„Bürgerforum 2011“ – ein aufwändiges Projekt der Bertelsmann Stiftung mit offenbar nicht ganz erwünschten Ergebnissen

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Am 28. Mai hat das vom Bundespräsidenten, der Bertelsmann Stiftung und der Heinz Nixdorf Stiftung initiierte „Bürgerforum 2011“ Christian Wulff im ehemaligen Bonner Bundestag sein „Programm mit konkreten Vorschlägen für politische Reformen überreicht“. Insgesamt 10.000 Bürgerinnen und Bürger waren dazu eingeladen in 25 ausgewählten Regionen in Veranstaltungen vor Ort und auf einer Internetplattform ihre Vorschläge zu sechs vorgegebenen Themenfeldern zu machen. Ein verhältnismäßig aufwändiges Projekt also, das allerdings offenbar nicht ganz die erwünschten Ergebnisse gebracht hat. Wohl deshalb haben die Vorschläge – ganz anders als bei sonstigen Bertelsmann Projekten – nur ein leises Medienecho hervorgerufen und hat die Politik davon kaum Notiz genommen. Das „Bürgerforum 2011“ ist so unfreiwillig ein Beleg dafür geworden, wie wenig die herrschenden Machtkartelle in den Medien und der Politik von einer kritischen Bürgerbeteiligung halten. Wolfgang Lieb

Auf die mangelnde Repräsentativität eines „der größten Bürgerbeteiligungsprojekte Deutschlands“ und über die zweifelhaften Spielregeln hatten wir schon Anfang des Jahres hingewiesen. Einer unserer Leser hat uns geschildert, wie die Diskussionen in den Bürgerforen durch die Moderatoren bewusst und gezielt gelenkt worden sind.

Auffallend ist, dass außer Frankfurt am Main keine Großstadt unter den ausgewählten Städten ist, dass etwa Stadt und Region Aachen und Bonn also zwei eng beieinander liegende kleinere Städte beteiligt waren, das bevölkerungsmäßig viel größere und wirtschaftsstrukturell völlig unterschiedliche Ruhrgebiet aber nur mit der Stadt Bochum. Außerdem sind ländliche Regionen deutlich überrepräsentiert.

Von den Organisatoren des Projekts ist also das Mögliche getan worden, damit die Dinge bloß nicht aus dem Ruder laufen konnten.

Zu sechs Themenfeldern, nämlich zu Bildung, Demografie, Demokratie und Beteiligung, Familiäre Lebensformen, Integration sowie Solidarität und Gerechtigkeit (man beachte die Auswahl) wurden in 25 ausgewählten Städten und Landkreisen jeweils bis zu 400 Bürgern bei Veranstaltungen vor Ort und auf einer Internetplattform „Bürgerprogramme“ mit Vorschlägen erarbeitet. Aus insgesamt 125 Lösungsvorschlägen der regionalen „Bürgerprogramme“ wurden die sechs „überzeugendsten Vorschläge“ ausgewählt [PDF – 3.9 MB] und dem Bundespräsidenten am „Tag der Demokratie“ (wie es ziemlich großspurig heißt) am 28. Mai überreicht.

Im einleitenden Vorschlag des Ausschusses „Solidarität und Gerechtigkeit“ heißt es in der „Begründung“:

„Wir leben in einem reichen Land. Wir leben in Frieden. „Wir sind Papst“ und erleben „Sommermärchen“. Wir sind Export- und Reiseweltmeister. Wir nähern uns der Vollbeschäftigung. Wir retten Banken und den Euro. Alle müssten dankbar und zufrieden sein. viele sind es auch – zu Recht!
Trotzdem gibt es jetzt den „Wutbürger“, der sich gegen vieles auflehnt. Es gibt drei Millionen Arbeitslose und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. Männer sind gleichberechtigter als Frauen. Es gibt Kinderarmut, Altersarmut und Tafeln. Wir wählen Superstars und sind konsumsüchtig. Gewalt ist allgegenwärtig. Die Gestaltungskraft der Politik scheint verloren. Viele Bürger gehen nicht mehr zur Wahl, kennen nicht einmal die Namen der Politiker. Die Globalisierung ängstigt viele. Mehr Umweltschutz muss man sich leisten können und auch mehr Bildung. Es ist Zeit für eine Kursänderung, für eine Diskussion und Verankerung von moralischen Werten und ethischen Grundsätzen.“

Wenn die „Sonnenseiten“ unseres Landes von den Bürgern selbst so dargestellt worden sein sollten, dann ist das, wie z.B. die Formulierung „Wir nähern uns der Vollbeschäftigung“, ein ziemlich eindeutiger Beleg dafür, wie die allgemeine Meinungsmache gewirkt hat. Bei „Wir sind Papst“ oder „Sommermärchen“ schlagen bis in die Sprache hinein sogar die Kampagnen der Bildzeitung durch. Die Vermutung liegt nahe, dass diese einleitende Textpassage „moderiert“ worden ist.

An Formulierungen wie „alle müssten dankbar und zufrieden sein“ mag man erkennen, worum es den Initiatoren dieses Bürgerforums eigentlich ging. Man wollte wohl eine Grundstimmung schaffen, dass letztlich doch „alle“ zufrieden und dankbar (wem eigentlich?) sein müssten und es daneben halt ein paar „Schattenseiten“ gibt, die mit einer Diskussion und der Verankerung (wo eigentlich?) von moralischen Werten und ethischen Grundsätzen, in ein helleres Licht gerückt werden könnten.

Alles könnte gut werden, wenn nur mehr Anstand und Moral herrschten, denn „Anstand schafft Anstand“ oder wenn die Politiker wieder „vertrauenswürdiger“ würden und wenn wir eine „ethisch geprägte Wirtschaft“ hätten.

Schaut man aber hinter die wohlfeilen Appelle zu mehr Moral und Anstand, dann werden die Vorschläge überraschend handfest:

So sollen hauptamtliche Amts- und Mandatsträger „keine Nebentätigkeiten in Unternehmen ausüben“ dürfen. „Aktivitäten von Lobbyisten sind offenzulegen und ihre Mitwirkung in Gesetzgebungsverfahren ist zu untersagen“. Von „vertrauenswürdigen Politikern“ wird ein „Verzicht auf Fraktionszwang und die Verpflichtung zur Einhaltung von Wahlversprechen“ verlangt.

Über geplante Vorhaben sind die Bürger frühzeitig und umfassend zu informieren und Möglichkeiten der Einflussnahme sind aufzuzeigen.
Unternehmen „die Staatsbeihilfen in Anspruch nehmen dürfen vor der Rückführung keine Gewinne ausschütten“. (Man stelle sich einmal vor, man würde bei den Banken damit ernst machen!) Ein weiterführendes Arbeitnehmerüberlassungsgesetz müsse regeln, dass „Unternehmen durch Leiharbeiter keine finanziellen Vorteile“ entstehen dürften.
Weiter wird appelliert: „Deutschland darf Armut nicht tolerieren, weder bei Kindern noch bei Rentnern, egal, ob die Armut durch finanziellen Mangel oder durch Vernachlässigung und Gleichgültigkeit verursacht wird.“ Zwar sind Arbeitslose und oder Niedriglöhner nicht ausdrücklich erwähnt, aber aus den gleichfalls bundesweit diskutierten Vorschlägen, wir deutlich erkennbar, in welche Richtung die Bürgerforen dachten: Also etwa „wer arbeitet, soll davon ein zumutbares Leben führen können“ oder an die „gesetzliche Einführung eines existenzsichernden Mindestlohns“ oder das „Recht auf würdige, erfüllende Arbeit und gerechte Entlohnung“ oder einfach nur an eine „gerechte Verteilung“. (Laut Presseerklärung der Bertelsmann Stiftung wurde in einzelnen Foren sogar ein bedingungsloses Grundeinkommen vorgeschlagen.)

Schließlich wird für junge Menschen ein angemessen vergütetes „Bürgerjahr“ gefordert, in dem Aufgaben in öffentlichen oder gemeinnützigen Einrichtungen übernommen werden sollen.

Noch härter sind die Vorschläge des Ausschusses „Demokratie und Beteiligung“:

„Die tägliche politische Erfahrung zeigt, dass die Regierungen, Parlamente und Verwaltungen unserer repräsentativen Demokratie viele gesellschaftlich dringende Fragen nicht, nicht ausreichend, zu spät oder gegen eine Mehrheitsmeinung der Bevölkerung regeln. Unser demokratisches Modell muss deshalb um Elemente der direkten Demokratie ergänzt werden, die die Erfüllung der von den Bürgern als vordringlich empfundenen Ziele und Aufgaben nachhaltig ermöglichen.“

Um diese Vorschläge umzusetzen müsse die Politik bereit sein, „echte und weitgehende Kontrollen ihrer Tätigkeit zuzulassen“. Auch in diesem zweiten Themenfeld wird die Unabhängigkeit von Lobbys und Einzelinteressen durch „Nebentätigkeitsregeln/-verbote…(gilt auch für Aufsichts-/Beiratstätigkeiten in Firmen und Aktiengesellschaften“ gefordert. Ja sogar ein Verbot von Parteispenden durch juristische Personen (Firmen, Verbände) wird verlangt.

Auch im dritten Themenfeld „Familiäre Lebensformen“ findet man deutliche Worte:

„Man braucht berufliche Sicherheit, um für seine Familie selbst zu sorgen. Es geht darum, dass es für alle Familien möglich wird, sich Kinder zu „leisten“. Sei es durch staatliche oder durch Betriebliche Unterstützung. Finanzielle Unsicherheit und Angst um den Arbeitsplatz sind nach einer Untersuchung vom Februar 2011 für 86 Prozent der befragten kinderlosen 25- bis 45-jährigen Erwachsenen der Hauptgrund für die niedrige Geburtenrate (Quelle: TZ vom 14.2.11). Nicht die Arbeit, sondern die Familie muss sich wieder lohnen.“

Der letzte Satz mag zwar als plakative Kritik auf die FDP-Parole „Leistung muss sich wieder lohnen“ gedacht gewesen sein, ansonsten ist er widersprüchlich, denn die Reihenfolge ist eine umgekehrte, nämlich: lohnt sich die Arbeit, dann lohnt sich das auch für die Familie. Das wird auch im weiteren Text so ausgeführt, etwa mit dem Vorschlag „sichere Arbeit bedeutet, dass der Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit verhindert wird“ oder „das Einkommen sollte so hoch sein, dass ein Gehalt für die Familie reicht und ein Partner sich um Kinder kümmern kann.“ (Lassen wir dabei einmal die Frage beiseite, wer, ob Man oder Frau, sich um Kinder tatsächlich kümmern muss.)

Aber nicht nur die Anforderung an eine sichere und gut entlohnte Arbeit ist eindeutig, auch die familienpolitischen Forderungen sind weitgehend:

„Eltern müssen nach einer Kinderbetreuungsphase wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren können und für einen familienbedingten Arbeitsausfall (Kinder, Pflege von Großeltern) finanziell entlastet werden.“

Oder:

„Der Staat muss für Lehr- und Lernmittelfreiheit, Schulspeisung und Nachhilfegutscheine sorgen.“

Oder:

„Staat, Kirchen und andere Träger sozialer Einrichtungen müssen dafür sorgen, dass in Kindergärten, bei Vereinen und in Schulen ausreichend kostenlose Betreuungs- und Beratungsangebote für Kinder und Jugendliche geschaffen werden – Familienberatung darf nicht am Geld scheitern!“

Im Ausschuss „Integration“ bleiben die Vorschläge zwar konventionell, wenngleich beachtlich ist, dass weder die Zuwanderung selbst in Frage gestellt wird noch die Integrationsanforderungen – wie diese üblicherweise geschieht – vor allem an die Migranten gerichtet sind.
So heißt es etwa:

„Man kann die Kosten, die durch die Risse in der Gesellschaft und durch die bisherige Abgrenzung bestimmter Gruppen (z.B. Sozialhilfeempfänger, Migranten) entstehen, reduzieren, weil über die Integration auch mehr Produktivität entsteht.“

Das ist zwar ein ziemlich ökonomistischer Ansatz, aber immerhin.

Gefordert wird ein sog. „Zwei-Säulen-Modell“, in dem verpflichtende Regelungen (z. B. Kindergartenpflicht ab 3 Jahre, Integrationskurse) durch freiwillige Angebote (z. B. Sprachtandems) sinnvoll ergänzt werden.

Ziemlich weitgehend sind die Vorschläge beim Thema Bildung.
Den Anfang macht eine radikale Kritik am föderalistischen Bildungssystem:
„Das aktuelle föderalistische Bildungssystem ist ineffizient und unflexibel.“
Das Aufheben der Länderzuständigkeit für Fragen der Bildung und das Umwandeln in eine Bundeszuständigkeit werden gefordert.

Hart ist auch die Kritik am Abitur in 8 Jahren und an den Kurzstudiengängen:
„Das bisherige Bildungssystem konzentriert sich darauf, möglichst viel Stoff in wenig Zeit zu vermitteln. Dieser Stoff wird von den Lernenden nicht verinnerlicht. Bildung braucht Zeit. Dies gilt sowohl für Schul- als auch für Hochschulbildung. G8, Bachelor und Master sind zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen.“

Durchaus vernünftig ist der Vorschlag:
Lernende sollen lernen, wie man sich aktiv Wissen am besten aneignet. Ein solides Allgemeinwissen ist notwendig. Spezialwissen (Inselwissen) jedoch sollte der berufs- bzw. universitären Ausbildung vorbehalten werden.

Und für den heutigen Zeitgeist geradezu radikal ist die Formulierung:
„Chancengleichheit bedeutet staatlich voll finanzierte Bildung. Legen wir los!“

Interessant ist, dass beim letzten der ausgewählten Themenbereiche, nämlich bei der Demografie, nicht etwa, der auch vom Initiator Bertelsmann sonst übliche gepflegte Alarmismus vorherrscht. Verlängerung der Lebensarbeitszeit, private Vorsorge oder Abbau von Sozialleistungen kommen nicht vor; im Gegenteil, es ist das von einer „solidarischen und gerechten Finanzierung“ die Rede.

Statt in die übliche Panikmache einzustimmen, wird beim Thema Demografie auf eine bessere soziale Absicherung der Arbeitnehmer abgestellt und ansonsten eigentlich nur der gesamte Katalog an familienpolitischen Vorschläge noch einmal wiederholt, allerdings mit der begrenzten Sichtweise, dass „nur über diesen Weg eine stabile und zukunftsfähige demografische Entwicklung gesichert werden“ könne. Man hofft also durch eine kinderfreundlichere Gesellschaft „das demografische Erbe der letzten 40 Jahre“ wieder aufbessern zu können.

Es ist angesichts dieser Vorschläge, die doch deutlich von der herrschenden Meinung des Parteien- und Medienkartells abweichen, nicht weiter erstaunlich, dass das „Bürgerforum 2011“ nur ein leises Echo in den Medien gefunden hat. Außer der pflichtgemäßen Entgegennahme der Empfehlungen durch den Bundespräsidenten als Mitinitiators des Forums und einem freundlichen Lob, dass „Bürgerforen die parlamentarische Demokratie sinnvoll ergänzen“ könnten, hat sich kaum ein Politiker dazu geäußert.

Ganz entgegen der Erfahrung, etwa wenn die Bertelsmann Stiftung das Thema demografischer Wandel, „soziale Marktwirtschaft“, ihre berüchtigten Wirtschafts-Benchmarks oder gar ihre Vorschläge im Bildungsbereich in die Öffentlichkeit lanciert, und wo regelmäßig ein großer Medienwirbel erzeugt wird, scheint dieses ziemlich aufwändige Projekt „Bürgerforum“ weder intensiv öffentlich promotet worden, noch – umgekehrt – auf großes mediales Interesse gestoßen zu sein. Und schon gar nicht hat sich die Politik dazu gestellt oder sich mit dem Vorschlägen beschäftigt.

Dafür lagen die „moderierten“ und durchaus moderaten Vorschläge der „Bürgerforen“ offenbar schon zu weit ab vom herrschenden Meinungsstrom und waren nicht einmal einer Diskussion würdig. Google verzeichnet gerade einmal 30 Nachrichtenartikel und dann gab es eben noch die Lokalberichterstattung über die ortsansässigen Foren. Einen Kommentar in den sog. Qualitätsmedien habe ich genauso wenig gefunden, wie eine Würdigung oder eine Stellungnahme eines Politikers – wenn man einmal von der pflichtgemäßen Rede des Bundespräsidenten absieht.

Mit dem – mit hohem Aufwand betriebenen – „Bürgerforum 2011“ sollte ja doch wohl im Sinne der Initiatoren der Eindruck erweckt werden sollte, als könnten sich Bürgerinnen und Bürger unmittelbar an der öffentlichen Meinungsbildung beteiligen. Es sollte doch beispielgebend dafür sein, wie sie ihre Vorschläge in die öffentliche und politische Debatte einbringen können.
Weil aber die Vorschläge wohl nicht ganz den Erwartungen entsprachen und vermutlich kritischer waren, als die Initiatoren selbst erwartet hatten, ist das Projekt an der Wahrnehmungsbarriere von Medien und Politik gescheitert. Das „Bürgerforum 2011“ ist insoweit zu einem Rohrkrepierer geworden, als es eine Bürgerbeteiligung zwar nur vorgespiegelt hat, aber gleichzeitig zu einem traurigen Beleg dafür geworden ist, wie wenig die Machtkartelle in der Politik und in den Medien von einer Bürgerbeteiligung und schon gar von kritischen Meinungen der Bürgerinnen und Bürger halten.

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