreter an den Ratssitzungen des sozialistischen Staatenblocks teilnehmen. Im Zuge dieser Annäherung (re-)etablierte die Regierung Mexikos diplomatische Beziehungen mit einer Reihe von Ländern in Osteuropa und Zentralasien, wie 1973 mit Rumänien und 1974 mit Albanien und Ungarn sowie 1975 mit der Mongolei.

Auch Bulgarien hatte seine Gründe, sich Mexiko anzunähern: Auf mexikanische und venezolanische Initiative hin etablierten die Regierungen einer Reihe von lateinamerikanischen Ländern im Jahr 1975 das Lateinamerikanische Wirtschaftssystem (Sistema Económico Latinoamericano y del Caribe, Sela), welches das Ziel hatte, die Länder der Region verstärkt wirtschaftlich zu verbinden. Von Anfang an gehörte auch das realsozialistische Kuba Sela an. Bereits früh kam der größte Finanzierungsanteil aus Venezuela, welches 17 Prozent des Sela-Budgets stellte. Die regionale Integration, die auch Kuba mit einschloss, lag im Interesse der Regierung in Sofia. Verbesserte Beziehungen zu Mexiko und Venezuela gehörten fortan zu den regionalen Schwerpunkten der bulgarischen Lateinamerikapolitik.

Um die bilateralen Beziehungen beider Länder aufzuwerten, konzentrierte sich die bulgarische Regierung vor allem auf die Kulturpolitik. Eine besondere Rolle spielte dabei Ljudmila Schiwkowa, die von 1975 bis 1981 dem bulgarischen staatlichen Komitee für Kunst und Kultur (Kulturministerium) vorstand. Die Tochter des langjährigen Staatsoberhauptes und Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Todor Schiwkow reiste erstmals im November 1976 nach Mexiko. Im Jahr darauf eröffnete die Ausstellung “Thrakische Schätze aus Bulgarien” in Mexiko-Stadt – unmittelbar nachdem diese im prestigeträchtigen British Museum gezeigt und noch bevor sie in den USA ausgestellt wurde. Mit ihrer Kulturpolitik wollte die bulgarische Regierung zeigen, welchen Stellenwert die Regierung in Sofia den bulgarisch-mexikanischen Beziehungen zumaß.

Im Jahr 1978 besuchte der mexikanische Präsident José López Portillo (im Amt 1976–1982) die Bulgarische Volksrepublik und auf seine Anweisung hin halfen bulgarische Spezialisten daraufhin beim Aufbau eines agroindustriellen Komplexes und Nahrungsmittelfabriken im mexikanischen Bundesstaat Guerrero. In den von den Bulgaren miterrichteten Fabriken fanden 2.100 vormalige Bauern neue Arbeit. Verhandlungen beider Staaten über die Eröffnung einer Raffinerie und von petrochemischen Fabriken hingegen zogen sich lange hin und versandeten. Die Zusammenarbeit im agroindustriellen Bereich in Guerrero blieb das Herzstück der Wirtschaftskooperation beider Länder.

Den Höhepunkt der politischen und kulturellen Beziehungen markierte das Jahr 1981, in dem die Feierlichkeiten anlässlich des 1.300 Jubiläums bulgarischer Staatlichkeit stattfanden. Bereits drei Jahre zuvor hatte die mexikanische Seite ein Organisationskomitee dafür etabliert, welchem die Primera Dama Carmen Romano vorstand. Es war das erste Komitee für diese bulgarischen Feierlichkeiten jenseits Bulgariens. In der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, der ältesten Universität des amerikanischen Doppelkontinents, gab es dann 1981 eine “Woche der bulgarischen Kultur” mit Filmvorführungen, Lesungen bulgarischer Texte und Theatervorstellungen. Fotoausstellungen tourten außerdem durch Cuautla und Ciudad Sahagún. Im Nationalmuseum für Anthropologie eröffnete die Ausstellung “Bulgarische Mittelalterliche Zivilisation”, wofür Schiwkowa extra anreiste. Außerdem nahm die bulgarische Kulturministerin an Feierlichkeiten anlässlich des 1.300 Jubiläums Bulgariens in Puebla, der heute viertgrößten Stadt Mexikos, teil. Dort benannten die kommunalen Behörden die zentrale Grünanlage in Sofia-Park um.

Kurz nach ihrer Rückkehr aus Mexiko starb Schiwkowa plötzlich und unerwartet im Sommer 1981 in Sofia. In Bulgarien weit verbreitet war lange Zeit der Verdacht, dass sie nicht aufgrund natürlicher Ursachen zu Tode kam. Im September 1981 wurde die Schule 229 in Mexiko-Stadt zu Ehren Schiwkowas umbenannt und trug fortan ihren Namen (auf Spanisch Ludmila Yivkova).

Das Jahr 1981 markierte den Höhepunkt und den Beginn des Endes der bulgarisch-mexikanischen Annäherung. Das globale Ansehen der südosteuropäischen Volksrepublik litt enorm, nachdem bereits früh eine Verwicklung des bulgarischen Geheimdienstes in den Attentatsversuch Mehmet Ali Ağcas auf Papst Johannes Paul II. im Mai 1981 vermutet wurde. Hinzu kamen auf bulgarischer Seite wirtschaftliche Probleme: Der damals durchgeführte achte Fünfjahresplan führte nicht zu den anvisierten Ergebnissen. Anfang der 1980er Jahre entging das Land außerdem nur knapp einem Staatsbankrott. Mit den zunehmenden wirtschaftlichen Problemen verpuffte auch die bulgarisch-mexikanische Annäherung.

Mit dem Ende des Realsozialismus schrumpften die bulgarisch-mexikanischen Beziehungen wieder auf ein Minimum. Die mexikanische Seite schloss bereits im Jahr 1989 ihre Botschaft – die Interessen des lateinamerikanischen Landes werden seit 1994 über die mexikanische Botschaft in der ungarischen Hauptstadt Budapest vertreten. Darüber hinaus gibt es seit 2003 einen mexikanischen Honorarkonsul in der bulgarischen Hauptstadt. Bulgarien, das seit 2004 zur Nato und seit 2007 zur Europäischen Union gehört, unterhält hingegen weiterhin eine diplomatische Vertretung in Mexiko-Stadt. Im mexikanischen Unterhaus gibt es seit 2010 eine bulgarisch-mexikanische Freundschaftsgruppe.

Die Intensivierung der bulgarischen-mexikanischen Beziehungen von Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre war für die Regierung in Sofia ein prestigeträchtiges Unterfangen – bulgarische Kultur wurde prominent in einem so großen Land wie Mexiko ausgestellt und die Frau des Präsidenten leitete das Organisationskomitee anlässlich von 1.300 Jubiläums bulgarischer Staatlichkeit.

Wirtschaftlich bot die Kooperation für beide Länder die Möglichkeit, den ökonomischen Austausch jenseits der Großmächte zu intensivieren – ein Feld, das nicht voll ausgeschöpft wurde.

Bis heute gibt es einige wenige Spuren der vormaligen bulgarisch-mexikanischen Annäherung in Mexiko. Die Schule 229 im Süden der Hauptstadt trägt bis heute den Namen Ljudmila Schiwkowas. Im Stadtzentrum Pueblos gibt es ein Hotel, das den Namen der bulgarischen Hauptstadt trägt: Sofia.

Titelbild: QUELLE: VAGABONTBG, LIZENZ:CC BY-SA 4.0

Erläuterung:

Staatsbesuch in Plovdiv im Mai 1975: Mexikos Präsident José López Portillo (weißes Hemd) und Bulgariens Ministerpräsident Todor Schiwkow (rechts von ihm)

Dieser Artikel erschien zuerst auf amerika21.