„trop c’est trop“ – genug ist genug

„trop c’est trop“ – genug ist genug

„trop c’est trop“ – genug ist genug

Ein Artikel von Frank Blenz

Frankreich brennt. Die Menschen hassen ihren Präsidenten. Er tut ihnen nicht gut. Sie gehen auf die Straßen, sie protestieren, sie sind wütend. Sie wollen ein besseres Leben. Der Präsident will das nicht, zumindest nicht für sie. Er hat andere Auftraggeber. Seine Polizei dreht durch. Die Regierenden verlieren Anstand und Würde. Ein Gesetz (wie viele vorher) wird durch das Parlament gemogelt, ja gepeitscht. Es ist eines, welches dem Land, welches den vielen Bürgern schadet. Das Gesetz, die Umsetzung, die Anordnung, all das trägt der Präsident aus wie eine ätzende Verachtungsorgie gegen die eigenen Leute. Frankreich ist kein demokratisches Land mehr, es ist keine stolze Grande Nation. Die Wut der Menschen ist groß, dass wenige Mächtige sich anmaßen, über ein Volk zu bestimmen und es zu vertrösten und zu verhöhnen wie einst, als den Armen geraten wurde, bei Brotmangel doch Kuchen zu essen. Doch arm sind nicht die Armen, arm und ärmlich sind die Reichen. Ein Kommentar von Frank Blenz.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ein Foto schockiert. Der schwarzgekleidete Polizist in voller, martialischer Montur, Helm, Handschuhe, Schutzausrüstung, Nahkampfmittel am Gürtel, Stiefel, holt mit aller Kraft aus und drischt seinen harten, langen Schlagstock gegen die Unterarme seines ihm gegenüber verharrenden Mitmenschen, es ist ein junger Demonstrant. Der kauert sich gerade noch hin, das Gesicht schützen wollend.

Was wohl dann passiert? Es nützte ihm wohl nichts, die Wucht der Wut des Polizisten trifft den jungen Franzosen. Den Schmerz spürt der sofort. Allein Adrenalin, die enorme Stresssituation lassen ihn noch reagieren und dann hoffentlich vor seinem Angreifer in eine Seitenstraße flüchten.

Der Schläger und seine Schlägerkollegen, Polizisten – sie toben weiter, ihr Auftrag: Einschüchterung, Gewalt gegen Demonstranten, Zurückdrängen legitimen Protestes. Abends dann werden TV-Sender berichten, wie gewalttätig die Demonstranten waren.

Der Präsident und die Seinen sind wütend, sie toben ob des Widerstandes im Land. Millionen gehen auf die Straße. Sie protestieren, sie blockieren, sie streiken, ihr Stillstand dient als legitimes demokratisches Mittel gegen den Stillstand, den der Präsident als Fortschritt verkauft, es geht längst nicht nur um die Rente. Für wen ist das ein Fortschritt? Es ist einer für die Reichen, deren Präsident er ist. Einen Kosenamen muss man sich verdienen, den Namen „Präsident der Reichen“ hat sich der schöne Mann aus dem Elysee schon lange verdient.

Die Demonstrationen enden nicht. Die Staatsgewalt läuft darum zu Hochform auf. Wieder und wieder stürmen die Uniformierten im Auftrag des Präsidenten, meist in schwarz gekleidet und vermummt und behelmt, in die Menschenmengen. Im ganzen Land. Filme sind im weltweiten Internet zu sehen, wie professionell draufgeschlagen wird. Geschosse zischen durch die Szenerie. Pfefferspraystrahlen zischen in die Gesichter des Volkes. Die Unifomierten sind außer Rand und Band. Selbst in Kreisen der Polizei macht die Sorge die Runde, es könnte bald Tote geben. Die Lage eskaliert.

Das Gesetz über die Verlängerung der Lebensarbeitszeit ist durchgepeitscht, das alles durch ein Parlament, das gar nicht gefragt wurde, von einem Präsidenten, dessen Amtszeit die letzte ist, der gerade handelt, als käme erst nach ihm die Sintflut. Die Flut – sie ist schon da.

Frankreich, mein Frankreich. Paris, die Stadt der Liebe, der Kunst, der Lebensart. Frankreich, das Land, das uns Deutschen nahe ist, denken wir an die schönen Dinge des Lebens. Das Land ist im Würgegriff der Ungerechtigkeit. Von wegen Liberté, Égalité, Fraternité. Mehr und mehr Pein gedeiht gegen die Menschen, die einfachen, gegen die, die das tägliche Leben am Laufen halten. Alles was kostet, das kostet mehr, alles was verdient wäre, das wird limitiert und von den wenigen, die mehr als genug haben, geizig verwaltet und selbst eingesackt. Es sind die, die an den üppigen Tischen sitzen, die sich freuen und die heftig Schlagstockschläge austeilen – lassen. Mittelalter.

Ich lese Worte eines Freundes aus Frankreich, der die Lage ebenso bedrohlich empfindet, der ebenso wie ich wütend ist. Die Worte lesen sich wie ein Lagebericht, welchen es aus Polizeipräfekturen so nicht geben würde:

Die wachsende Agressivität der jungen, sich politisierenden Akteure, die seit dem 16. März (es ist der Tag, an dem die Rentenreform per Dekret in Kraft gesetzt wurde) täglich auf die Straße gehen, liegt allerdings eher an der erneut aufflammenden Polizeigewalt gegen die gesamte Protestbewegung gegen Macrons Rentenreform. Weit über 1.000 Verhaftungen, die durch illegale Polizeikessel zustande kamen und denen erniedrigende Formen der Verhaftungen folgten, sind zu registrieren. Obwohl sowohl Spontandemonstrationen und die Beteiligung an solchen in Frankreich inzwischen legal sind (dazu gab es im Juni des vergangenen Jahres noch einmal ein Grundsatzurteil von höchster Stelle), maßt sich Innenminister Darmanin, der “ultralinke Kräfte” hinter den Protesten sieht, an, die geltenden Gesetze offen zu ignorieren.

Auch der Pariser Polizeipräfekt fabulierte von “juristischen Kesseln”, die nötig wären, um ordnungsgemäße Verhaftungen durchzuführen. Deren größenteils nicht existierende Rechtsgrundlage zeigt sich dann immer wieder darin, dass weit über 90 Prozent der Verhafteten ohne jede Form der strafrechtlichen Verfolgung wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Allerdings erst, nachdem man die Menschen 20 bis 48 Stunden in Untersuchungshaft behalten hat.

In den wenigen Fällen, die dann meistens doch noch in Schnellgerichtsverfahren abgearbeitet werden, erfolgen schließlich Verurteilungen aufgrund minimalster Indizien. Die Richter*innen handeln hier strikt nach dem Wunsch des Justizministers Dupont-Moretti, der die Gerichte angewiesen hat, “hart zu urteilen”. Wie schon während der Gelbwestenproteste agieren die Gerichte der untersten Ebene als verlängerter Arm der Politik. Absurde und menschenrechtswidrige Strafen, wie Demonstrationsverbote oder aber ein Betretungsverbot für die Stadt Paris können die Folge sein. All dies zeigt, dass Frankreich eben kein freier demokratischer Rechtsstaat ist, sondern dick umpanzert von einer autoritären Bürokratie, die jede Form von potentiell gesellschaftsverändernder Praxis im Keim ersticken will.

Millionen protestieren, ihr Präsident reagiert. Verbissen, brandstiftend. Billigend in Kauf nehmend, Schaden anzurichten. Eine Waffe kommt wieder zum Einsatz, international geächtet. Die Waffe heißt LBD. Was hat es damit auf sich? Mit der wird von Polizisten auf Menschen gezielt, auf Augen, auf Hände. Ab 2018 kam es zu vielen Verletzungen während der Polizeieinsätze gegen die soziale Protestbewegung der Gilets Jaunes. Mit solchen Treffern werden die „Gegner“ außer Gefecht gesetzt, eingeschüchtert, Macht demonstriert. Verletzungen sind ausdrücklich Ziel dieser Schüsse.

Die Demonstrationen ebben nicht ab. Der Präsident zeigt Härte. Er will die Gendarmerie aufrüsten, 200 weitere Brigaden zur Durchsetzung seiner Politik sollen in den Kampf gegen die eigene Bevölkerung geschickt werden. Nebenbei: Diese Polizeikräfte werden in Frankreich der Armee zugerechnet. Armee im Inneren? Viele fragen sich, ob der Präsident gar einen Bürgerkrieg in Kauf nimmt.

Gewalt dient als Mittel der Politik. Der Präsident koppelt Formen von Gewalt gegen die eigene Nation. Zum einen ist sein Gesetz, von mehr als Dreiviertel der Bevölkerung als „Rentendiktat“ betitelt, Gewalt, die behördliche, polizeiliche, die des Justizapparates ist die schmerzhafte Gewalt gegen die Menschen auf den Straßen der Grande Nation. Und doch protestieren sie:

Zahlen aus Frankreich deuten erneut auf eine massive Beteiligung an den Demonstrationen hin. Der Rekordwert von über 3 Millionen Demonstrierenden am 7. März wird überschritten werden:
Paris: 800.000 Menschen
Marseille: 280.000 Menschen
Bordeaux: 110.000 Menschen
Nantes: 80.000 Menschen
Lille: 75.000 Menschen
Lyon: 55.000 Menschen
Rennes: 35.000 Menschen
Orléans: 30.000 Menschen
Tarbes: 25.000 Menschen
Pau: 25.000 Menschen
Bayonne: 24.000 Menschen
Rouen: 23.000 Menschen
Auch: 10.000 Mensche
(Quelle: Sebastian Chwala, Zahlen von den Streikorganisatoren)

Titelbild: © Sebastian Chwala

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