Herrschaft und Ökonomie

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Einige ergänzende Hinweise zu dem Beitrag von Albrecht Müller „Die gewollte Reservearmee an Arbeitslosen – Oder: Wie einige Linke das Geschäft der Monetaristen und Rechten betreiben, indem sie die Verantwortung der Krise dem Kapitalismus zuschieben“. Von Christian Girschner

Kürzlich hatte Albrecht Müller einen interessanten Hinweis über den herrschaftsabsichernden Hintergrund der neoliberalen Wirtschaftspolitik gegeben: „Der ehemalige Notenbanker Sir Alan Budd (…) beschrieb die Geldpolitik der Bank of England unter Margret Thatcher so: „Viele haben nie (…) geglaubt, dass man mit Monetarismus die Inflation bekämpfen kann. Allerdings erkannten sie, dass [der Monetarismus] sehr hilfreich dabei sein kann, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Und die Erhöhung der Arbeitslosigkeit war mehr als wünschenswert, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen. […] Hier wurde – in marxistischer Terminologie ausgedrückt – eine Krise des Kapitalismus herbeigeführt, die die industrielle Reservearmee wiederherstellte, und die es den Kapitalisten fortan erlaubte, hohe Profite zu realisieren.“ (The New Statesman, 13. Januar 2003, S. 21)“ (Müller 2011)

Das Zitat von A. Budd über die politisch bewusst herbeigeführte Schwächung der Arbeiterklasse durch eine neoliberale Geldpolitik bestätigt eine frühere Feststellung des polnischen Ökonomen und Wegbereiter des Keynesianismus Michal Kalecki über den „Klasseninstinkt“ der Kapitalisten. Kalecki wies darauf hin, dass die Kapitalisten grundsätzlich aus einem herrschaftsabsichernden Interesse gegen eine staatliche Politik der Vollbeschäftigung eingestellt seien, auch wenn sich dadurch ihre Rendite verschlechtern sollte. Denn Vollbeschäftigung untergräbt in den Augen der Kapitaleigentümer die Disziplin und Unterwürfigkeit der arbeitenden Klasse, verursacht „unnötige“ gesellschaftspolitische Konflikte: Die „permanente Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung“ würde nämlich „soziale und politische Veränderungen auslösen, die den Widerstand der wirtschaftlich Mächtigen erneut anstacheln würden. In einem Zustand permanenter Vollbeschäftigung nämlich würde die Kündigung aufhören, als Disziplinierungsmaßnahme eine Rolle zu spielen. Die soziale Position des Chefs würde unterminiert, und gleichzeitig würden in der Arbeiterklasse Selbstsicherheit und Klassenbewusstsein wachsen. Streiks zur Erreichung höherer Löhne und verbesserter Arbeitsbedingungen würden politische Spannungen schaffen.“

Obwohl unter diesen Bedingungen auch die „Profite höher sein“ würden, „als sie es im „Laisser-faire“ durchschnittlich sind“, bewerten die „Mächtigen der Wirtschaft „Arbeitsdisziplin“ und „politische Stabilität“ höher als die Profite. Der Klasseninstinkt sagt ihnen, dass permanente Vollbeschäftigung von ihrem Standpunkt aus „ungesund“ ist und dass Arbeitslosigkeit einen integralen Bestandteil der normalen kapitalistischen Wirtschaft darstellt.“ (Kalecki 1943/1971: Politische Aspekte der Vollbeschäftigung, in: M. Kalecki 1987: Krise und Prosperität im Kapitalismus. Ausgewählte Essays 1933-1971, Marburg, S. 237f.)

Allerdings schließt dies nach Ansicht von Kalecki nicht aus, dass in einer schweren Wirtschaftskrise die Machtelite aus gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Stabilitätsüberlegungen vorübergehend auf kreditfinanzierte Staatsprogramme zurückgreift. Damit nahm Kalecki vorweg, was wir auch in der Weltwirtschaftskrise 2008/9 wirtschaftspolitisch erlebten: Auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise wurden entgegen der bis dahin verfochtenen neoliberalen Doktrin der freien Märkte rasch kreditfinanzierte Konjunktur- und Bankenrettungsprogramme aufgelegt, anschließend folgte die Rückkehr zur neoliberalen Wirtschafts- bzw. Autoritätspolitik. „Es sieht zur Zeit aus, als würden die Mächtigen der Wirtschaft und ihre Experten – oder zumindest ein Teil von ihnen – wohl oder übel bereit sein, kreditfinanzierte Staatsausgaben als ein Instrument zur Linderung von Depressionen zu akzeptieren. Die Schaffung von Beschäftigung durch die Subventionierung des privaten Konsums und die permanente Aufrechterhaltung der Vollbeschäftigung scheinen sie jedoch einhellig abzulehnen. (…) In der Depression werden – entweder aufgrund des Drucks der Massen oder auch ohne ihn – kreditfinanzierte staatliche Investitionen getätigt, um einer Arbeitslosigkeit großen Ausmaßes vorzubeugen. Heftigen Widerstand der wirtschaftlich Mächtigen wird es jedoch wahrscheinlich dann geben, wenn es zu Versuchen kommt, diese Methode auch zur Aufrechterhaltung des hohen Beschäftigungsniveaus einzusetzen, das während des (der Depression folgenden) Booms erreicht worden ist. Es wurde bereits dargelegt, dass permanente Vollbeschäftigung überhaupt nicht nach ihrem Geschmack ist. Die Arbeiter würden „außer Kontrolle geraten“ und die Industriekapitäne würden darauf brennen, ihnen „eine Lektion zu erteilen“.“ (ebd., S. 241)

Sowohl die oben zitierte Aussage von Sir Alan Budd über den verheimlichten politischen Zweck der neoliberalen Geldpolitik als auch die Ausführungen von Kalecki offenbaren, dass es die herrschaftssichernde Strategie der „Mächtigen der Wirtschaft“ ist, die Arbeitslosigkeit als ein soziales und politisches Disziplinierungsinstrument gegenüber den Lohnabhängigen einzusetzen. Aber gerade diese Erkenntnis, so bemängelte Müller, wird derweil von linker Seite häufig ignoriert, weil diese nicht in das verbreitete „Schema linker Theorien von der Krise des Kapitalismus passt“:
„Natürlich geben die Monetaristen und neoliberalen Erzeuger einer Reservearmee von Arbeitslosen nicht zu, dass sie mit Absicht darauf hingearbeitet haben. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, dass sie auch von linker Seite von der Verantwortung für die Schwächung der Arbeitnehmerschaft, für die hohe Arbeitslosigkeit und einen großen Niedriglohnsektor freigesprochen werden. Erstaunlich ist das nur dann nicht, wenn man bedenkt, dass die in den siebziger Jahren beginnende hohe Arbeitslosigkeit und gleichzeitig wachsende Verschuldung des Staates in das Schema linker Theorien von der Krise des Kapitalismus passt. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die von den Monetaristen/Neoliberalen willentlich herbeigeführte hohe Arbeitslosigkeit, die auf Schwächung der Arbeiterklasse bewusst angelegt war und ist, wird von den politischen Gegnern der Monetaristen und neoliberalen Kräfte als Zeichen des Scheiterns des Systems des Kapitalismus betrachtet und deshalb als solches trotz des damit geschaffenen Elends hingenommen. Der gegebene Freiheitsgrad zum politischen und wirtschaftspolitischen Gegensteuern wird und muss auch von linker Seite geleugnet werden. Deshalb muss man leider feststellen, dass diese Linke objektiv betrachtet den neoliberalen Kräften in die Hände spielt.“ (Müller, ebd.; Herv. im Original)

Die von A. Müller gemachte Feststellung, dass von linker Seite die gezielt eingesetzte Förderung oder Beibehaltung einer hohen Arbeitslosigkeit als Disziplinierungsmittel der Lohnabhängigen durch die Machtelite gar nicht zur Kenntnis genommen wird, kann beispielhaft anhand von zwei relativ bekannten linken Autoren belegt werden:

„Aufgrund der weitreichenden Umwälzungen,“ so erläuterte der französische Sozialphilosoph André Gorz Anfang der 80er Jahre seine ökonomische Krisenauffassung, „die sie mit sich bringt, lässt sich die gegenwärtige Krise mit der ersten industriellen Revolution vergleichen: unsere Gesellschaften zerfallen, unsere Grundordnung stirbt und droht, uns unter ihren leblosen Apparaten zu begraben, um den eigenen Tod zu überleben. Die Schwerkraft des Realen zieht uns zu einem halb toten Kapitalismus, in dem Produktion und soziale Kontrolle, Produktionsapparat und Herrschaftsapparat verschmelzen und in dem eine normalisierende Technokratie fortfährt, ein bereits erloschenes System im Namen von Werten zu verherrlichen, die schon seit langem keine Geltung mehr haben. (…) Die mikroelektronische Revolution drängt uns zu alledem; aber die Trägheit unserer geistigen Kategorien verschleiern uns: wir warten immer noch kläglich darauf, dass die Zukunft uns die Vergangenheit wiederbringt, dass die „Wende“ oder der wirtschaftliche „Aufschwung“ für Vollbeschäftigung sorgen; dass der Kapitalismus sich von seinem Totenbett erhebt und die Automatisierung mehr Arbeit schafft, als sie beseitigt. (…) Kurz, die Linke blieb auf keynesianische Schemata fixiert, während der Kapitalismus bereits in eine neue lange Krise eintrat: alle Triebfedern des Wachstums waren abgenutzt.“ (A. Gorz 1983: Wege ins Paradies; Berlin, S.8 u. 25)

Zwei Jahrzehnte später wiederholen sich die eben zitierten Ansichten über den langsamen Niedergang des Kapitalismus bei Robert Kurz, wenn er ergänzt: Seit den 80er Jahren schlug die Vollbeschäftigung in „eine strukturelle Massenarbeitslosigkeit um. Durch die neuen Potenziale der Rationalisierung erhöhte sich der Sockel dieser Arbeitslosigkeit von Zyklus zu Zyklus. Rapider Abbau der Arbeitsplätze und wachsende Unterbeschäftigung bilden aber nur die Kehrseite einer mangelnden Akkumulation des Kapitals, von der letztlich auch der Welfare-State abhängt. (…) Die rot-grüne Regierung entpuppte sich angesichts immer neuer Rekorde bei den Arbeitslosenzahlen und unter dem Druck der Globalisierung geradezu als Avantgarde verschärfter und tiefer Einschnitte in das System sozialer Sicherung.“ (Kurz 2005: Das Weltkapital; Berlin, S. 305 u. 308) Angesichts der Ausführungen sowohl über den bevorstehenden Niedergang der kapitalistischen Ökonomie als auch über den „Druck der Globalisierung“, weshalb der Staat nur noch als „Getriebener statt Treiber“ gegenüber dem Kapital agiert (ebd., 135), darf es einen dann nicht mehr verwundern, wenn R. Kurz Albrecht Müller als „linkskeynesianische(n) Sozialdemokrat(en) (…), ein Fossil der Willy-Brandt-Ära“, bezeichnet (ebd., 369). Mit seinem „Schwarzbuch des Kapitalismus“ kam R. Kurz 1999 sogar in der „bürgerlichen“ Wochenzeitung „Die Zeit“ groß heraus. Auf Grund der ansonsten festzustellenden publizistischen Marginalisierung des gesellschaftskritischen bzw. marxistischen Denkens ist dies ein recht ungewöhnlicher Vorgang. Ein positiv eingenommener Rezensent des „Schwarzbuches“ konnte dann in der „Zeit“ über den schon eingetretenen wie unaufhaltsamen Verfall der kapitalistischen Ökonomie schreiben: „Seitdem der fordistische Boom (…) seinen letzten Seufzer getan hat, also seit Mitte der siebziger Jahre, ist deutlich geworden, dass das alte Erhardsche Versprechen „Wohlstand für alle“ peu á peu kassiert wird. Von „Vollbeschäftigung“ kann schon lange keine Rede mehr sein; vielmehr sind Unter- und Nichtbeschäftigung für immer größere Bevölkerungsteile an der Tagesordnung und werden es im 21. Jahrhundert noch mehr sein. (…) Mit der dritten industriellen, der mikroelektronischen Revolution, die gemäß betriebswirtschaftlichen Rentabilitätsprinzipien ganze Arbeitspopulationen „freisetzt“ und zu „unnützen Essern“ degradiert, gelangt der Kapitalismus zusehends an eine historische Schranke – (…)“ (Schwarzbuch Kapitalismus. Robert Kurz versenkt unser Wirtschaftssystem. Hat er Recht? Eine Kontroverse.)

Rückblickend erscheinen diese Sätze als vorweggenommene linke Legitimation für die bald darauf einsetzende neoliberale Politik unter Kanzler Schröder, also Steuersenkungen für Konzerne und Reiche, Agenda 2010, Hartz-IV. Schließlich könne man, so hieß es bald in allen Medien unisono, keine „Politik gegen die Wirtschaft“, also gegen die Finanzmärkte und Konzerne machen. Für den französischen Soziologen Pierre Bourdieu war es „kein Zufall, dass viele Leute gerade aus meiner Generation ohne große Mühe von einem marxistischen zu einem neoliberalen Fatalismus hinübergewechselt sind. In beiden Fällen hat der Ökonomismus dadurch, dass er der Politik die Bedeutung abspricht, ein Schwinden des Verantwortungsgefühls und eine Demobilisierung zur Folge, denn eine ganze Reihe von Zielen – wie maximales Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität – werden einfach vorgegeben und stehen nicht mehr zur Diskussion.“ (Bourdieu 2004: Gegenfeuer; Konstanz, S.69)

Soweit leistete eine in den 80er Jahren entwickelte marxistische Krisentheorie ihren Beitrag zur schicksalsergebenden Aufgabe einer linken bzw. keynesianisch ausgerichteten Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik, die deshalb auch schon mal in einem „bildungsbürgerlichen“ Blatt zustimmend aufgegriffen und popularisiert werden durfte.

Die in dieser popularisierten marxistischen Krisentheorie vorgenommene Ausblendung der disziplinierenden Wirkung der Arbeitslosigkeit belegt, dass man den herrschaftlichen „Klasseninstinkt“ der Kapitalisten gegenüber der Arbeiterklasse bzw. das politische Kräfteverhältnis völlig ignoriert und als unerheblich für die ökonomische Entwicklung betrachtet, denn die kapitalistische Ökonomie folgt in dieser Weltdeutung allein ihren eigenen unerbittlichen Gesetzmäßigkeiten. Entsprechend fällt es diesen linken und herrschaftsvergessenen Krisentheoretikern auch nicht auf, dass eine hohe Arbeitslosigkeit nicht immer bzw. notwendigerweise mit einer mangelnden Profitabilität des Kapitals gleichgesetzt werden darf.

Wie deutlich wurde, nimmt die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie für das hiesige linke Denken immer noch eine bedeutende Stellung ein. Damit ist zugleich die entscheidende Quelle für die von vielen linken Theorien geteilte Auffassung benannt, wonach das politische oder gesellschaftliche Kräfteverhältnis der kapitalistischen Ökonomie stets „äußerlich“ bleibt.

Diese Auffassung ist vor allem ein Erbe des ökonomisch-quantitativen Modelldenkens ausgehend von David Ricardo, welches auch in der heutigen Wirtschaftswissenschaft weiterlebt. Demzufolge ist die kapitalistische Ökonomie ein in sich abgeschlossenes Universum des Arbeitens, weshalb das „ökonomische System“ nur seinen eigenen unerbittlichen ökonomischen Marktgesetzmäßigkeiten folgt. Während diese Gesetzmäßigkeiten bis heute in der Wirtschaftswissenschaft aus einem überhistorisch geltenden Marktmodell des Wirtschaftens abgeleitet werden, verwarf Marx dieses Denken als unhistorisch. Denn die kapitalistische Ökonomie ist für ihn vielmehr eine historisch und spezifisch soziale Form des Arbeitens, die jedoch gesellschaftlich objektive, quasi naturwüchsige und damit unerbittliche Gesetzmäßigkeiten hervorbringt, die die Menschen unbewusst exekutieren müssen. Damit übernahm Marx jedoch das von Ricardo aus politischen Gründen entwickelte Ökonomiemodell, welches von allen gesellschaftlichen oder sozialen, kulturellen und politischen Beziehungen separiert ist. Diese quasi für sich seiende Ökonomie konstituiert daher eigene objektive Gesetzmäßigkeiten, die die ökonomische Entwicklung allein bestimmen.

Entsprechend führt beispielsweise der marxistische Theoretiker Paul Mattick aus, dass das „Marxsche Modell der Kapitalproduktion (…) weder die nationale noch die Weltwirtschaft“ repräsentiert, sondern es stellt „ein imaginäres System des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit dar.“ (Mattick 1974: Marx und Keynes; Frankfurt/M., S. 288) Deshalb sei die Marxsche „Werttheorie weitgehend axiomatisch und (…) basiert (…) auf hypothetischen Annahmen“ (Mattick 1984: Wert und Kapital; in: Prokla Nr. 57, S. 19). In seinen Beiträgen zur ökonomischen Entwicklung hält Mattick trotzdem an diesem Marxschen Modell des Kapitalismus fest. Entsprechend geht er davon aus, dass alle kulturellen, sozialen und politischen Beziehungen die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie nur vorübergehend hemmen, hinauszögern oder beschleunigen, nicht aber die von Marx aufgedeckten kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzen bzw. verändern können.

Dieses ökonomisch-quantitative Modelldenken führt bei Analysen der wirtschaftlichen Entwicklung dann dazu, dass der historische Verlauf der Ökonomie stets unter dieses Ökonomiemodell subsumiert werden muss. Empirische Besonderheiten und Ereignisse, die dem hypothetischen Modell widersprechen, werden deshalb in der Regel zu unbedeutende Oberflächenphänomene erklärt. Mit diesem Kniff wird immer wieder versucht, die Plausibilität des Marxschen Ökonomiemodells vor der komplexen und widersprüchlichen Realität zu retten. Zwar ist es richtig, so versucht Mattick dieses Problem des Verhältnisses zwischen Theoriemodell und Empirie zu umschiffen, dass der „Weltkapitalismus (…) nicht das geschlossene System der Marx`schen Theorie“ ist, jedoch können die daraus „entwickelten Schlussfolgerungen (…) wie ein „roter Faden“ als Orientierungshilfe in der ansonsten fast undurchschaubaren und widersprüchlichen Entwicklung dienen, in deren Verlauf dieselben ökonomischen Gesetze sowohl einen Aufstieg als auch einen Verfall des Systems implizieren können. Marx abstraktes Akkumulationsmodell basiert jedoch auf der Annahme, dass die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse des Kapitalismus so bleiben, wie sie von Anbeginn waren, und zwar trotz aller möglicher Modifikationen der Marktstruktur.“ Darüber hinaus erklärt das Marxsche Kapitalismusmodell für Mattick nicht nur den historischen Verlauf der Kapitals, sondern auch sein historisches Ende durch die unausweichlich kommende sozialistische Revolution: „Marx erwartete und prophezeite das Ende des Kapitalismus nicht wegen einer sinkenden Akkumulationsrate und wegen der fallenden Profitrate, sondern weil diese der Kapitalreproduktion immanenten Tendenzen notwendig soziale Bedingungen hervorbringen mussten, die zunehmend unerträglicher für immer größere Schichten der arbeitenden Bevölkerung werden würden und so die objektiven Bedingungen schaffen, aus denen die subjektive Bereitschaft für einen sozialen Wandel entstehen könnte.“ (ebd., 21)

Gerade diese Marxsche „Lehre“ hatte in der Geschichte des Marxismus zahlreiche Re-Interpretationen und Kontroversen hervorgerufen, um die marxistische (Krisen-)Theorie angesichts der ausbleibenden Revolution wieder mit der „anhaltenden Lebensfähigkeit der bestehenden Gesellschaft in Einklang zu bringen“ (Marcuse). Denn entgegen der von Marx prognostizierten Entwicklung erholte sich die kapitalistische Ökonomie immer wieder von ihren Krisen, ja sie expandierte anschließend stetig weiter und wurde immer mächtiger. Zudem erhöhte sich der Lebensstandard der Arbeiterklasse in den Industriestaaten, während sich das vorausgesagte revolutionäre Arbeiterbewusstsein nicht mehr so recht einstellen wollte (H. Marcuse 1964: Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus; Neuwied u. Berlin, S. 45f.).

Auf der Basis dieses in linken Theorien vorzufindenden ökonomischen Modelldenkens von Marx, welches mit einem „Überlegenheitsfimmel“ und „Wirtschaftsfatalismus“ (Rudolf Rocker) einhergeht, da man ja nach eigenem Anspruch nicht einigen oberflächlichen empirischen Ereignissen aufsitzt, sondern die ökonomische Entwicklung durch die objektive Gesetzlichkeit des Kapitals begründet, erklärt sich, dass von linker Seite die neoliberale Politik von der Verantwortung für eine hohe Arbeitslosigkeit und einen wachsenden Niedriglohnsektor weitgehend frei gesprochen wird, weil es so gut in „das Schema linker Theorien von der Krise des Kapitalismus passt“ (Müller).

Jedoch bricht das in linken Theorien übernommene Marxsche Modell der kapitalistischen Ökonomie in sich zusammen, wenn man sich eingestehen würde, dass die kapitalistische Ökonomie nicht als ein „autonomes System konstruierbar“ ist, „dessen Funktionieren eigenen Gesetzen gehorchte, die von den übrigen gesellschaftlichen Beziehungen unabhängig wären.“ (C. Castoriadis 1990: Gesellschaft als imaginäre Institution; Frankfurt/M., S. 32) Aber die linke Theoriegemeinde stemmt sich gegen diese Einsicht und hält an dem alten Marxschen Ökonomiemodell fest. Soweit ignoriert man in der marxistischen Theorie als „solche das Handeln der gesellschaftlichen Klassen. Sie „ignoriert“ die Wirkung der Klassenkämpfe auf die Verteilung des Sozialprodukts – und damit zwangsläufig auch auf alle anderen Aspekte des Funktionierens der Ökonomie“ (ebd., 30) Folglich wird damit „ignoriert“, dass der „innere Motor“ der kapitalistischen Ökonomie durch die politischen Kämpfe um die Länge des Arbeitstages, Lohnhöhe, Arbeitsintensität, Arbeitsbedingungen, Sozialleistungen und damit von den politischen, sozialen, kulturellen Kämpfen (und Fesseln) in der Gesellschaft determiniert wird. Die von Marx einst postulierten ökonomisch-quantitativen Gesetzmäßigkeiten des Kapitals erweisen sich in dieser Hinsicht vielmehr als vom Klassenkampf bzw. vom politischen Kräfteverhältnis abhängige ökonomische Zwänge und Tendenzen der kapitalistischen Ökonomie.

Mit dieser Einsicht wird man nicht nur der komplexen Wirklichkeit und Widersprüchlichkeit der kapitalistischen Ökonomie besser gerecht, sondern man überwindet zugleich das an der Wirklichkeit immer äußerlich herangetragene ökonomische Modelldenken von Marx. Aber leider hat sich diese Erkenntnis noch nicht überall herumgesprochen. Dies liegt vermutlich daran – wie Noam Chomsky einmal ausführte -, dass der „Marxismus in die Geschichte der organisierten Religionen (gehört). Man könnte überhaupt die Faustregel aufstellen: Ist ein Begriffssystem nach einem Menschen benannt, dann unterliegt es keinem rationalen Diskurs, sondern ist eben Religion. Kein Physiker bezeichnet sich als Einsteinianer. (…) In Wirklichkeit gibt es eben Individuen, die zur rechten Zeit am rechten Ort waren oder vielleicht zufällig die richtigen Gehirnwellen hatten, und die dann etwas Interessantes unternommen haben. Aber ich kenne keinen, dem nicht auch irgendwelche Fehler unterlaufen wären und dessen Resultate nicht umgehend von anderen verbessert worden wären. Wer sich also als Marxist oder Freudianer oder so etwas sieht, der betet nur vor irgendeinem Altar.“ (N. Chomsky 1994: Noam Chomsky – Wege zur intellektuellen Selbstverteidigung; Grafenau , S. 219, herausgegeben von M. Achbar)

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