Aufruf zum Verzeihen

Aufruf zum Verzeihen

Aufruf zum Verzeihen

Ein Artikel von Jürgen Fliege

Alldieweil sich viele Lämmerhirten immer noch in Schweigen hüllen oder gar einstimmen in das Geheul der Wölfe, die nach noch mehr Blut schreien, um endlich Frieden zu finden, will ich euch um den wahren Grund aller Friedenswege auf dieser Erde nicht betrügen. Von Pfarrer i.R. Jürgen Fliege.

Vergebung macht frei!

In der vorösterlichen Stille hören wir das Geschrei der aufgescheuchten Menschen umso lauter. Die Stille bringt es an den Tag. Die Stille zeigt uns, was nur durch die Stille geheilt werden kann: Es ist das große Geschrei nach Rache und Recht, Vergeltung und Vernichtung, nach Tod um Tod, nach Auge um Auge, nach Zahn um Zahn. Es tönt in diesem Jahr lauter denn je aus Ost und West, aus Moskau, Kiew, aus Den Haag bis Washington. Und wir, in unserem von Corona und Kriegsgeschrei aufgescheuchten Land, sind mittendrin. Die einen schreien mit, die anderen halten sich die Ohren zu.

So will kein Frieden werden. Da schreibe ich euch ein paar Worte aus der Stille der semana santa, der heiligen Woche vor Ostern, die helfen sollen, den schweren Weg des Friedens, den Weg Jesu, den Weg voller Demütigungen und Schmerzen, den Weg des querliebenden Meisters aus Nazareth zu finden.

In der Stille wird es offenbar: Nur wer vergeben kann, ist frei. Wer nicht vergeben kann, ist nicht frei. Er ist gefangen und wird es bleiben, solange er lebt und darüber hinaus in seinen Kindern und Kindeskindern.

Wer vergeben kann, ist stark und bleibt stark – und seine Kinder auch. Denn er ist bei sich und nirgends sonst. Wer nicht vergeben kann, ist schwach. Und er wird durch seinen anhaltenden Kampf immer schwächer und bleibt darin gefangen.

Diese Wahrheiten sind so alt und so tief und liegen doch offensichtlich am Tag. Aber sie werden gehandelt wie alte Geldscheine nach neu eingeführter Währung, mit denen man sich den Hintern abputzen kann. Kein Mensch will sie mehr in die Hand nehmen. Diese Wahrheiten sind so widerspenstig für alle Welt. Sie liegen quer im Mainstream der johlenden Massen und Jagdmeuten, welcher Richtung oder Couleur auch immer. Und sie werden es immer sein. Es sind eben keine Wahrheiten für die Masse, fürs johlende Volk. Es sind Wahrheiten für die kritische Masse, die doch das Salz eines jeden Volkes ist. Die Vergebenden sind ja auch nicht das Ergebnis eines erfolgreichen Volksaufstandes gegen das Böse. Sie sind das Ergebnis eines inneren Weges, der Herz hat. Das ist ihr Sieg – und der ist immer individuell. Und er hat die Kraft von Salz und Hefe.

Wie aber kommt man denn in so unruhigen Zeiten in eine ruhende Position des Herzens und der Liebe, dass man frei ist und vergeben kann? Wie wird man Salz der Welt? Wie wenn man eine Art Nelson Mandela wäre, der nach 28 Jahren Haft ohne Groll und Hass und ohne großes Geschrei nach Gerechtigkeit und Rache, Sühne und was weiß ich alles vor die Menschheit treten kann? Und alle halten den Atem an und spüren, dass da ein Freier vor ihnen steht, ein ungebrochener Mensch, der all die vielen Jahre im Gefängnis auf Robben Island immer schon frei war, die ganze lange Zeit frei blieb und immer auch frei sein wird über seinen Tod hinaus.

Wie und wo findet man mitten im Sturm der Zeiten diese Stille in sich, diese innere Ruhe, wenn alle Welt um einen herum nur noch schreit: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Leben um Leben! Niemals, niemals werden wir vergeben! Niemals! Zu groß die Wunden! Zu groß der Schmerz! Was da geschehen ist an mir, meinen Liebsten, an den Kindern und den Alten, an den Brüdern und Schwestern, an Tieren und Pflanzen und was auch immer, an der ganzen Gesellschaft und der ganzen Schöpfung, muss gesühnt werden! Das muss bezahlt werden! Das muss gerächt werden. Das Leben verlangt Ausgleich. Und wer das Leben anderer verletzt hat oder gar ausgelöscht hat, warum auch immer, bezahlt mit gleicher Münze: Eben: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben! Es geht nicht anders!

Das klingt gut. Das hat auf den ersten Ton auch etwas Beruhigendes, etwas Frieden Stiftendes: Ausgleich! Es hat auch scheinbar sogar etwas von einer göttlichen bzw. natürlichen Gesetzmäßigkeit. Es steht ja auch so in der jüdischen Bibel! Stimmt! Aber es ist dort auch nur ein erster uralter Versuch unserer Kulturen, der himmelschreienden Lust auf archaische Rachegelüste und Macht über andere Einhalt zu gebieten. Und diese verfärben blutrot und blutrünstig die reine Seele, dass sie den Schmerz der Wunden und Verluste nicht mehr wahrnehmen muss. Der Schrei nach Rache hat etwas Narkotisierendes. Er ist ein den unmittelbaren oder auch anhaltenden Schmerz verdrängendes Therapeutikum. Er schreit aber in der Tiefe nur nach der mütterlichen Gemeinschaft, die alles gut werden lassen soll, und nimmt nicht wahr, dass die Gemeinschaft keinen Toten auferstehen lassen und kein Leid ungeschehen machen kann. Die Gemeinschaft hat allerdings etwas Tröstliches. Und Trost ist das wahre Therapeutikum im Leben der Menschen. Trost, damit die Leidenden und in ihrem Schmerz Einsamen bei Trost bleiben und nicht verrückt werden angesichts dessen, was sie da hinnehmen müssen.

Rache und Recht sind also nicht maßlos wie dein Schmerz. Sie haben beide ein Maß vor Augen: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Mehr nicht! Ganz gleich, was du fühlst. Von diesem über 3000 Jahre alten und bewährten Rechtssatz bis zur tiefen, fast göttlichen Einsicht eines jungen Rabbi und spirituellen Meisters aus dem Dorf Nazareth, der dem Bösen nicht mit dem Bösen begegnen will und der auch seine zweite Wange noch anbietet, während die erste schon vor Schmerz rot wird, und seinen Leuten ansagt, die Fischermesser wieder einzustecken, ist es ein weiter Weg. Es ist der innere Entwicklungsweg eines einsichtigen Herzens. Das weiß irgendwann: Der, der vergibt, ist stark. Der, der verzeiht, ist der Starke! Der, der überlebt und überlebt hat, ist lebendig geblieben. Wer aber nicht vergeben und verzeihen kann, bleibt ein Gefangener seiner eigenen Wunden. Sein Leben lang. Die Wunden werden sich angesichts der Wunden der anderen nicht schließen. Schlimmer noch: Sie werden, weil ungeheilt, immer nur nach neuen Adressen suchen für ihren ungelöschten Schmerz.

Welche Schalter des Bewusstseins müssen denn von wem und wie auch immer im eigenen Herzen umgelegt werden, dass man wie ein Nelson Mandela oder ein Dietrich Bonhoeffer in seiner Konzentrationslagerzelle schreiben kann, dass man keinen Groll hegt und pflegt gegen die KZ-Wächter? Wie bekommt man so eine Ausstrahlung, dass die Wächter sagen, Bonhoeffer wirke auf sie wie ein König, der frei in seiner Zelle lebt? Warum grollte ein Dalai Lama den Chinesen nicht, die wohl Hunderttausende seiner Landsleute auf dem Gewissen haben?

Und wie ging jetzt – pardon, dass ich diese großen Namen in kleine Münzen wechsle, in diesem Moment und in einem anderen Maßstab – ein Michael Ballweg in seiner engen Stammheimer Zelle auf und ab? Ist dort auch eine Zelle zu einer Klause geworden? Wurde dort eine Verhaftung ungewollt zu einer Klausur in der Stille? Dämmert dem anscheinend Gefangenen, dass er in etwas Großes involviert ist, das ihn freimachen wird? Erwacht in ihm, dass er dort unter Beweis stellen kann, dass seine öffentlichen Bekenntnisse über seine bedingungslose Gewaltlosigkeit, mit der allein sich das Volk sein Grundgesetz nicht nehmen lassen kann, eine innere Haltung ist und kein leeres Wort? Gott segnet ihn!

Die spirituellen Meister aller Kulturen haben den Frieden in der Welt immer auf diesen einen Punkt gebracht: Vergeben! Er hatte unterschiedliche Namen: Vergeben, verzeihen, annehmen, nicht richten, Zeuge sein und nach dem Großen Ausschau halten, das in jeder Tat und Bewegung verborgen ist und nicht immer als sinnvolle Antwort auf dem Fuß folgt, kaum dass die Klage gen Himmel schreit. Aber es war immer ein und dieselbe Antwort der Meister: Der Friede wächst aus dem Verstehen und dem ihm folgenden Verzeihen. Ob und wie das gelingt, daran aber haben die Mörder, Täter, Verleumder, Ausspucker und Denunzianten keinen Anteil. Das ist der große Irrtum des Herzens, den der Feind nutzt wie nichts. Wir brauchen keine zu Kreuze kriechenden Russen, Amerikaner, Großfinanz, Strippenzieher und deren Lakaien jedweder Couleur. Wir brauchen keine betreuten Sühner und tätige Sünder. Wir brauchen keine faden Bereuer für den Weg des Friedens. Wir brauchen sie nicht und müssten zudem lange auf sie warten. Wir sind frei davon.

Der Weg beginnt in uns selbst. Wir sind der erste Schritt.

Was passiert denn beim Verzeihen? Die Sprache weiß es. Wir zeigen und zeihen mit dem Zeigefinger auf den vermeintlich Schuldigen. Und es dauert, bis wir wahrnehmen, dass dieses Zeihen nichts bewegt. Im Schuldigen nicht. Da nehmen der Druck und die Angst und die Gewalt eher zu. Und auch nicht bei denen, die uns beim Richten und Rechten zuhören oder zuschauen. Nichts passiert, was dem Frieden dient. Es sei denn bei uns. Dann schauen wir mit den drei gekrümmten Fingern auf uns und erkennen, dass wir noch leben. Erstaunlich! Bei dem, was man uns und unseren Liebsten und Fernsten angetan hat. Dass wir immer noch leben, sogar überlebt haben. Wir waren gedrückt, aber nicht unterdrückt. Wie Auferstandene laufen wir rum, die doch vor Monaten noch Todgeweihten. Unser Leben ist uns geblieben, und die demütige Erkenntnis ist gewachsen, dass wir das nicht nur unseren Anstrengungen verdanken, sondern dem Mysterium des Lebens genauso. Wir sind nicht arrogant, uns den Sieg selbst zuzuschreiben. Es hätte viel, viel schlimmer kommen können. Statt Arroganz hat Demut in uns Platz genommen. Es ist eben auch, Gott sei Dank hin oder her, ein Geschenk, dass wir überlebt und das Leben wiedergewonnen haben. Was denn sonst! Wir haben so viel von dem in unserem Herzen bewahrt oder gewonnen, was die anderen nicht oder nicht mehr haben. Uns wurde gegeben eine natürliche Immunität gegen Chemie und Stahlgewitter. Jetzt können wir teilen und geben, abgeben, vergeben. Die Arroganz, dass alles an mir und uns hängt, steht und fällt, ist einer neuen Demut gewichen. Aus dieser spirituellen Perspektive des erwachenden Menschen ist es erst möglich, das Schwere, das wir getragen und ertragen haben und tragen und ertragen müssen, vorsichtig und in aller Stille beiseitezustellen. Es steht jetzt nicht mehr zwischen Täter und Opfer. Die Positionen haben sich, oh Wunder, vertauscht. Fragt Mandela, fragt den Dalai Lama, fragt Joshua, den mit der anderen Wange! Fragt sie, wie frei sie waren und sind!

Es ist ein inneres Wachsen aus tiefsten Einsichten in die Gesetze des Lebens, der Liebe und des Friedens. Es ist das endliche Erkennen, dass der Schrei nach Gerechtigkeit nur ein Ausdruck unbewältigter Trauer ist, die erst und spät in der Stille wieder einen Weg zum eigenen Herzen findet. Es ist das erwachte spirituelle Bewusstsein, dass dieses Suchen nach Schuld und Schuldigen nichts weiter ist als die Verdrängung und Nichtanerkennung der eigenen Verwundbarkeit, Angst und Abhängigkeit. Es ist die tiefe Erkenntnis des weisen Salomo, Buddha und Jesus, dass alles seine Zeit hat und man nicht in die Speichen des Rades greifen muss, damit die Dinge sich ändern. Sie ändern sich durch Bewusstsein. Und dieses Bewusstsein lebt aus einem schier endlosen, ewigen Vertrauen ins Leben, das wir gerne Gottvertrauen nennen.

In dieser vorösterlichen Zeit wird dieser Weg des Herzens, dieser nicht enden wollende Weg, diese via dolorosa, die die Rache nicht kennt und auch schmerzlich gelernt hat, die irdische Gerechtigkeit zu hinterfragen, von den Mystikern unter uns immer wieder neu gegangen. Sie gehen ihn, indem sie die Meister imitieren. Manchmal nur einen Schritt. Manchmal eine ganze Wegstecke. Und da und dort auch ein Leben lang. Diese Imitation nennt man Liebe. Es ist das sich urteilslose Anschmiegen an die Realität hinter dem Schmerz. Es ist das Annehmen der schmerzhaften Geburt der Realität in unserem Bewusstsein und Herzen.

Dieser innere Weg zum Auferstehungsfest hat immer die gleichen sieben oder auch weit mehr Stationen. Angst, Ausgrenzung, Verachtung, Gewalt, Missbrauch, zum Schweigen bringen, töten. Und der, der alles vergibt, trägt zu allen Zeiten zum Verspotten und Verhöhnen eine geile Dornenkrone und irgendwas auf jeden Fall Antisemitisches oben am Folterkreuz. Ist das nun witzig oder ein letzter Versuch des Himmels, unser angsterfülltes versteinertes Herz wieder zum Schlagen zu bringen? Gottlob, es gibt eine Auferstehung des Herzens? Spott oder Nichtspott? Egal! Es stört nicht mehr wirklich. Vergebung ist der Weg! Einen anderen Weg, der zum Frieden führt, haben wir nicht. Wir haben es unter Schmerzen gelernt und sind nun frei, es auch zu tun.

Gesegnete Ostern

Pfarrer i.R. Jürgen Fliege

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Titelbild: fizkes/shutterstock.com

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Wertedebatte

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