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Titel: Hinweise des Tages

Datum: 13. Juli 2012 um 8:43 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
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Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “Mehr” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (MB/WL)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Schlamassel in Spanien
  2. Griechenland: Seemacht ohne Steuer
  3. Banken, die unheimlichen Schattenwesen
  4. Steuerschwindel mit Tarnversicherungen
  5. Schavan wirbt um spanische Auszubildende
  6. Arbeitnehmerkammer Bremen: Arbeitslosenversicherung verliert an Bedeutung
  7. Bundessozialgericht: Neue Hartz-IV-Sätze sind verfassungsgemäß
  8. Nur 3000 Schlecker-Frauen haben wieder Arbeit
  9. Jobcenter Berlin 2011: Nahezu 100.000 Sanktionen und 75 Millionen Euro an Bund zurück
  10. Hilfe für Hartz IV-Empfänger
  11. Rentenkasse: Her mit dem Geld, das uns zusteht!
  12. 2011: Zahl der Inobhutnahmen durch Jugendämter weiter gestiegen
  13. Jürgen Rüttgers: Sieben Schritte zu einer lebenswerteren Gesellschaft
  14. Lobbyismus
  15. Gazprom – das unheimliche Imperium
  16. Gerichtshof kippt Saatgut-Monopol der Konzerne
  17. Frankreich hat Probleme mit nuklearem Abfall
  18. Die Piraten arbeiten längst daran, die Grünen zu beerben
  19. Demokratie, oder: Die geraubte Braut
  20. Le Monde diplomatique – Juliausgabe

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Schlamassel in Spanien
    1. Es war wieder eine lange Nacht
      Die Ergebnisse sind mager, die die Euro-Finanzminister nach einer langen Nacht verkünden konnten.
      Quelle: TAZ

      Anmerkung Orlando Pascheit: Das heißt u.a. dass es der spanischen Regierungen nicht gelungen ist, die Ausgaben zur Bankenrettung aus dem Staatshaushalt herauszuhalten, was sowie so nur Augenwischerei gewesen wäre. Was im Nachhinein wirklich erstaunt, ist, dass Europa anscheinend von der spanischen Bankenkrise überrascht wurde – oder so tut. Spätestens die im Desaster endende Fusion der Sparkassen Caja Madrid und Bancaja mit fünf kleineren Geldinstituten zu einer neuen Bank (Bankia) in 2011 zeigt wie fahrlässig die spanische Regierung bzw. wie unaufmerksam die EU das Platzen der Immobilienblase verfolgte. Die Summe der ausstehenden Immobilienkredite beläuft sich mittlerweile auf 320 Milliarden Euro, davon sind 180 Milliarden im Verzug. Die andere Seite des von Ulrike Herrmann benannten „Sparparadox“ ist die im Zuge des Wirtschaftseinbruchs weitere Steigerung der Arbeitslosenzahl, d. h. noch mehr Kredite werden notleidend, die Banken geraten in noch größere Schwierigkeiten. Auch das neue Austeritätsprogramm (s.u.) zeichnet sich dadurch aus, abgesehen davon dass es absolut kontraproduktiv ist, dass Vermögende und höhere Einkommen in diesem Sparpaket nicht vorkommen.

    2. »Raus aus dem Schlamassel«?
      Der konservative Regierungschef in Spanien Mariano Rajoy greift auf die abgedroschene Politikformel zurück: zu dem von ihm trotz anhaltender und massiver werdender Proteste verkündeten Kürzungsprogramm gebe es »keine Alternative«…
      In den ersten Monaten verabschiedete die konservative Regierung einen Haushalt, der Kürzungen von 27 Mrd. Euro vorsieht und schob kurz danach ein weiteres Sparpaket von 10 Mrd. Euro nach. Mit dieser kombinierten Rosskur sollte die Zielvorgabe der EU eingehalten werden: Senkung der Neuverschuldung von 8,5% des BIP auf 5,3% in diesem Jahr, davon sollten maximal 3,5% auf den Zentralstaat und 1,8% auf die Regionen und andere staatliche Einrichtungen entfallen…
      Wird die Rosskur zur Punktlandung bei der Quote des Staatsdefizits führen? Die meisten Experten sind skeptisch. In diesem Jahr erwartet Spanien einen Rückgang seiner Wirtschaftsleistung um knapp 2%, und steckt damit zum zweiten Mal seit 2009 in einer Rezession. »Das erste Quartal dürfte genauso ausgefallen sein wie das letzte Quartal des vergangenen Jahres«, sagt Wirtschaftsminister Luis de Guindos. Zugleich nimmt die Arbeitslosigkeit rasant zu. Das Land hat mit 22,9% bereits die höchste Arbeitslosenquote in der Europäischen Union (EU). Bis zum Jahresende rechnet die Regierung mit einer Quote von 24,3% und einem Anstieg der Erwerbslosen auf fast 6 Millionen Menschen…
      Quelle: Sozialismus Aktuell
    3. Krawalle in Spanien bei Bergarbeiterprotesten
      Quelle: Spiegel Online

      Anmerkung WL: Die Schließung von Minen, die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 18 auf 21 Prozent, die Erhöhung der Energiesteuer, Kürzungen der Gehälter im Öffentlichen Dienst, Senkung der Arbeitslosenhilfe, Einsparungen von 65 Milliarden Euro in den nächsten zweieinhalb Jahren, das alles und noch viel mehr, entspricht der „marktkonformen Demokratie“. Der Protest dagegen ist natürlich „Krawall“.
      Schauen Sie einmal selbst, wer hier Krawall macht:

  2. Griechenland: Seemacht ohne Steuer
    Der Krisenstaat Griechenland ist fast pleite. Dennoch zahlt die erfolgreichste Branche des Landes, die Reedereien, praktisch keine Abgaben – wie auch anderswo.
    Quelle: TAZ
  3. Banken, die unheimlichen Schattenwesen
    1. Im Schatten der Kontrollen
      Weil Schattenbanken keiner offiziellen Bankenaufsicht unterliegen, weiß bis heute niemand genau, wie groß das Volumen ist. Der internationale Finanzstabilitätsrat (FSB) schätzt, dass ihr Volumen bei mehr als 46 Billionen Euro liegt. Das sind knapp 60 Billionen Dollar und macht damit fast ein Drittel aller weltweit gehandelten Finanzprodukte aus. Praktisch alle Experten fürchten, dass dieses Volumen wächst und zwar umso mehr, je stärker das Geschäft der normalen Banken reguliert wird…
      Niemand weiß, wie groß das Risiko ist, dass die hier verwalteten Kredite platzen.
      Seit Beginn der Finanzkrise vor vier Jahren ist klar, dass die in den Schattenbanken angehäuften Risiken im Krisenfall die offiziellen Banken in Gefahr bringt und auch dieser Bereich reguliert werden muss. Passiert ist bislang wenig – in Europa so gut wie nichts…
      Solange die Banken zwar immer stärker reguliert werden, der wachsende Bereich der Schattenbanken aber weiter wuchern kann, solange droht das in Schattenbanken versteckte Risiko immer unkalkulierbarer und gefährlicher zu werden. Vorschläge, diese riskanten Schlupflöcher zu stopfen, liegen seit Jahren vor. Erfolgreich kann das natürlich nur sein, wenn es weltweit erfolgt. Und da haben unterschiedlichste Interessen bislang jeglichen Fortschritt verhindert.
      Quelle: Das Erste plusminus

      Anmerkung WL: Verständliche Erklärung des Schattenbankwesens. Interessant auch die Aktivitäten der Deutschen Bank auf diesem Feld.

    2. Absprachen, Manipulationen, Betrug
      Die Großbanken der Welt sind gleich reihenweise in kriminelle Machenschaften verwickelt. Mit Bußen alleine ist das Problem nicht zu lösen. Die verantwortlichen ManagerInnen müssen vor Gericht gestellt werden. Und es braucht stärkere staatliche Aufsichten.
      Quelle: WOZ
    3. Transparency International: Banken viel zu zugeknöpft
      Bei der Frage nach Einsichtsmöglichkeiten in die Geschäfte der 105 weltweit größten börsennotierten Unternehmen schnitt die Geldbranche besonders schlecht ab. “Die Studie belegt erneut, dass wir mehr Regulierung und verbindliche Berichtsstandards für den Finanzsektor brauchen”, sagte die deutsche TI-Chefin Edda Müller am Dienstag in Berlin. Man könne nicht Steuergelder zur eigenen Rettung kassieren und sich gleichzeitig weigern, die selbst gezahlten Steuern zu veröffentlichen. Die Organisation sieht einen Zusammenhang zwischen der Transparenz eines Unternehmens und seiner Korruptionsanfälligkeit. Die Angaben zu Gewinnen und Steuerzahlungen in armen Ländern mit fragwürdigen Regierungsstrukturen seien oft zu dürftig, es gebe zudem zu wenig Angaben über Antikorruptionsprogramme, meint TI. Mehr als die Hälfte der untersuchten Firmen mit einem Börsenwert von insgesamt 11 Billionen Dollar hätten keine Aussagen darüber gemacht, ob sie Gelder an Parteien und Politiker zahlten. Vor allem der Finanzsektor gab sich zugeknöpft: Von zehn möglichen Transparenzpunkten erhielten die 24 untersuchten Banken und Versicherungen im Schnitt 4,2 Punkte. Deutsche Konzerne rangierten im oberen Drittel der Liste. Mit einem Wert von 6,7 landete BASF auf Platz sieben. Die Telekom belegte Platz 29, der Energiekonzern Eon Platz 30. Für Edda Müller dennoch kein befriedigendes Ergebnis: “Keines der sieben Unternehmen aus Deutschland veröffentlicht, wie viel Steuern ihre Töchter in den jeweiligen Ländern zahlen, in denen sie tätig sind.” Nur so könne festgestellt werden, ob Regierungen geschmiert oder Steuern umgangen werden.
      Quelle 1: taz
      Quelle 2: Transparency International Pressemitteilung
      Quelle 3: Transparency International, der Bericht [PDF – 1.6 MB]

      Dazu:

    4. Transparency International: Eine falsche Auswahl
      …Die Bedeutung der Untersuchung wird durch das Fehlen wichtigster Akteure geschmälert. So fehlt der US-Investmentriese Morgan Stanley ebenso wie Europas Nummer eins, die Deutsche Bank – Großbanken, die vom Finanzstabilitätsrat der G-20-Staaten als “systemrelevant” eingestuft wurden. Ohnehin unterschätzt TI Banken, und Versicherungen sowie Fondsgesellschaften fehlen fast gänzlich. Stattdessen tauchen weltwirtschaftliche Leichtgewichte wie der Brausehersteller Pepsi-Cola oder die spanische Telefónica auf. Schuld an der empirischen Schieflage ist das Auswahlverfahren. TI suchte seine Hundertschaft nach deren Börsenkapitalisierung aus, gelistet von einem Nachrichtenmagazin (Forbes) für das Jahr 2010. Da herrschte aber tiefste Krise. Banken und Versicherungen galten an der Börse nichts. Es dürfte sich für TI lohnen, Stefano Battiston einzuladen. Dessen Forscherteam an der Eidgenössischen Technischen Hochschule filterte in der ersten globalen Netzwerkanalyse aus Millionen von Unternehmen die 147 maßgeblichen Akteure der Weltwirtschaft heraus. Spannend dabei: Die Top 50 sind fast exklusiv Banken, einige Versicherungen und Fonds. Da selbst für korrupte Manager der weiche Faktor “Image” zählt, wäre es zweckmäßig, wenn TI das nächste Mal die wirklich wichtigen Konzerne unter die Lupe nehmen würde.
      Quelle: taz
  4. Steuerschwindel mit Tarnversicherungen
    Tausende deutsche Credit-Suisse-Kunden müssen zittern: Durch eine Datenpanne erfuhr der Fiskus, dass sie Geld in Scheinversicherungen angelegt haben, um Steuern zu sparen. Wie funktionieren diese Finanzkonstrukte? Welche Folgen drohen den Kunden? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
    “Der Credit-Suisse-Skandal kommt für Finanzminister Schäuble zu einem ungünstigen Zeitpunkt”, sagt Steuergewerkschafter Eigenthaler. Schäuble ringt derzeit mit den SPD-geführten Bundesländern um die Bundesratsmehrheit für ein weitreichendes Steuerabkommen mit der Schweiz… Manche der jetzt ertappten Credit-Suisse-Kunden hätten nach der Ratifizierung des Abkommens möglicherweise die Chance, straffrei davonzukommen…
    Das Finanzministerium sieht jedoch nach Aussage eines Sprechers keine Notwendigkeit, das Abkommen mit der Schweiz nachzuverhandeln.
    Quelle: Spiegel
  5. Schavan wirbt um spanische Auszubildende
    In Spanien ist die Jugendarbeitslosigkeit dramatisch hoch, in Deutschland droht ein Fachkräftemangel. Das passt doch gut zusammen, dachte sich Bundesbildungsministerin Schavan – und warb um Auszubildende aus Südeuropa.
    „Damit können wir unseren Fachkräftebedarf ein bisschen besser decken“, sagte die CDU-Politikerin (Schvan) am Donnerstag im ZDF-„Morgenmagazin“.
    In Griechenland sagt mehr als jeder zweite Absolvent eines technischen Studiengangs, dass er sich nach einer Stelle im Ausland umsehen will. In Spanien und Portugal hegen jeweils mehr als 40 Prozent solche Pläne, in Italien sind es 37 Prozent. Das geht aus der größten Absolventenbefragung Europas hervor, die das Berliner Trendence-Institut jüngst veröffentlicht hat.
    Quelle: FAZ

    Anmerkung WL: Hier soll also die „Reservearmee“ an Fachkräften angeworben werden, damit man hierzulande die Ausbildungskosten einsparen und den Lohndruck auf die Arbeitnehmer erhöhen kann.
    Siehe zur beruflichen Situation der jungen Generation bei uns die IG Metall-Studie „Persönliche lange und Zukunftserwartungen der jungen Generation 2012“.
    Siehe über die zweifelhaften Zahlen zum Fachkräftemangel hier und hier.

  6. Arbeitnehmerkammer Bremen: Arbeitslosenversicherung verliert an Bedeutung
    Die Arbeitslosenversicherung verliert zunehmend an Bedeutung, wie eine aktuelle Untersuchung der Arbeitnehmerkammer Bremen zeigt. Demnach haben im Land Bremen nur noch 18 Prozent der Arbeitslosen überhaupt Anspruch auf Arbeitslosengeld I. Deutlich zugenommen hat insbesondere die Zahl derer, die aus einer Beschäftigung direkt ins Hartz-IV-System wechseln – dies trifft inzwischen auf mehr als ein Drittel derjenigen zu, die sich neu arbeitslos melden (35 Prozent).„Die Arbeitslosenversicherung ist längst nicht mehr das zentrale Netz sozialer Sicherung”, warnt Ingo Schierenbeck, Hauptgeschäftsführer der Arbeitnehmerkammer. „Immer mehr Beschäftigte zahlen Beiträge, ohne im Bedarfsfall auch Leistungen zu erhalten. Dies bedroht auf Dauer die Akzeptanz der Arbeitslosenversicherung.”
    Quelle 1: Pressemitteilung der Arbeitnehmerkammer Bremen
    Quelle 2: Studie „Der Bedeutungsverlust der Arbeitslosenversicherung [PDF – 1.3 MB]
  7. Bundessozialgericht: Neue Hartz-IV-Sätze sind verfassungsgemäß
    Das Bundessozialgericht (BSG) hält die Hartz-IV-Reform von 2011 für verfassungsgemäß. Bei der Neuberechnung der Regelleistungen habe die Bundesregierung weder gegen das Grundrecht auf Menschenwürde noch gegen das Sozialstaatsprinzip verstoßen, befanden die Kasseler Richter.
    “Die Höhe des Regelbedarfs für Alleinstehende ist nicht in verfassungswidriger Weise zu niedrig festgesetzt worden”, sagte der Senatsvorsitzende Peter Udsching.
    Die Hartz-IV-Sätze reichen dem Gericht zufolge für das Existenzminimum…
    Doch auch ohne eine Vorlage aus Kassel wird sich das Bundesverfassungsgericht erneut mit Hartz IV befassen müssen. Denn das Sozialgericht (SG) Berlin hält die aktuellen Sätze, im Gegensatz zum BSG, immer noch für unzureichend und nicht transparent. Der Betrag für einen Alleinstehenden sei um 36 Euro pro Monat zu niedrig. Es hatte daher schon im April einen Fall nach Karlsruhe weitergereicht.
    Quelle: SZ

    Anmerkung WL: Nun müssen die Hartz-IV-Empfänger also wieder auf Karlsruhe warten und das kann dauern, dabei geht es um Millionen von Menschen.

    Dazu passt:

    Oberster Hartz-IV-Richter: »Wer kochen kann, dem reichen 130 Euro«
    Bundessozialrichter Peter Udsching, Vorsitzender des Hartz-IV-Senats, über höhere Regelsätze für Kinder, einen allgemeinen Mindestlohn und warum 130 Euro im Monat genügen, um sich vernünftig zu ernähren.
    Quelle: Guter Rat

  8. Nur 3000 Schlecker-Frauen haben wieder Arbeit
    Mehr als 15.000 Mitarbeiter der Drogeriekette haben sich bislang arbeitslos gemeldet. Inzwischen ist klar: Sie haben kaum Chancen auf neue Jobs im Handel.
    Die Vermittlung der entlassenen Schlecker-Frauen verläuft schleppend. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit sind von den 15 161 arbeitslos gemeldeten ehemaligen Mitarbeitern der insolventen Drogeriekette bisher nur ein Fünftel in neue Jobs vermittelt worden. 3068 seien wieder in Arbeit, 4251 in Qualifikationsmaßnahmen, sagte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit auf Anfrage.
    In welche Jobs die Mitarbeiter vermittelt wurden, erhebt die Behörde nicht. Weitere 1185 ehemalige Schlecker-Mitarbeiter hätten sich ohne Angabe von Gründen wieder abgemeldet und tauchen daher nicht mehr in der Statistik auf.
    Quelle: Tagesspiegel

    Anmerkung unseres Lesers K.G.: 4251 in Qualifikationsmaßnahmen.
    Übersetzt: Papierflieger falten, raus aus der Statistik und rein ins Jobwunder.
    In welche Jobs die Mitarbeiter vermittelt wurden, erhebt die Behörde nicht.
    Übersetzt: Unter Androhung von Sanktionen raus aus der Statistik, rein in die Leiharbeit und rein ins Jobwunder.

    Ergänzende Anmerkung WL: Wirtschaftsminister Rösler: „Aus unserer Sicht ist jetzt die Bundesagentur für Arbeit am Zug. Jetzt gilt es für die Beschäftigten – mehr als 10.000 vornehmlich Frauen, alleinerziehende Mütter und ältere Frauen – schnellstmöglich eine Anschlussverwendung selber zu finden.”
    Mit dieser Begründung lehnte Rösler die Bildung einer Transfergesellschaft ab, was letztlich zu Abfindungsklagen geführt hat, was wiederum die Verkaufsverhandlungen für Schlecker (oder wenigstens von Teilen der Kette) maßgeblich behindert hat.

  9. Jobcenter Berlin 2011: Nahezu 100.000 Sanktionen und 75 Millionen Euro an Bund zurück
    Die Zahl der von den 12 Berliner Jobcentern neu festgestellten Sanktionen gegen erwerbsfähige Leistungsberechtigte (SGB II) ist in 2011 auf den (bisherigen) Rekordwert von nahezu 100.000 gestiegen, darunter etwa 73.000 (73,9%) wegen „Meldeversäumnis beim Träger“. Dies waren 41,1 Prozent Sanktionen mehr als zwei Jahre zuvor (2009).
    Gleichzeitig (2011) wurden von den 12 Berliner Jobcentern nahezu 75 Millionen Euro der ihnen zugewiesenen Bundesmittel für „Verwaltungskosten“2 und „Eingliederungsleistungen“ nicht für diese Zwecke ausgegeben. Die nicht ausgeschöpften Mittel flossen an den Bund zurück. Sie entlasten je zur Hälfte den Bundeshaushalt und den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit (BA) – wegen einer entsprechenden
    Reduzierung des von der BA an den Bund zu zahlenden „Eingliederungsbeitrags“.
    Quelle: Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) [PDF – 198 KB]
  10. Hilfe für Hartz IV-Empfänger
    Nachdem der Piraten-Politiker Johannes Ponader in einem Artikel in der FAZ über seine Erfahrungen mit der Hartz IV-Behörde berichtete, bildete sich auf Twitter eine Initiative von Freiwilligen, die sich als Amts-Mitgänger und -Mitgängerin zur Verfügung zu stellen. Telepolis sprach darüber mit mit Claudia B.1, die an dieser Initiative teilnimmt.
    Quelle: Telepolis
  11. Rentenkasse: Her mit dem Geld, das uns zusteht!
    Die Rentenkasse wird einen Überschuss von 28 Milliarden erwirtschaften. Doch die Union und die SPD wollen den Beitragszahler nicht entlasten, sondern sich lieber die Spendierhosen vollstopfen.
    Quelle: Welt

    Anmerkung MB: Dieser Beitrag ist unglaublich dumm und primitiv.
    Die Leserin / der Leser wird mit der Forderung nach einer Beitragsrückerstattung von sechs Milliarden Euro anstatt „vollgestopfter Spendierhosen“ konfrontiert. Man bekommt die absolute Zahl von sechs Milliarden Euro um die Ohren gehauen, ohne den Hauch einer Überlegung, in welcher Zeitspanne diese Rückerstattung erfolgen soll. Sechs Milliarden Euro innerhalb von einem Jahr? Innerhalb von zwei Jahren? Länger, kürzer?
    Wie viele sozialversicherungspflichtige Beschäftigte gibt es in Deutschland? Nun denn, im Gegensatz zum Autoren Ulf Poschardt können wir Fakten ermitteln und Zahlen hinterfragen. Ende 2011 (Stand 31.12.2011) gab es in Deutschland knapp 28,8 Millionen (28787490) sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Eine Beitragsrückerstattung von sechs Milliarden Euro innerhalb von einem Jahr – wir wissen nicht, was es werden soll, wir tippen und rechnen jetzt einfach mal – ginge natürlich zu je 50% an Arbeitgeber und Arbeitnehmer/innen. Drei Milliarden Euro durch 28787490 Beschäftigte brächte durchschnittlich eine Beitragsentlastung von € 104,21 im Jahr bzw. € 8,68 im Monat. Das ist der durchschnittliche Betrag aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten und dieser reicht für einmal Pizza Essen im Monat ohne Extra-Käse, ohne Getränke und ohne Trinkgeld. Allerdings bekäme selbstverständlich nicht jede/r € 8,68 sondern dies richtet sich nach dem regelmäßigen Rentenversicherungsbrutto. Spitzenverdiener hätten das „Glück“, in den Genuss einer niedrigen zweistelligen Rückerstattung zu kommen, während Niedrig- und Prekärlohn-Beschäftigte je nach Einkommen nur wenige Euro mehr Entgelt im Monat hätten und Geringfügig Beschäftigte bekämen in den meisten Fällen gar nichts, da hier in der Regel lediglich der Arbeitgeber einen Pauschalbetrag einzahlt.
    Eine Entlastung für die Beitragszahler in anderer Form – nämlich eine leistungsfähige gesetzliche Rente – wird an keiner Stelle gefordert und ist offensichtlich nicht gewollt.
    Nun zu Ulf Poschardt. Der Autor ist – Verzeihung, höflicher geht es nicht – kein Journalist oder Sozialversicherungsfachmann sondern ein Meinungsmanipulator. 2001 wurde er als Co-Chefredakteur des SZ-Magazins entlassen, weil er für die Veröffentlichung gefälschter Interviews eines Redakteurs verantwortlich war. Als Chefredakteur der deutschen Ausgabe vom Modemagazin Vanity Fair scheiterte „Posch“ auf ganzer Linie und war dann überwiegend für Musikzeitschriften tätig, was ihn ja scheinbar beides zu Kommentaren über Rentenpolitik qualifizieren soll. Poschardt fiel später durch ein mehr oder weniger fragwürdiges Demokratieverständnis auf und machte 2009 klar und deutlich Wahlwerbung für die FDP – auch in der Welt. Dass Poschardt wiederholt in der Welt schreibt, ist also kein Gastartikel oder Versehen sondern es ist redaktionell gewollt. Die Welt leistet sich hier einen journalistischen Offenbarungseid.

  12. 2011: Zahl der Inobhutnahmen durch Jugendämter weiter gestiegen
    Im Jahr 2011 haben die Jugendämter in Deutschland 38 500 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Das waren gut 2 100 (+ 6 %) mehr als 2010. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) weiter mitteilt, hat die Zahl der Inobhutnahmen in den letzten Jahren stetig zugenommen, gegenüber 2007 (28 200 Inobhutnahmen) stieg sie um 36 %.
    Eine Inobhutnahme ist eine kurzfristige Maßnahme der Jugendämter zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, die sich in einer akuten, sie gefährdenden Situation befinden. Jugendämter nehmen Minderjährige auf deren eigenen Wunsch oder auf Grund von Hinweisen Anderer – beispielsweise der Polizei oder von Erzieherinnen und Erziehern – in Obhut und bringen sie in einer geeigneten Einrichtung unter, zum Beispiel in einem Heim.
    Quelle: Statistisches Bundesamt

    Anmerkung WL: Und auf der anderen Seite beklagt man sich über die sinkende Geburtenrate.

  13. Jürgen Rüttgers: Sieben Schritte zu einer lebenswerteren Gesellschaft
    Der demografische Wandel verändert unser Leben stärker als Energiewende, Globalisierung oder die digitale Revolution. Nur wenn die Politik sich dieser Herausforderung stellt, können wir weiter in Freiheit und Wohlstand leben. Ein Sieben-Punkte-Plan.
    Quelle: Spiegel

    Anmerkung unseres Lesers J.K.: Das sollte man sich gönnen um einen Einblick in die beschränkte Weltsicht unserer Politiker zu bekommen. Nach der Lektüre wundert einen nichts mehr. Das Pamphlet strotzt nur so von neoliberalen Plattitüden. Der Zynismus ist, dass dies auch noch mit „Sieben Schritte zu einer lebenswerteren Gesellschaft“ überschrieben ist.

    Ergänzende Anmerkung MB: Wer sich immer noch für intellektuell hält, weil sie/er den SPIEGEL abonniert, sollte endlich aufwachen.
    Es ist sehr schade, dass die Quelle dieser animierten Pilz- und Tannengrafik nicht angegeben ist. Sie stammt sicher aus einschlägigen Kreisen; sie könnte vom Versicherungsvertreter mit Professorentitel Raffelhüschen stammen.

  14. Lobbyismus
    1. So betreibt Google Lobbyarbeit in Deutschland
      Der weltweit führende Suchmaschinenanbieter Google versucht direkt oder indirekt Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen und unterhält dafür auch ein Büro in Berlin. Nur reden möchte der Internetkonzern darüber nur ungern.
      Quelle: Der Westen
    2. Lobbyismus beim Meldegesetz: „Druck von der Wirtschaft“
      Erst versuchten Lobbyisten bei der Regierung ein wirtschaftsfreundliches Meldegesetz durchzusetzen. Als das scheiterte, verschärften sie den Druck aufs Parlament.
      Quelle: TAZ
    3. Unternehmensvertreter dominieren Beratungsgremien der EU-Kommission
      Die Expertengruppen der Generaldirektion Unternehmen und Industrie bei der EU-Kommission werden von Unternehmensvertretern dominiert. Dies zeigt eine neue Studie unseres europäischen Netzwerks, der Allianz für Lobby-Transparenz und ethische Regeln (ALTER-EU). Die Expertengruppen beraten die Kommission bei Gesetzesvorhaben und beeinflussen so maßgeblich die EU-Politik. Daher ist es eine wichtige politische Frage, wie diese Gruppen zusammengesetzt sind.
      Quelle 1: LobbyControl
      Quelle 2: TAZ
    4. Große Unternehmen bestimmen EU-Politik
      Große Unternehmen haben nach einer Studie der Allianz für Lobbytransparenz Alter-EU besonders starken Einfluss auf die Gesetzgebung der Europäischen Kommission. Einer Studie der Lobby-Experten zufolge dominieren Vertreter der Wirtschaft rund zwei Drittel der 80 Expertengruppen, die die Generaldirektion Unternehmen und Industrie beraten. Gewerkschaften seien nur mit einem Prozent in diesen Gremien vertreten, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit knapp 8 Prozent, kritisierte Yiorgos Vassalos, der die Untersuchung geleitet hat. Die Expertengruppen treffen zwar keine Entscheidungen, geben aber oft wichtigen Input für die Gesetzgebung der Europäischen Kommission. Die Europäische Kommission bestreitet, dass diese Gruppen tatsächlich einen entscheidenden Einfluss auf die Gesetzgebung haben: “Es geht hier nicht um politische Entscheidungen. Die meisten Gremien sprechen über sehr technische Dinge wie Kabel, Batterien oder den Durchmesser von Stahlträgern”, sagt Lluis Prats, Sprecher der Generaldirektion Unternehmen. Außerdem habe die EU-Kommission sehr wohl versucht, die Beratergremien für Nichtregierungsorganisationen zu öffnen – bisher allerdings ohne großen Erfolg. Für die angefragten Organisationen ist es oft eine Frage der fehlenden Ressourcen. Sie haben durchschnittlich weniger Mitarbeiter in Brüssel als die Lobbyverbände der Unternehmen. – Einfach weitermachen wie bisher kann die Kommission jedenfalls nicht. Das EU-Parlament hat bei der letzten Haushaltsprüfung 20 Prozent des Budgets für Expertengruppen einbehalten und gefordert, sie ausgeglichener zu besetzen. Erst dann soll das restliche Geld an die Institution fließen.
      Quelle 1: taz
      Quelle 2: Alter-EU Europe`s campaign for lobbying transparency
  15. Fragen an den Autor: Jürgen Roth – Gazprom – das unheimliche Imperium
    National wie international ist der Name Gazprom mit Korruption, Erpressung, Geldwäsche und Kapitalsteuerflucht verbunden. Kein anderes Unternehmen hat weltweit so viel Macht und Einfluss, auch dank gewisser „Freunde“ des mächtigsten Mannes Russlands, Wladimir Putin. Doch welche Rolle spielt Putin genau? Wer sind die Drahtzieher bei Gazprom, und welche Verbindungen haben sie nach Europa und Deutschland? Welche Netzwerke beherrschen Gazprom, und warum kuschen die europäischen Regierungen? Moderation: Kai Schmieding
    Quelle 1: Saarländischer Rundfunk (Einleitungstext)
    Quelle 2: Saarländischer Rundfunk (Audio-Podcast) [Audio – mp3]
  16. Gerichtshof kippt Saatgut-Monopol der Konzerne
    Bauern dürfen Saatgut künftig selbst verkaufen – auch wenn es amtlich nicht zugelassen ist. Das hat der Europäische Gerichtshof entschieden und damit die Macht der großen Agrarkonzerne gebrochen. Landwirte jubeln: „Ein unglaublicher Sieg für Bauern und Verbraucher.“
    Quelle: Spiegel

    Anmerkung: Kritiker bemängeln dagegen, dass es sich nur um Einzelfälle ohne breite Wirkung handle und die Vermarktungsverbote weitgehend bestehen blieben. Alte Sorten würden weiter verschwinden, klagte die Kampagne für Saatgut-Souveränität. “Wir haben mehr erwartet”, sagte der Sprecher, Andreas Riekeberg.
    Die Enttäuschung der Kritiker liegt am Plädoyer der EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott. In diesen sogenannten Schlussanträgen, denen das Gericht zumeist folgt, hatte Kokott eine völlige Aufhebung des Vermarktungsverbotes gefordert. Diese weitgehenden Hoffnungen machte das Gericht nun allerdings zunichte und wich von Kokotts Anträgen ab: Die Ausnahmeregelung sei keine “Liberalisierung des Marktes für alte Sorten” und die “Bildung eines Parallelmarktes” für sie auch nicht vorgesehen, heißt es in der Entscheidung.
    Andreas Riekeberg von der deutschen Saatgutkampagne sagte in einer ersten Einschätzung, das Urteil bringe nicht die von ihm erhoffte Verbesserung. Zwar sei das von industriellen Saatgutzüchtern geforderte Handelsverbot alter Sorten abgewehrt. Der Anbau dieser Erhaltungssorten sei aber weiterhin regional und in den Höchstmengen beschränkt. Die EU-Ausnahmeregelung sei zudem in Deutschland noch nicht umgesetzt. Kleine Saatgutzüchter handelten deshalb in einer rechtlichen Grauzone.

  17. Frankreich hat Probleme mit nuklearem Abfall
    Nachbarland Frankreich hat mit einer enormen Menge Atommüll zu kämpfen. Bis 2013 soll sich diese noch verdoppeln. Schon jetzt bestehen Sicherheitsprobleme, warnt die Atomaufsicht. Die Lagerstätte La Hague entspricht nicht den Richtlinien.
    Quelle: Focus
  18. Von wegen Dilettanti: Die Piraten arbeiten längst daran, die Grünen zu beerben
    Für Parteistrategen wie Angelika Beer oder den Bundesvorsitzenden Bernd Schlömer lautet das Ziel jedenfalls: Die Piraten etablieren, ohne sie zum Teil des Establishments und damit gleich wieder überflüssig zu machen. Das ist sowohl eine inhaltliche als auch eine taktische Aufgabe…
    Das Schicksal der Piraten wird sich auch daran entscheiden, ob es ihnen gelingt, trotz Wachstum ihr Versprechen einzulösen, dass sie jeden am politischen Prozess beteiligen – und etwas bewirken lassen. Mit anderen Worten: Ob sie den Verrat an den Wählern vermeiden, den die Grünen begangen haben. Auch die sind ja einmal als Basisdemokraten gestartet und dann zu einer Partei der Berufspolitiker geworden…
    In der Tat zeigt der Aufstieg der Piraten: Das Bedürfnis nach mehr Mitbestimmung und dem Primat der Bürger über die Interessen der Wirtschaft ist riesig. Wenn die Partei nun ein Konzept präsentiert, wie sie parlamentarische Macht für mehr Bürgerbeteiligung einsetzen will, muss sie sich um ihren Platz im Parteiensystem keine Sorgen machen…
    Demonstrative Bescheidenheit, das Gegenteil von Machtpolitik ist jetzt, nach all dem Streit, die aussichtsreichste Machtstrategie bei den Piraten.
    Quelle: der Freitag
  19. Demokratie, oder: Die geraubte Braut
    Über den Wähler als Kunden, die Kunst des Balancierens und über das Individuum als Minderheit par excellence.
    Es gehört kein böser Blick mehr dazu, demokratische Wahlen für schwerfällige Simulationen der Marktforschung zu halten. Ein Produkt wirbt um freie Wahl des Kunden, den es als König anspricht; als der Größte (oder die Schönste) erscheint er im Spiegel der Reklame. Auch die Politik hat keine größere Sorge, als ihren Souverän persönlich «abzuholen», auch wenn er in der Abrechnung nur noch als statistische Größe erscheint. Die Unternehmer der Demokratie haben sich im Wettbewerb um die Wählergunst alle Techniken des Marketings zu eigen gemacht. … Die folgenreichste Disposition des neuzeitlichen Rechtsstaates war die Ausscheidung einer Sphäre, die seiner Verfügung entzogen war und die er sogar gegen sich selbst zu schützen versprach. … An der Schwelle zur Moderne wurde Egoismus legitim. Das liberale Credo (nach Adam Smith) traute gerade dem findigen Eigeninteresse die Schöpfung jenes Mehrwerts zu, von dem «unterm Strich» auch das Gemeinwohl profitierte, und dafür wollte sein Schöpfer vom Staat freigestellt sein. Fürs Auge nahm sich – neben den spektakulären neuen Freiheiten des Gedankens, der Religion, der Presse, der Vereinsbildung – die Handels- und Gewerbefreiheit unscheinbar aus. Aber gerade in ihr lag der Keim zu einer unabsehbaren Entwicklung – und sie führte zu einer Unterwerfung des guten Lebens unter die bessere Zahl, die schon Burckhardt als neue Tyrannei («Amerikanisierung») registriert hatte – mit sachlichem Entsetzen. Denn die Freiheit des Kapitals untergrub nicht nur die Fundamente von Staat und Religion; sie enthielt auch kein Korrektiv ihrer selbst.
    Quelle: Neue Zürcher Zeitung

    Anmerkung Orlando Pascheit: Ein anregender Text von Adolf Muschg, der als Schriftsteller politologische, soziologische und ökonomische Themenfelder in schönster Weise verdichtet und damit zeigt, wie man als intellektueller Nichtexperte den Leser zum Nachdenken zwingen, verführen kann. Bei jedem dieser Themenfelder kann man verweilen und sie ausspinnen und wieder zusammenfügen – zu einem neuen Bild, zu einem neuen Muster der eigenen Welterklärung. – Nehmen wir den Begriff Marketing. Natürlich appelliert der Politiker nicht nur an Herz und Verstand des mündigen Bürgers, um die Promotion des Produkts, hier der eigenen Person/Partei, zu betreiben, sondern versucht die Urbedürfnisse und Urängste des Wählers mit dem Produkt bzw. der Wahrnehmung des Produkts zur Deckung zu bringen. Soweit das normale Marketing, der Politiker hat allerdings einige Vorteile, über die ein Produzent am Gütermarkt nicht verfügt. Da wäre die Obrigkeitshörigkeit der niederen Stände, wovon vor allem die Regierungsparteien profitieren können. Vor allem aber kann der Politiker sich in ganz anderer Weise und viel direkter an die niederen Instinkte des Wahlvolkes richten. So kann er mit Feindbildern operieren, gegen die je nach Bedarf im Inland (Linkspartei, Muslime, Hartz-IV-Bezieher) oder Ausland (Griechen, Araber) agitiert werden kann. Natürlich ist die Krönung des Marketings, wie in der Betriebswirtschaft, die Kreation einer Marke. Angela Merkel scheint dem sehr nahe gekommen sein. Ihre Umfragewerte lassen nur den Schluss zu, dass sie einen Status jenseits aller rationalen Bewertung erreicht hat. Wie anders lässt sich, erklären, dass eine Sprecherin (bei ARD oder ZDF), nicht einfach die Ablehnung Merkels von Eurobonds, Euro-Bills und Schuldentilgungsfonds wiedergibt, sondern erklärt, die Kanzlerin habe dies auch begründet. Das gibt es doch nicht, denkt man und konzentriert sich geradezu elektrisiert auf diese Begründung. Und was kommt: Eurobonds, Euro-Bills und Schuldentilgungsfonds seien in Deutschland verfassungsrechtlich nicht möglich und: „Ich halte sie auch ökonomisch für falsch und kontraproduktiv“. Was daran verfassungsrechtlich bedenklich, ökonomisch falsch und kontraproduktiv sei, erfährt man nicht. In der Tat, Frau Merkel ist eine Marke. – Natürlich sind diese Assoziationen zum Thema Marketing in der Politik subjektiv, aber sie zeigen die Wirkungskraft des Textes von Adolf Muschg. Leider hat Günter Grass dergleichen nicht ausgelöst.

  20. Le Monde diplomatique – Juliausgabe
    • RECHTSEXTREMISMUS IN EUROPA: Der jüngste Wahlerfolg der Neonazipartei Chrysi Avgi in GRIECHENLAND scheint das klassische Erklärungsmuster zu bestätigen, dass die Rechtsextremen in Krisenzeiten mehr Zuspruch bekommen: Bei früheren Wahlen war Chrysi Avgi stets deutlich unter einem Prozent Stimmenanteil geblieben, berichtet der junge Athener Journalist Jiannis Papadopoulos. Die erste Überraschung gab es bei den Kommunalwahlen im November 2010. Damals zogen die Neonazis erstmals ins Athener Stadtparlament ein.
    • In NORWEGEN, schreibt Rémi Nilsen, habe bereits der gefühlte Abstieg dazu geführt, dass heute mehr Bürger mit der populistischen Rechten sympathisierten als früher. Nachdem am 22. Juli 2011 rechte Terrorismusexperten hinter dem Anschlag auf das Osloer Regierungsviertel zunächst das Werk von Islamisten vermutet hatten, fielen Passanten auf offener Straße über Ausländer her.
    • Die paranoide Furcht vor Überfremdung und Identitätsverlust prägt auch die KULTUR DER RECHTEN, die sich immer mehr zum Mainstream entwickelt, wie Evelyn Pieiller am Beispiel des erfolgreichen Black Metal-Festivals „Hellfest“ und des Fantasy-Booms zeigt.

    Weitere Themen der aktuellen Ausgabe:

    • In MEXIKOS DROGENKRIEG, den die damalige konservative Regierung vor 12 Jahren ausrief, hat die Gewalt auf beiden Seiten zehntausende von Opfern gefordert. Heute sind die Kartelle mächtiger denn je, berichtet Jean-François Boyer.
    • Die MUSLIME VON NEW YORK trennt eine fatale Kluft. Die Mehrheit sind Einwanderer aus Asien und dem Nahen Osten. Sie verdienen überdurchschnittlich gut, sind überdurchschnittlich gebildet und „empfinden sich als die Sprecher des Islam in Amerika“, schreibt Charlotte Wiedemann. Die Afroamerikaner gehören zwar auch hier zur unterprivilegierten Minderheit, doch der Glaube zieht sie an.
      Schließlich gibt es ein berühmtes Vorbild: Malik El-Shabazz, besser bekannt als Malcolm X.
      Lesen oder hören Sie den ganzen Essay von Charlotte Wiedemann hier.
    • Ferienzeit ist Reisezeit. Das war nicht immer so. Im TOURISMUS-Dossier geht es u.a. um die ältesten und jüngsten Touristen der Geschichte, vom Nachwuchs-Adel auf Kavalierstour bis zu Chinas neuer Freizeitgesellschaft; um Tourismus als Wirtschaftsfaktor, alternative Reiseformen und den neuen umstrittenen Botschafter der Welttourismusorganisation. Diese Karte bildet die Dimensionen des grenzüberschreitenden Tourismus ab [PDF – 182 KB].
    • Und Jacques de Loustal hat den passenden COMIC gezeichnet.

    Das vollständige Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe finden Sie hier.
    Le Monde diplomatique liegt am Freitag, den 13. Juli der taz bei.
    Ab dem 14. Juli gibt es sie separat am Kiosk.


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