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Titel: Die ideale Alterspyramide – Zeichen einer Gesellschaft des Sterbens

Datum: 29. August 2006 um 11:11 Uhr
Rubrik: Demografische Entwicklung
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Der NachDenkSeiten-Nutzer Roberto J. De Lapuente hat, angestoßen durch uns, recherchiert und Interessantes über die „ideale“ Alterspyramide gefunden.

Roberto J. De Lapuente

Durch das Buch „Machtwahn“ wurde mir die demographische Heilsvorstellung der Alterspyramide als Blendwerk bewußt. Freilich, ein Prediger der Pyramide war ich nie, aber an der Aufrichtigkeit dieser These habe ich kaum gezweifelt, nicht gewusst, ob daran überhaupt Zweifel festzumachen seien. Einem Ökonomie-Laien ist dies zu verzeihen, wenn er nicht erkennt, daß die Pyramide – also ein breites Fußsegment, welches sich bis zur Spitze hin kontinuierlich verjüngt – ein todbringendes Modell ist. Ja, drastisch ausgedrückt: Wer glaubt eine Alterspyramide sei die Rettung der staatlichen Rente, fordert nolens volens eine Gesellschaft des Sterbens.

Wie gesagt, Sie (AM mit Machtwahn) waren der Erste, der mich darauf hingewiesen, der zudem mein Interesse an Demographie geweckt hat. Auch wenn mein Wissen ein rudimentäres ist, hilft es zu begreifen, zumindest aber zu hinterfragen. So fiel mir beim Lesen des Buches „Aufbruch aus der Behaglichkeit – Deutschland im Biedermeier“ auf, wie der Autor Gerhard Schildt, etwas Demographisches präsentierte, welches sich mit Ihren Ausführungen im „Machtwahn“ deckt, ja quasi Ihnen ein historisch-demographisches Fundament legt.

Folgend ein Diagramm, welches die Alterspyramide Preußens im Jahre 1866 aufzeigt, im Vergleich dazu (darunter) der Altersaufbau der Bundesrepublik 1986. Vorweg: 1866 war die Zeit des Biedermeier, der Vormärz bereits Geschichte, doch innerhalb dieser zwei, drei Jahrzehnte hat sich kaum etwas an der demographischen Zusammensetzung (genauer: an den Lebenszuständen der Menschen) geändert, womöglich sah es um 1830 noch gravierender aus.

Folgende Bildunterschrift dazu:

Das obere Diagramm zeigt den Altersaufbau der preußischen Bevölkerung im Jahre 1866. In den vorhergehenden Jahrzehnten war er im übrigen Deutschland mit Sicherheit ebenso. Rechts sind die Frauen Jahrgang für Jahrgang verzeichnet, links die Männer. Es gibt besonders viele Säuglinge. Die Zahl der Kinder, die über zehn Jahre alt sind, ist bedeutend niedriger als die der Kleinkinder und gar der Säuglinge. Das ist Ausdruck der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit. Die Zahl der Erwachsenen nimmt relativ gleichmäßig ab (geringfügig erkennt man die Auswirkung guter und schlechter Ernten). Es gibt im wesentlichen gleich viele Männer wie Frauen.
Der Altersaufbau der bundesrepublikanischen Bevölkerung hat sich völlig verändert. Bei den Älteren (ab 65) gibt es einen gewaltigen Frauenüberschuß, weil viele Männer dieser Jahrgänge im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Die oberste „Kerbe“ im Bevölkerungsaufbau ist auf den Geburtenrückgang im Ersten Weltkrieg zurückzuführen, die zweite tiefe „Kerbe“ auf den Geburtenrückgang während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Der drastische Rückgang der jüngeren Jahrgänge ist das Ergebnis der „Pille“. Der gegenwärtige Altersaufbau spiegelt die Katastrophen unserer jüngeren Geschichte wider. Die Deutschen des 19.Jahrhunderts waren davon verschont. Ihr Altersaufbau zeigt hohe Kinderzahlen und eine wachsende Gesamtbevölkerung. Er entspricht ganz dem Erscheinungsbild heutiger Entwicklungsländer.

Hier also decken sich bereits Ihre Fakten mit den Ausführungen Schildts: Hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit, gleichmäßiges Abnehmen der Erwachsenen, Altersaufbau wie in heutigen Entwicklungsländern.

So darf man weiterfolgern, daß das Fordern einer solchen Pyramide, wie es viele Apologeten der privaten Altersversorge tun, ein Fordern nach hungriger Gesellschaft ist. Das klingt vielleicht verwirrend, daher anders formuliert: Alterspyramiden der sogenannten idealen Form entstehen nur durch Hunger und Mangelversorgung; nur dadurch, eine hohe Kindersterblichkeit zuzulassen. Dazu nochmals Schildt:

Ähnlich karg war das Essen. Trocken Brot und Wasser gehörten noch zu der besseren Ernährung. Ein normales Essen waren gekochte Kartoffeln und ein bißchen Salz – sonst nichts. In besonders elender Lage kochte man etwas Mehl in Wasser und aß diese „Suppe“. Trotz aller Einschränkungen reichte das Geld manchmal nicht. In solchem Fall versorgte sich zuerst der Vater und nahm so viel, wie er brauchte, um einigermaßen satt zu werden. Dann aß die Mutter, und dann kamen die Kinder, wenn es noch etwas gab. Dieses Verfahren war grausam, aber gewissermaßen zweckmäßig. Wenn nämlich der Vater erkrankte oder starb, der doch der Ernährer der Familie war, gerieten auch die anderen Familienmitglieder in Lebensgefahr. Starb dagegen eines der Kinder, erleichterte das die Lage der übrigen Familien.
Die Kinder verhungerten nicht direkt. Der menschliche Körper kann unzureichende Ernährung oder Hunger ziemlich lange ertragen. Er greift dann aber alle Reserven an, unter anderem auch die Immuneiweiße, die sich im Blut befinden, die sogenannten Antikörper. Dadurch verliert der hungernde Mensch die Abwehrkraft gegen Krankheiten. Jeder Ansteckung fällt er dann zum Opfer.
Der Hunger der Unterschichtenkinder äußerte sich deshalb in einer hohen Kindersterblichkeit. Die Todesursachen waren scheinbar „normale“ Krankheiten, die tiefere Ursache war der Hunger. Besonders die Tuberkulose forderte ihre Opfer, daneben auch Scharlach, Diphterie, Grippe und viele andere Infektionen. In den Kirchenbüchern kann man noch heute verfolgen, wie in manchen Familien fünf oder acht Kinder geboren wurden, und von diesen doch nur zwei oder drei überlebten. Auch in den Ober- und Mittelklassen starben viele Kinder, denn die medizinische Versorgung und die hygienischen Bedingungen waren für alle unzureichend, aber die meisten Opfer hatten die Unterschichten zu beklagen. Das wurde auch damals schon statistisch erfaßt und kann noch heute nachgezählt werden.

Freilich schwarz gemalt, dunkelschwarz. Aber so muß eine Gesellschaft beschrieben werden, die in der Alterstruktur eine „ideale“ Pyramide aufweist. So sehen Gesellschaften in den Entwicklungsländern heute aus, Ellenbogen und persönliches Durchsetzungsvermögen, gepaart mit dem Glück, nicht krank zu werden oder behindert zur Welt zu kommen, sind die Maximen; so sah auch Deutschland im Biedermeier aus. Sozialstaat, Solidarität, Mitmenschlichkeit, Rücksicht: all dies sind Werte, die bestenfalls rudimentär entwickelt sind, in einer „Pyramiden-Gesellschaft“.

Somit ist das Madigmachen der staatlichen Rente, indem man auf das Schwinden der einstigen Alterspyramide verweist, auch im historischen Kontext entblößt worden. Ja, dies Verweisen auf Pyramiden, welche als optimale Struktur anzusehen seien, ist nichts anderes, wie eine Restauration, wie ein Zurückschreiten ins Biedermeiersche. Dem herrschenden Zeitgeist des Neoliberalen ist so eine Gesellschaft der Ellenbogen kein Graus, Pyramide und das Recht des Stärkeren und Gesunden gehen gemeinsame Wege.

Man wäre also gerne im Vormärz, davon muß man ausgehen, wenn man diese Forderungen vernimmt. Wie passend, wenn man genauso wie einst, auch heute den Opponenten das Wort verbieten will und dem konservativen Denken eine Art Heilwirkung nachsagt, somit soziale Ideen als Utopien oder Nostalgien hinstellt. Auch das stete Stillhalten und Zurückziehen in die heimische „Festung“, diese Metapher des Biedermeier, dies Schweigen zum Unrecht, all dies läßt sich dieser Tage erkennen, wenn Massen es nicht umzusetzen wissen, Politik wider ihren Interessen, demokratisch zu bekämpfen.
Und wie passend die Worte Gerhard Schildts, mit denen ich dieses Schreiben beenden möchte. Man fühlt sich, zumindest vom Wortlaut, in unsere Zeit versetzt:

Die Armenunterstützung reichte nicht aus, um die Not bekämpfen zu können. Die Mittel waren beschränkt, das Elend war schier unabsehbar. Die zuständigen Behörden wurden von einer panischen Angst geplagt, die Armen könnten im Vertrauen auf die Unterstützung die Hände in den Schoß legen. In den Instruktionen wird den zuständigen Beamten deshalb auch immer wieder eingeschärft, niemanden zu unterstützen, der noch irgendwie arbeitsfähig sei. Sehr viele Menschen wurden von der Armenpflege überhaupt nicht erfaßt. Vor allem waren die Unterstützungssätze völlig unzureichend. Sie verlangsamten das Verhungern, aber verhinderten es nicht. Hinzu kam, daß ein Großteil der Unterstützungen erst einmal für die Bezahlung der Miete abgezweigt wurde. Man hat oft den Eindruck, als sei es den Behörden mehr um die Sicherstellung des Vermieters gegangen als um Hilfe für den Bedürftigen.


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