Übersterblichkeit auf Rekordniveau – ein Rückblick auf drei Jahre Corona (2/2)

Übersterblichkeit auf Rekordniveau – ein Rückblick auf drei Jahre Corona (2/2)

Übersterblichkeit auf Rekordniveau – ein Rückblick auf drei Jahre Corona (2/2)

Ein Artikel von Günter Eder

Im gestern auf den NachDenkSeiten erschienenen ersten Teil seiner Studie untersuchte der Statistiker Günter Eder die Entwicklung der Übersterblichkeit in den letzten drei Jahren und wies nach, dass sich vor allem deren zeitweiliger massiver Anstieg im letzten Jahr nur schwerlich mit den Coronaerkrankungen erklären lässt. Im zweiten Teil der Studie soll nun die Übersterblichkeit im Jahresverlauf näher betrachtet werden. Mit der Auswertung der Wochenwerte verbindet sich die Hoffnung, dass statistische Zusammenhänge sichtbar werden, die aus den hochaggregierten Jahreswerten nicht ablesbar sind. Von Günter Eder.

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Auswertung von Wochenwerten

Analog zum Vorgehen bei den Jahreswerten benötigt man einen Referenzmaßstab (erwartete Zahl von Sterbefällen), um die Höhe der wöchentlichen Übersterblichkeit quantitativ zu bewerten. Das Statistische Bundesamt empfiehlt, den mittleren Verlauf der Sterbedaten der vorausgegangenen vier Jahre als Basislinie (Referenzmaßstab) zu verwenden. Ein solches Vorgehen, das im Prinzip durchaus sinnvoll ist, ist mit dem hier gewählten Modellansatz nicht vereinbar. Da die Jahresprognose für die zu erwartende Zahl an Todesfällen keine Grippetoten beinhaltet, muss dies aus Gründen der Konsistenz auch für die Basislinie gelten. Das kann man sicherstellen, indem man die Basislinie ausschließlich aus grippefreien bzw. grippearmen Jahren ableitet. Von den vier Jahren vor Corona trifft das nur auf die Jahre 2016 und 2019 zu. Berechnet man auf dieser Grundlage die Basislinie, so erhält man die in Abbildung 3 dargestellte Saisonfigur.

Die Basislinie resultiert aus der regressionsanalytischen Einpassung eines trigonometrischen Polynoms dritter Ordnung in die Wochendaten der Jahre 2016 und 2019. Zum Vergleich ist die Verlaufskurve, die man erhält, wenn man das arithmetische Mittel aus den Einzelwerten der Jahre 2016 bis 2019 bildet, mit eingezeichnet.

Abbildung 3

Die Basislinien stimmen über weite Strecken recht gut überein, auch wenn die auf Mittelwerten beruhende Variante stärkeren zufälligen Schwankungen unterliegt. Der größte Verlaufsunterschied ist im Winter zu verzeichnen. Dadurch, dass in die regressionsanalytisch ermittelte Basislinie nur grippefreie Jahre eingegangen sind, steigt die Kurve im Winter nicht so stark an wie bei dem Mittelwertverfahren, das neben den grippefreien Jahren auch zwei Jahre mit Grippewellen beinhaltet.

Die regressionsanalytisch ermittelte Basislinie weist Ende Februar / Anfang März die höchsten und Ende August die niedrigsten Sterbezahlen auf. Der Verlauf entspricht der erwarteten Saisonfigur.

Um keine überhöhten Schätzwerte für die Übersterblichkeit zu erhalten, muss in einem weiteren Schritt noch das Niveau der Basislinie an die demographische Entwicklung angepasst werden. Denn wie man aus Abbildung 1 ersehen konnte, steigt die Zahl der Sterbefälle Jahr für Jahr an. Dem wird Rechnung getragen, indem die Basislinie auf die im Prognosejahr zu erwartende Zahl an Sterbefällen angehoben wird. Das Verfahren liefert für die Coronazeit den in Abbildung 4 dargestellten Übersterblichkeitsverlauf. Aufgetragen sind die prozentualen Abweichungen der tatsächlichen Sterbefallzahlen von der erwarteten Anzahl.

Abbildung 4

Im Kurvenverlauf kommen gleichermaßen zufallsbedingte wie systematische Effekte zum Ausdruck. Die meisten der vielen abrupten Ausschläge dürften dem Zufall geschuldet sein und sind für die vorliegende Untersuchung nicht von Bedeutung. Hinter Ausschlägen, die länger anhalten, verbergen sich hingegen meist konkrete, im Idealfall auch benennbare Ursachen. Als Beispiel für einen systematischen Effekt können die hohen Übersterblichkeitswerte am Jahresende, also in der kalten Jahreszeit, gesehen werden. Warum das Maximum der Übersterblichkeit in den Coronajahren allerdings bereits gegen Ende des Jahres auftritt und nicht, wie man es von der Grippe her gewohnt ist, erst im Februar/März des Folgejahres, lässt sich nicht sagen (vgl. Abb. 3).

Der höchste wöchentliche Übersterblichkeitswert ist mit 40,2 Prozent erstaunlicherweise erst Ende 2022 zu beobachten. Und wie der Zufall es will, ruft Christian Drosten ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt das Ende der Pandemie aus. „Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-CoV-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei“, sagte er am 26. Dezember 2022 in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“. [9] Er hätte kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt für diese Aussage wählen können.

Die Coronajahre werden im Weiteren einzeln betrachtet, um mögliche Einflussgrößen, die den Verlauf geprägt haben könnten, aufzudecken. Ergänzend ist jeweils die Zahl der Coronatoten mit aufgetragen.

2020

Das Sterbegeschehen im Jahr 2020 ist gekennzeichnet durch zwei Coronawellen, eine relativ schwache Welle im Frühjahr und eine extrem ausgeprägte zum Jahresende. Während der ersten Welle sterben knapp 8.000 Menschen an Corona, während der zweiten Welle sind es (jahresübergreifend) 67.000.

Abbildung 5

Der plötzliche und starke Anstieg der Übersterblichkeit im Hochsommer dürfte auf die Hitzewelle in der 33. Woche zurückzuführen sein. In dieser Woche sterben etwa 2.800 Menschen mehr, als eigentlich zu erwarten gewesen wäre. In den Coronasterbezahlen macht sich die Hitzewelle nicht bemerkbar.

Der Verlauf der Übersterblichkeit ist ansonsten eng verknüpft mit der Zahl der Coronatoten. Sowohl in der ersten als auch in der zweiten Coronawelle stimmen die Kurven hinsichtlich der Höhe der Maximalwerte sowie des Zeitpunktes, zu dem diese auftreten, vollkommen überein. Das muss nicht zwangsläufig so sein, wie die nachfolgenden Jahre zeigen werden. Die gute Übereinstimmung kann als Bestätigung für die Richtigkeit der Sterbedaten angesehen werden, also sowohl der ermittelten Übersterblichkeitswerte als auch der Coronasterbedaten des RKI.

Ein Rückgang der Sterbezahlen setzt in der 52. Woche ein. Der Zeitpunkt fällt zusammen mit dem Impfbeginn in Deutschland. Aufgrund des zeitlichen Zusammentreffens könnte man vermuten, dass das Impfen den Rückgang bewirkt hat, doch das trifft nicht zu. In der Studie „Chancen und Risiken der Coronaimpfung“ habe ich zeigen können, dass die Sterbezahlen auch ohne Impfung zurückgegangen wären, weil das Infektionsgeschehen seinen Zenit überschritten hatte. Ein positiver Effekt des Impfens auf die Coronasterbezahlen ist erst in der nachfolgenden dritten Coronawelle nachweisbar. [5]

2021

Im Jahr 2021 stimmen die Verläufe für die Übersterblichkeit und für die Zahl der Coronatoten nicht mehr so gut überein. Starke Abweichungen sind vor allem im Frühjahr und gegen Ende des Jahres zu verzeichnen. Im Frühjahr 2021 liegen die Übersterblichkeitswerte weit unterhalb der Zahl der Coronatoten, während sie im letzten Quartal des Jahres zum Teil weit darüber liegen.

Nach Überschreiten des Sterbemaximums in der zweiten Coronawelle beginnen die Sterbekurven auseinanderzulaufen. Sie entfernen sich so weit voneinander, dass die Übersterblichkeit, trotz der zahlreichen Coronatoten, sogar hohe negative Werte annimmt. Was könnte den divergierenden Verlauf der Sterbekurven ausgelöst haben? Das Impfen kommt als Ursache eher nicht in Betracht, da sich eine Reduktion der Sterbefälle gleichermaßen in der Übersterblichkeit wie in den Coronasterbezahlen bemerkbar machen müsste. Untersterblichkeitsphasen sind im Frühjahr hingegen häufig zu beobachten und werden meist mit ausgebliebenen Grippewellen in Verbindung gebracht. Im vorliegenden Fall greift diese Erklärung allerdings zu kurz, da die Basislinie bereits grippefrei konstruiert ist (vgl. Abb. 3). Bei ausbleibenden Grippewellen ist folglich eher mit einem Übersterblichkeitsverlauf um die Nulllinie herum zu rechnen als mit einer ausgeprägten Untersterblichkeit.

Die Untersterblichkeit könnte jedoch eine indirekte Folge der vielen Coronatoten sein, die in der zweiten Welle zu beklagen waren. Wenn man davon ausgeht, dass viele Verstorbene bereits vor der Infektion sehr krank waren und unabhängig von Corona nicht mehr lange gelebt hätten, dann könnte die Infektion dazu geführt haben, dass viele dieser Menschen einige Wochen oder Monate früher gestorben sind, als es sonst der Fall gewesen wäre. Als Folge davon wäre nach Abklingen der Sterbewelle mit einem starken Rückgang der Übersterblichkeit zu rechnen, der durchaus in eine Phase der Untersterblichkeit münden könnte. Die Untersterblichkeit würde umso stärker ausfallen, je mehr Menschen der Infektion zum Opfer gefallen sind und je höher der Anteil derjenigen war, die auch ohne die Infektion nur noch kurze Zeit gelebt hätten. Die Zeitspanne zwischen dem Höhepunkt der Übersterblichkeit und dem Höhepunkt der Untersterblichkeit könnte dann als Hinweis auf die verlorene Lebenszeit durch Corona gedeutet werden.

Eine solche Erklärung würde voraussetzen, dass es sich bei den Verstorbenen meist um alte und gesundheitlich stark geschwächte Menschen handelt. Und beides ist tatsächlich der Fall. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt mit 83 Jahren etwa drei Jahre über dem allgemeinen Sterbealter in Deutschland, und mittels Obduktion sämtlicher Coronatoten in Hamburg hat Professor Püschel bereits 2020 herausgefunden, dass fast alle Verstorbenen mit einer oder mehreren Vorerkrankungen belastet waren. [10] Das stützt die These, dass die Untersterblichkeit eher eine Folge der vorhergehenden hohen Übersterblichkeit ist, als dass sie von einer ausgebliebenen Grippewelle herrührt.

Abbildung 6

Genau andersherum stellt sich die Situation zum Jahresende hin dar. In den letzten vier Monaten des Jahres übertrifft die Übersterblichkeit durchgängig die Zahl der Coronatoten. Da diese Situation über mehrere Monate anhält, ist es sehr unwahrscheinlich, dass dies dem Zufall geschuldet ist. Wahrscheinlicher ist, dass äußere Einflüsse den Effekt ausgelöst haben.

Am größten ist die Differenz in der 48. Woche. In dieser Woche sterben fast 2.000 Menschen mehr, als man nach der Zahl der Coronatoten erwarten würde. Das Statistische Bundesamt schreibt hierzu in einer Pressemitteilung:

„Für den zusätzlichen Anstieg der Sterbefallzahlen sind mehrere Ursachen denkbar: So können hier unerkannte Covid-19-Todesfälle (Dunkelziffer) oder die zeitliche Verschiebung von Sterbefällen innerhalb eines Jahres infolge der zum Jahresbeginn ausgefallenen Grippewelle eine Rolle spielen. Möglicherweise zeigen sich auch die Folgen verschobener Operationen und Vorsorgeuntersuchungen. Der Beitrag einzelner Effekte lässt sich allerdings derzeit nicht beziffern.“ [11]

Die Spekulationen, die die Behörde anstellt, um die Höhe der Übersterblichkeit zu erklären, mögen zutreffen oder nicht. Was auffällt, ist, dass eine Ursache, die als Erklärung durchaus infrage käme, gar nicht in Erwägung gezogen wird, nämlich das Impfen. Dabei lassen sich gerade in dieser Zeit außergewöhnlich viele Menschen ein drittes Mal impfen. Seit der 36. Woche werden wöchentlich mehr als 100.000 Menschen geboostert, und in der 45. Woche wird die Millionenmarke überschritten. Danach steigt die Impfkurve steil an und erreicht mit 6,4 Millionen Geimpften in der 50. Woche einen absoluten Höhepunkt. [8] Zu keinem früheren oder späteren Zeitpunkt sind derart viele Menschen in so kurzer Zeit geimpft worden. Und bei keiner der vorhergehenden Impfkampagnen war das Unwissen um mögliche Folgewirkungen so groß wie bei den Auffrischimpfungen. Ob die Impfung für den Anstieg der Sterbezahlen tatsächlich verantwortlich ist, lässt sich auf Basis des hier betrachteten Datenmaterials nicht abschließend sagen – aber der zeitliche Zusammenhang ist auffällig.

2022

Auch im Jahr 2022 weichen die Coronasterbekurve und der Übersterblichkeitsverlauf stark voneinander ab. Zudem unterscheiden sich die Verläufe grundlegend von denen der Vorjahre.

Die Coronasterbekurve weist, abgesehen von der eher schwach ausgeprägten fünften Coronawelle, kaum noch saisonale Effekte auf. Weder steigt sie zum Jahresende hin stark an, noch geht sie im Sommer auf Werte nahe der Nulllinie zurück. Scheinbar unbeeinflusst von äußeren Faktoren mäandert die Kurve durch die zweite Jahreshälfte.

Abbildung 7

Äußerst ungewöhnlich ist, dass die Zahl der Coronatoten im Sommer nicht auf Werte nahe Null zurückgeht, wie es in den Vorjahren der Fall war. Im Sommer 2020 war die Sterbekurve über einen Zeitraum von 17 Wochen praktisch identisch mit der Nulllinie, und im Jahr 2021 war das immerhin noch in sieben Wochen der Fall. Im Sommer 2022 hingegen geht die Sterbekurve nicht nur nicht bis zur Nulllinie zurück, sondern steigt zwischendurch sogar wieder an. Der höchste Sommerwert mit über eintausend Coronatoten ist in der 30. Woche zu verzeichnen (Ende Juli).

Tabelle 3 gibt Auskunft über die Gesamtzahl der jeweils im Sommer an Corona verstorbenen Menschen. Im Sommer 2020 starben insgesamt 456 Menschen an Corona. Im darauffolgenden Jahr waren es mit 2.193 Verstorbenen fast fünfmal so viele. Und der Anstieg setzt sich ungebrochen fort, sodass im Sommer 2022 kaum glaubliche 8.198 Coronatote zu beklagen sind, also 18-mal mehr Tote als im ersten Jahr der Pandemie. Allein in der 30. Woche 2022 sterben mehr als doppelt so viele Menschen an Corona wie während des gesamten Sommers 2020 (1.009 Verstorbene gegenüber 456 Verstorbenen). Woher rührt diese eigenartige und erschreckende Entwicklung? Eine nachvollziehbare medizinische Erklärung gibt es hierfür bisher nicht.

Tabelle 3

Die extrem hohe Zahl Coronatoter im Sommer 2022 ist umso unverständlicher, als sich mittlerweile eine Coronavariante (Omikron) durchgesetzt hat, die als wesentlich ungefährlicher gilt als die Vorgängertypen (Urtyp, Alpha und Delta). Zudem sind die meisten Menschen geimpft und sollten dadurch eigentlich gut geschützt sein. Im ersten Coronajahr war dagegen noch niemand geimpft, sodass die Menschen gezwungen waren, ihrem natürlichen Immunsystem zu vertrauen. Und Gott sei Dank konnten sie das auch, wie die Sterbezahlen zeigen.

Der Sachverhalt ist auch dem RKI aufgefallen. „Im vergangenen Sommer (gemeint ist das Jahr 2022, d.V.) sind zum ersten Mal erhöhte Anzahlen von Sterbefällen durch Coronavirus Disease 2019 (Covid-19) während der Hitzeperiode aufgetreten.“ In einer Studie ist das Institut der Frage nachgegangen, ob möglicherweise die außergewöhnlich lange und extreme Hitzeperiode den Effekt verursacht haben könnte, und kommt zu dem Schluss, dass es „keine Hinweise auf einen möglicherweise verstärkenden Effekt hoher Außentemperatur auf die Covid-19-Mortalität“ gibt. [12] Damit bleibt offen, woher der starke Anstieg der Sterbezahlen rührt.

Die mRNA-Impfstoffe sind neuartige Impfstoffe, die in der Kürze der Zeit, die für die Entwicklung zur Verfügung stand, bei Weitem nicht so umfassend und gründlich erforscht werden konnten, wie das sonst bei Impfstoffen üblich und vorgeschrieben ist. Unerwünschte oder überraschende Nebenwirkungseffekte kann daher niemand ausschließen. Folgerichtig besitzen mRNA-Vakzine bis heute keine reguläre Zulassung, sondern sind nur bedingt zugelassen. Zudem hat die Bundesregierung (und damit letztlich der Steuerzahler) die alleinige Verantwortung und Haftung bei eventuell auftretenden Impfschäden übernommen. Man kann nur hoffen, dass die Rechnung nicht allzu hoch ausfallen wird.

Die Übersterblichkeitskurve weist in der ersten Hälfte des Jahres 2022 einen recht unauffälligen Verlauf auf (vgl. Abb. 7). Zunächst verläuft die Kurve etwa auf dem Niveau der Nulllinie, steigt dann etwas an und orientiert sich ab der 14. Woche, mit leicht sinkender Tendenz, an der Coronasterbekurve. Mit Beginn des Sommers ändert sich die Situation dann schlagartig. Jetzt löst sich die Übersterblichkeit vollständig vom Coronasterbegeschehen ab und prägt drei außergewöhnlich hohe Übersterblichkeitsbuckel aus. Zweimal steigt der Verlauf abrupt auf Werte von etwa 3.000 Verstorbenen pro Woche an, verbleibt für einige Zeit auf dem Niveau und fällt dann ebenso plötzlich wieder ab (erster und zweiter Übersterblichkeitsbuckel). Es folgt ein dritter Buckel, bei dem die Übersterblichkeit dann geradezu explodiert. In der 51. Woche 2022 sterben 8.000 Menschen mehr, als unter normalen Umständen zu erwarten gewesen wäre. Es ist der höchste Übersterblichkeitswert der gesamten Coronazeit und entspricht etwa der Anzahl der Coronatoten in der ersten Coronawelle.

Warum die Übersterblichkeit in der zweiten Jahreshälfte plötzlich so stark ansteigt und einen so eigenartigen, dreibuckligen Verlauf aufweist, ist unklar, zumindest was den zweiten und dritten Buckel betrifft. Als Erklärung für den ersten Buckel kommt der außergewöhnlich heiße Sommer in Betracht. Zwischen der 29. und 33. Woche gab es eine der längsten und extremsten Hitzeperioden, die das Land in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Und da Hitzewellen erfahrungsgemäß mit steigenden Sterbezahlen einhergehen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Übersterblichkeit großteils daher rührt.

In einer Schwerpunktstudie ist das RKI dieser Frage nachgegangen und kommt zu dem Schluss, dass es im Jahr 2022 deutschlandweit rund 4.500 hitzebedingte Sterbefälle gab. [12] Damit lässt sich die Übersterblichkeit von insgesamt 18.559 Verstorbenen zwar nicht vollständig erklären, aber zusammen mit der Zahl der Coronatoten doch zu immerhin 60 Prozent (vgl. Tab. 4).

Zu den Ursachen für den Anstieg der Übersterblichkeit während des zweiten und dritten Buckels liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Und offizielle Stellungnahmen, die dem Ernst der Situation angemessen wären, gibt es bisher weder von medizinischer noch von politischer Seite.

Tabelle 4

In den letzten vier Monaten des Jahres 2022, genauer gesagt zwischen der 37. und 52. Woche, sind 47.842 Menschen mehr gestorben, als unter normalen Umständen zu erwarten gewesen wäre. Das ist eine beängstigend hohe Zahl. Doch was unterscheidet diesen Zeitabschnitt von „normalen“ Zeiten? Das RKI weist in den letzten ARE-Wochenberichten des Jahres 2022 auf überdurchschnittliche Werte für akute Atemwegserkrankungen hin, die über dem Niveau der Vorjahre und zum Teil sogar über dem Niveau der Vorjahre zum Höhepunkt schwerer Grippewellen liegen. Könnte dies die hohen Sterbezahlen erklären?

Die ARE-Wochenberichte basieren auf Daten zu respiratorischen Erkrankungen, die dem RKI regelmäßig von ausgewählten Krankenhäusern und Ärzten übermittelt werden. Zu den übermittelten Parametern zählen unter anderem Todesfälle mit Influenzavirusinfektion. Da nur ein kleiner Teil der Ärzteschaft in das Sentinel einbezogen ist, lassen die Meldungen keinen direkten Rückschluss auf die Gesamtzahl der Influenzatoten zu.

Für die Zeit von der 40. Woche 2022 bis zum Ende des Jahres sind dem RKI insgesamt 286 Todesfälle mit Influenzavirusinfektion übermittelt worden. Das ist für diesen frühen Zeitpunkt ein ungewöhnlich hoher Wert. Vor 2020 traten Werte dieser Größenordnung nicht vor Mitte bis Ende Februar auf, also etwa zwei Monate später. [13] [14] Ob die früh zu beobachtende hohe Zahl an Influenzatoten ausreicht, die extreme Übersterblichkeit zum Jahresende 2022 zu erklären, ist ungewiss und nicht sehr wahrscheinlich. Man wird abwarten müssen, wie sich die Meldezahlen weiter entwickeln, und möglicherweise erst Ende 2023 Genaueres über die Ursachen sagen können, wenn die Todesursachenstatistik vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht wird.

Doch unabhängig davon, ob die hohen Sterbezahlen im dritten Übersterblichkeitsbuckel durch den Anstieg der Influenzatodesfälle vollständig oder teilweise erklärt werden können, bleibt die Frage nach dem Warum weiter offen. Warum sterben zu einem so frühen Zeitpunkt so viele Menschen an einer Grippeerkrankung? Ein Rätsel bleibt auch die hohe Übersterblichkeit im zweiten Buckel. Für eine Hitzewelle ist Mitte September / Ende Oktober ein zu später Zeitpunkt, und für eine Grippewelle liegt er eindeutig zu früh. Letzteres wird auch durch das Sentinel gestützt, das für diese Zeit keine ungewöhnlich hohe Zahl an Grippetoten ausweist. Woran sind die 11.000 Menschen, die im zweiten Übersterblichkeitsbuckel über das zu erwartende Maß hinaus verstorben sind, ohne coronainfiziert zu sein, stattdessen gestorben? Dieser Frage sollte das RKI dringend nachgehen und dabei die Impfung als mögliche Ursache nicht von vornherein ausschließen.

Schlussbetrachtung

Im ersten Coronajahr starben dem RKI zufolge insgesamt 43.826 Menschen an oder mit Corona. Damals beherrschte die gefährliche Wuhan-Variante das Infektionsgeschehen und niemand (von wenigen Ausnahmen abgesehen) war geimpft. Zwei Jahre später hat sich die ungefährlichere Omikron-Variante durchgesetzt, und 72 Prozent der Bevölkerung sind zweimal geimpft, viele sogar drei- oder viermal. Zudem hat ein Großteil der ungeimpften Bevölkerung eine Infektion durchgemacht und so einen Immunschutz aufgebaut. Man kann folglich davon ausgehen, dass über 80 Prozent der Bevölkerung gut gegen Corona geschützt sein sollten. Und wenn man die besonders gefährdete Altersgruppe der über 60-Jährigen betrachtet, liegt der Anteil sogar weit über 90 Prozent. Trotzdem sind im Jahr 2022 mit 46.426 Personen mehr Coronatote zu beklagen als im Jahr 2020. Wie ist das möglich? Warum hat es keinen Rückgang der Zahl der Coronatoten gegeben? Und warum weichen die Verlaufskurven für die Übersterblichkeit und für die Zahl der Coronatoten im Jahr 2022 so extrem stark voneinander ab?

Im Jahr 2020 sind beide Kurven noch eng miteinander verwoben, verlaufen phasenweise nahezu deckungsgleich, und der Korrelationskoeffizient als statistisches Maß zur Beurteilung der Stärke des Zusammenhangs weist einen hohen Wert von 0,93 auf (mögliches Maximum: 1,0). Zwei Jahre später ist von dieser Übereinstimmung nichts mehr geblieben. Steigende Coronasterbezahlen haben keine steigenden Übersterblichkeitswerte mehr zur Folge. Das drückt sich in einem Korrelationskoeffizienten von lediglich 0,04 aus.

An welcher Stelle ist der Zusammenhang zwischen der Übersterblichkeit und der Zahl der Coronatoten, den man doch (zumindest so lange viele Menschen an Corona sterben) für selbstverständlich erachten würde, verloren gegangen? Haben verschobene Operationen, abgesagte Vorsorgeuntersuchungen, Lockdowns, Schulschließungen, fehlende soziale Kontakte oder das ständige Tragen der Maske eine solche Entwicklung befördert? Man weiß es nicht, kann diesbezüglich allenfalls Vermutungen anstellen. Warum sind Fragen dieser Art in den zurückliegenden drei Jahren nicht gründlich erforscht worden? Angesichts der insgesamt unbefriedigenden Datenlage, angesichts fehlender wissenschaftlicher Untersuchungen und angesichts eines mangelnden Aufklärungswillens von Seiten der Politik kann es nicht verwundern, wenn Menschen anfangen, sich eigene Gedanken zu möglichen Ursachen und Zusammenhängen zu machen.

Kanzlerin Merkel entschied im April 2020, dass die Pandemie nur durch Impfen zu überwinden sei. [15] Im November 2020 präzisierte sie ihre Einschätzung und sagte, dass das Virus als besiegt gelten könne, wenn 60 Prozent bis 70 Prozent der Bevölkerung geimpft seien oder eine Infektion durchgemacht hätten. [16] Seit über zwei Jahren gibt es nun Impfstoffe, und über 70 Prozent der Bevölkerung sind geimpft, aber das Coronasterben hat kein Ende und die Übersterblichkeit schlägt Purzelbäume. Mit einem Wert von 8,65 Prozent erreicht die Übersterblichkeit im Jahr 2022 ein Niveau, wie es bis dahin kaum vorstellbar war.

Trotzdem hat Christian Drosten am zweiten Weihnachtstag 2022 das Ende der Pandemie verkündet. [9] Das ist, wenn man die Coronasterbezahlen isoliert betrachtet, eine durchaus logische und richtige Schlussfolgerung, denn erstmals seit der Ausbreitung von Sars-CoV-2 steigen die Coronasterbezahlen mit Beginn der kalten Jahreszeit nicht stark an. Was er allerdings übersehen oder nicht beachtet hat, ist das Übersterblichkeitsgebirge, das sich mittlerweile über den Coronatoten auftürmt und für das es keine befriedigende Erklärung gibt.

Das Sterbegeschehen in Deutschland scheint in den drei Jahren der Coronapandemie einen grundlegenden Wandel erfahren zu haben. Und die entscheidende Frage ist möglicherweise gar nicht mehr, ob die Pandemie vorbei ist oder nicht, sondern, ob die natürlichen Abwehrkräfte und damit die Gesundheit der Menschen Schaden genommen haben – möglicherweise als Folge einer durchgemachten Coronaerkrankung, sehr viel wahrscheinlicher aber aufgrund der massenhaften mRNA-Impfungen. Falls das zutreffen sollte, kann man nur hoffen, dass das Immunsystem aus sich heraus in der Lage ist bzw. mittels medizinischer Unterstützung in die Lage versetzt wird, sich vollständig zu regenerieren und zu einem Zustand zurückzufinden, wie er im ersten Jahr der Pandemie noch bestand, als mehr als 99,6 Prozent aller infizierten Menschen, trotz fehlender Impfung, eine Coronainfektion überlebten. [17]

Titelbild: Cryptographer/shutterstock.com