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Titel: Hinweise der Woche

Datum: 7. Juli 2019 um 9:00 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich:

Am Wochenende präsentieren wir Ihnen einen Überblick über die lesenswertesten Beiträge, die wir im Laufe der vergangenen Woche in unseren Hinweisen des Tages für Sie gesammelt haben. Nehmen Sie sich ruhig auch die Zeit, unsere werktägliche Auswahl der Hinweise des Tages anzuschauen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (CW)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Stell dir vor, der INF-Vertrag kratzt ab – und keinen juckts! – Über ein Begräbnis vierter Klasse
  2. Ramstein
  3. Die Ära der Sanktionskriege (I)
  4. EU-Kommissionspräsidentschaft/von der Leyen
  5. Carola Rackete – die neue Greta Thunberg?
  6. Präzedenzfall WikiLeaks
  7. Freihandel mit Folgen
  8. Wenn ein Terroranschlag nicht aufgeklärt werden soll
  9. Tag der Bundeswehr in Pfullendorf – ein Rückblick
  10. Deutschland, Du armes Land der Reichen
  11. Propagandakracher „Schuldenlüge“ DDR war moralisch bankrott, aber nicht pleite
  12. Die Sozialdemokratie hat ihre Aufgabe erfüllt. – Ein Nachruf auf die SPD
  13. #Freitag13: Hochschul-Industrie
  14. Zu guter Letzt: Lange Partynacht: Anwohner von McKinsey-Zentrale beklagen sich über Ruhestörung

Vorbemerkung: Ursprünglich hatten wir geplant, in unserer Wochenübersicht auch auf die lohnendsten redaktionellen Beiträge der NachDenkSeiten zu verweisen. Wir haben jedoch schnell festgestellt, dass eine dafür nötige Vorauswahl immer damit verbunden ist, Ihnen wichtige Beiträge vorzuenthalten. Daher möchten wir Ihnen raten, am Wochenende doch einfach die Zeit zu nutzen, um sich unsere Beiträge der letzten Wochen (noch einmal) anzuschauen. Vielleicht finden Sie dabei ja noch den einen oder anderen Artikel, den es sich zu lesen lohnt. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Stell dir vor, der INF-Vertrag kratzt ab – und keinen juckts! – Über ein Begräbnis vierter Klasse
    In einem Monat wird der INF-Vertrag Geschichte sein. Und zwar nicht nur, weil die Supermächte es so wollten und die nationalen Politiker nichts dagegen unternahmen. Sondern weil 99 Prozent der Bürger der betroffenen Staaten es widerstandslos hingenommen haben!
    Machen wir uns nichts vor: In einem Monat wird der bedeutendste Abrüstungsvertrag der Geschichte selbst Geschichte sein! Er wird obsolet sein, weil niemand ernsthaft einen Finger krumm gemacht hat, ihn zu retten.
    Eine Volksfront der Ignoranz, Indolenz und Bequemlichkeit
    Und das gilt nicht nur für die Politiker in Ost und West, es gilt genauso für 99 Prozent der Bürger. Eine breitestmögliche Koalition, nein schlimmer: eine verhängnisvolle Volksfront der Ignoranz, Indolenz und der Bequemlichkeit – von der AfD über die ehemaligen Volksparteien, die FDP und GRÜNEN bis hin zum Evangelischen Kirchentag und Fridays for Future – hat in diesem unseren Lande grandios versagt
    Mehr lesen:”Dann wären wir gezwungen, einen Präventivschlag zu führen!” – Europa und das Ende des INF-Vertrages
    Werfen wir zunächst einen Blick auf Parteien und Politiker. Russlands falsche Freunde von der AfD schwiegen beredt, über Angela Merkel wird noch zu sprechen sein (den Rest ihrer Schwesterparteien kann man in dieser Angelegenheit eh vergessen), und die ehemalige Partei der Entspannungspolitik ist von kollektiver Amnesie geschlagen. Unerfahrene Polit-Yuppies wie der neue Russlandbeauftragte der Bundesregierung und stromlinienförmige Vertreter der Playbackgeneration wie ein gewisser transatlantischer Staatsminister im Auswärtigen Amt signalisieren exemplarisch den Stellenwert, den die Themen „Russland“, „Abrüstung“ und „Entspannungspolitik“ für die SPD noch haben. Dabei wären genau dies die Themen gewesen, mit denen die im Abwärtsstrudel zappelnde Partei am ehesten wieder hätte punkten können! Auf diese Idee kam aber selbst der Vorsitzende der Jusos nicht, der sich stattdessen lieber in seinem frischerworbenen Heldenimage als Westentaschenrevoluzzer sonnte. […]
    Der russische Präsident Wladimir Putin hat Anfang Juni am Rande des Petersburger Wirtschaftsforums eindrücklich vor den Gefahren eines unkontrollierten atomaren Wettrüstens gewarnt und in diesem Zusammenhang ebenfalls die Indolenz beklagt, mit der die Beendigung des ABM-Vertrages Anfang der Nuller Jahre, die Kündigung des INF-Vertrages jetzt und das Ende des START-Vertrages in naher Zukunft einfach hingenommen würden. Er wundere sich, so sagte er, dass die ganze Welt tatenlos und schweigend zusehe, wie die Errungenschaften der Vergangenheit gefährdet würden. Und dann sprach Putin die Anwesenden direkt an:
    Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte Sie fragen: Hat einer von Ihnen aktiv protestiert oder ist mit Plakaten auf die Straße gegangen? Nein, es herrschte Ruhe, als ob alles wäre, wie es sein sollte!
    Well roared, Mr. President, indeed! Dass allerdings in Russland jemand mit Plakaten auf die Straße gegangen wäre, um beispielsweise für die Rettung des INF-Vertrages zu demonstrieren, ist mir gleichfalls unbekannt. Offenbar haben wir es nicht nur mit einer Volksfront, sondern mit einer Internationale in Sachen Ignoranz, Indolenz und Passivität zu tun! Mit einem Wort: Eine fahrlässige, brandgefährliche ‚Wurschtigkeit‘ dominiert die Stimmung im Westen wie in Russland und lähmt die Bevölkerungen hüben wie drüben komplett!
    Und der INF-Vertrag? Er stirbt! Er stirbt, weil die Supermächte es offenbar so wollen. Und er stirbt, weil die nationalen Politiker nichts dagegen unternehmen.
    Aber er verreckt auch jämmerlich, weil dies von den Bevölkerungen vollkommen widerstandslos so hingenommen wird!
    Quelle: Leo Ensel auf RT Deutsch

    Anmerkung Albrecht Müller: Das ist eine treffende Beschreibung des mangelhaften Interesses für die Gefährdung des Friedens mitten in Europa. Außerdem dürfte für Skeptiker gegenüber Medien, die von Russland finanziert werden, die Schlusspassage interessant sein. Da wird in RT deutsch freimütig der russische Präsident kritisiert.

  2. Ramstein
    1. Demonstration gegen die Air Base Ramstein: groß, bunt, vielfältig und beeindruckend
      5000 Teilnehmer*innen demonstrierten bei drückender Hitze vor der Air Base Ramstein, um gegen den völkerrechtswidrigen Dohnenkrieg und die US-Kriegführung und ihre deutsche Unterstützung von dieser zentralen Drehscheibe der US-Kriegspolitik zu demonstrieren. „Die Air Base ist der Schlüssel für die atomare und konventionelle (Luft-)Kriegsführung.“ „Ohne sie gibt es keinen US-Drohnenkrieg“, so Pascal Luig. Ihre Auflösung bleibt das langfristige Ziel der Kampagne.
      „Die Air Base muss geschlossen werden, weil von ihr aktuelle und zukünftige US-amerikanische Kriege geführt werden“, so Oskar Lafontaine. „Die Umweltauswirkungen der Air Base durch Emissionen, Grundwasserverschmutzung und Lärm werden immer unerträglicher“, so Andreas Hartenfels, Landtagsabgeordneter der Grünen in Rheinland-Pfalz.
      „Doppel so viele Teilnehmer*innen, die meisten jung und viele neu, sind ein eindrucksvolles Zeichen, dass die Friedensbewegung wieder wächst und sich mit aller Kraft gegen den Iran-Krieg und eine mögliche Stationierung weiterer US-amerikanischer Atomwaffen wendet“, so Reiner Braun vom Koordinierungskreis der Kampagne Stopp Air Base Ramstein.
      Die Demonstration war der Abschluss und Höhepunkt der Protestwoche gegen die Air Base Ramstein, die aus einem von 800 Menschen besuchten Friedenscamp, einem internationalen Basenkongress, einer öffentlichen Veranstaltung mit mehr als 650 Teilnehmer*innen und Aktionen des zivilen Ungehorsams bestand.
      „Wir kommen mit mehr Menschen 2020 wieder zu den Protesten gegen die Air Base Ramstein. Wir protestieren auch gegen einen möglichen Krieg mit dem Iran, der von dieser Air Base ausgehen würde und bei dem dann auch Deutschland (indirekt) beteiligt wäre“, so die Stimmen der tausenden Teilnehmer*innen. Wir wenden uns gerade jetzt gegen die unsinnige, bürokratische und undemokratische Reglementierungen der Demonstrationsfreiheit durch die Kreisverwaltung in Kaiserslautern.
      Quelle: Stopp Air Base Ramstein
    2. Oskar Lafontaine: Die Bundesregierung muss anfangen, sich von der US-Politik zu lösen
      Deutschland ist kein souveräner Staat – das sagte Oskar Lafontaine bei der Abschlusskundgebung der Demonstration gegen die US-Basis Ramstein am Samstagnachmittag. Im Anschluss an die Kundgebung gab der Linken-Politiker RT Deutsch ein kurzes Interview.
      Der ehemalige saarländische Ministerpräsident und heutige Fraktionsvorsitzender der Partei Die Linke im Saarland, Oskar Lafontaine, kam auch in diesem Jahr wieder zur Abschlusskundgebung der Kampagne “Stopp Ramstein”. In seiner etwa 20-minütigen Rede bei über 30 Grad vor der Militärbasis ließ Lafontaine kein gutes Wort an der Politik der USA. Deutschland hingegen bezeichnete er als nicht souverän. Für RT Deutsch hatte Oskar Lafontaine im Anschluss Zeit für ein kurzes Interview.
      Quelle: RT Deutsch
    3. Oskar Lafontaine – wir sind nicht souverän, eigenständig werden, AirBaseRamstein schließen
      Quelle: NuitDebout Munich via You Tube
  3. Die Ära der Sanktionskriege (I)
    Bei deutschen Unternehmern nehmen die Beschwerden über die Russland-Sanktionen zu. Gegenstand sind nicht nur die EU-Sanktionen, gegen die sich kürzlich etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) sowie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) ausgesprochen haben. Deutsche Unternehmer warnen, der deutschen Wirtschaft drohe durch sie der dauerhafte Verlust erheblicher Marktanteile etwa an China. Protest wird in wachsendem Maße aber auch gegen die US-Russland-Sanktionen laut, die Washington seit 2017 ohne vorherige Absprache mit der EU verhängt und die es zugleich für ausländische Firmen, also extraterritorial, verpflichtend macht. Bei Nichteinhaltung etwa eines Sanktionsgesetzes vom August 2017 drohen Geldstrafen von bis zu einer Million US-Dollar, in bestimmten Fällen gar mehrjährige Haftstrafen. Die Deutsch-Russische Auslandshandelskammer beziffert die Schäden, die deutschen Unternehmen durch die extraterritorialen US-Sanktionen bislang entstanden sind, auf mehrere Milliarden Euro. Berlin denkt über Gegenmaßnahmen nach.
    Quelle: German Foreign Policy
  4. EU-Kommissionspräsidentschaft/von der Leyen
    1. Deutsch-Europa
      Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen soll das Amt der EU-Kommissionspräsidentin übernehmen. Dies haben die EU-Staats- und Regierungschefs am gestrigen Dienstag nach erbitterten Machtkämpfen beschlossen. Damit geht der wohl einflussreichste Posten in der Brüsseler Bürokratie an eine deutsche Politikerin. Kurz zuvor hatten auch hochrangige Politiker aus anderen EU-Staaten noch geurteilt, “bei der Stärke”, die Deutschland in der EU habe, sei eine Deutsche an der Spitze der Kommission für viele nur “schwer zu vermitteln”. In der Tat wird nicht nur die EU-Politik in zunehmendem Maß von Berlin geprägt. Auch Führungsposten in den EU-Behörden sind immer häufiger in deutscher Hand, vor allem auf dem Feld der Finanzen, aber auch im Europaparlament – insbesondere dort, wo die gesetzgeberische Arbeit koordiniert wird – sowie in der Außenpolitik. Ein bekannter französischer EU-Experte urteilt, Deutschland bleibe nicht zuletzt deshalb “europäisch” orientiert, “weil es ein ‘deutsches Europa’ geformt hat, das einzig deutschen Interessen dient”.
      (…) Die neue deutsche Frage
      EU-Experte Quatremer urteilt, die “extrem enge Vernetzung” deutscher EU-Bürokraten und -Politiker erkläre nicht nur, “weshalb die europäischen Institutionen nie Deutschland kritisieren” – auch nicht etwa wegen seines exzessiven Handelsüberschusses, das seit vielen Jahren offen gegen die EU-Normen verstößt (german-foreign-policy.com berichtete). Man müsse darüber hinaus konstatieren, dass Deutschland auch deshalb “europäisch” bleibe, “weil es ein ‘deutsches Europa’ geformt hat, das einzig deutschen Interessen dient”. Quatremer, der vor allem für die linksliberale Tageszeitung Libération schreibt, stellte schon vor zwei Wochen fest: “Die Schlacht um die europäischen Ämter wirft ein Schlaglicht auf diese neue deutsche Frage.
      Quelle: German Foreign Policy
    2. Der falsche Weg, die falsche Frau – Aufwertung für die EZB
      Die Entscheidung des EU-Gipfels, die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen für den Kommissionsvorsitz zu nominieren, ist wie eine Bombe eingeschlagen. Sie offenbart gravierende Fehlentwicklungen.
      In Berlin hat sich die SPD dem Vorstoß von Kanzlerin Angela Merkel widersetzt – Merkel mußte sich deshalb in Brüssel enthalten. Ein irrwitziger Vorgang, der der GroKo erschüttert.
      In Straßburg proben Sozialdemokraten und Grüne den Aufstand. Sie sprechen von Verrat und einem Anschlag auf die Demokratie – und könnten in zwei Wochen gegen VdL stimmen.
      Sollte es so weit kommen, so könnte die CDU-Politikerin nur mithilfe von Liberalen und Rechtskonservativen gewählt werden. Schon beim Gipfel hat sich Merkel auf die rechtslastigen Visegrad-Staaten gestützt!
      Das zeigt, dass hier die falsche Methode gewählt wurde. Der Europäische Rat hat versucht, das Europaparlament auszustechen, um nicht zu sagen zu überrumpeln – und das einen Monat nach der Europawahl!
      Quelle: Lost in Europe
    3. Politologe zur EU-Spitzenkandidatendiskussion: „Man hat den Wählern zu viel versprochen“
      Weder Timmermans noch Weber: Dass keiner der Spitzenkandidaten EU-Kommissionspräsident wird, stößt auf heftige Kritik. Der Politologe Josef Janning hält dagegen: „Was passiert ist, ist genau das, was die europäischen Verträge vorsehen.“
      Quelle: Deutschlandfunk Kultur

      Anmerkung JK: Natürlich war der Europa-Wahlkampf eine Farce, mit der dem Publikum etwas vorgegaukelt wurde, was es nicht gibt, eine demokratisch verfasste EU. Das jämmerliche, alle Parteien von CSU bis zur LINKEN haben sich daran beteiligt. Allein die AfD hat die EU kritisiert und jeder, der dies ebenso tat, wenn auch aus ganz anderen Gründen, wurde sofort in die Ecke der AfD geschoben. Die EU ist und bleibt ein Elitenprojekt, dass in erster Linie den ökonomischen Interessen der Oligarchien dient.

    4. Europa nicht den Leyen überlassen…
      Kurze Anmerkungen zu den Personalvorschlägen des Rates. Korrigieren Sie mich gern, aber ein erster kurzer Überblick ergibt folgendes:
      Josep Borrell: Ein spanischer Tüp, der als Präsident des Europäischen Hochschulinstituts zurücktreten musste, weil er vergessen hatte, ein 300.000-Euro-Jahreseinkommen bei einem Energieversorger anzugeben, soll Außenbeauftragter der EU werden?
      Christine Madeleine Odette Lagarde: Eine Französin, die wegen Veruntreuung von 400 Millionen Euro öffentlicher Gelder im Falle Tapie schuldig gesprochen wurde und noch nie eine nationale Notenbank geleitet hat, soll die EZB leiten?
      Charles Michel: Ein Belgier, der nicht einmal in Belgien eine funktionierende Regierung bilden konnte, und der mit Rechtsradikalen paktiert, soll Ratspräsident werden und für den Ausgleich immer komplexerer nationaler Interessen in der EU sorgen?
      Ursula von der Leyen: Eine erfolglose deutsche Ministerin, die lediglich durch einen irren Hang zu überteuerten externen Beratern, Missmanagement und Euphemismen („Trendwende Finanzen“ für die größte deutsche Aufrüstungsanstrengung seit Kriegende) aufgefallen ist, und die von den illiberalen Visegrád-Staaten gestützt wird, die zuvor den konservativen Sozialdemokraten Timmermans als linksradikal abgelehnt haben, soll EU-Kommissionspräsidentin werden?
      Was für eine Parade der Inkompetenz! Europa nicht den Leyen überlassen…
      Quelle: Martin Sonneborn via Facebook

      Lesen Sie zum Thema bitte auch: Röslein, Röslein, Röslein schwarz – warum von der Leyen eine Katastrophe für Europa wäre.

  5. Carola Rackete – die neue Greta Thunberg?
    (…) Es widerspricht eigentlich sämtlichen bürgerlichen Ansprüchen der Trennung von Justiz und Politik, die ja nicht nur Ideologie sind, sondern für eine kapitalistische Gesellschaft sehr kompatibel. Doch nachdem die Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete in Italien festgenommen und unter Hausarrest gestellt wurde, erklärte Bundesaußenminister Heiko Maas unmissverständlich, welches Urteil er nur zu akzeptieren bereit ist. “Aus unserer Sicht kann am Ende eines rechtsstaatlichen Verfahrens nur die Freilassung von #CarolaRackete stehen”, twitterte der Minister.
    Warum dann noch ein Verfahren, wenn das Urteil schon feststeht? Auch Bundespräsident Steinmeier machte der italienischen Justiz klar, was er erwartet. “Italien ist nicht irgendein Staat. Italien ist inmitten der Europäischen Union, ist Gründungsstaat der Europäischen Union. Und deshalb dürfen wir von einem Land wie Italien erwarten, dass man mit einem solchen Fall anders umgeht.”
    (…) Es gibt gute Gründe, gegen dieses Vorgehen der Justiz zu protestieren oder sich ihm möglichst entgegenzustellen. Es sollte allerdings misstrauisch machen, wenn deutsche Politiker vom Bundesaußenminister bis zum Bundespräsidenten plötzlich den Spontispruch “legal, illegal, scheißegal” anstimmen, wenn es gerade in die politische Konjunktur passt….
    Und da wird Italiens Innenminister Salvini als einflussreicher Exponent des rechten Modells ausgemacht. Rackete und die Migranten sind da eher Schachfiguren in diesem Spiel. Denn, wenn ihnen daran gelegen wäre, dass den Menschen am Schiff schnell geholfen wird, hätte doch Deutschland sie aufnehmen können, als die Kapitänin tagelang um Hilfe bat. Das wäre sicher im Interesse eines Großteils der Migranten gewesen, die lieber in Deutschland als in Italien leben wollen.
    Doch Deutschland will dafür sorgen, dass ein Großteil der Migranten dort bleiben muss, wo sie als erste im EU-Raum an Land gehen. Und das ist nun mal aus geografischen Gründen eher Italien als Deutschland.
    Quelle: Telepolis
  6. Präzedenzfall WikiLeaks
    Der UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer hat seine Position zum Fall Assange noch einmal klar gestellt – doch keine Zeitung wollte den Beitrag drucken
    Der Sonderberichterstatter des Hochkommissariats für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, der Schweizer Nils Melzer, der zusammen mit zwei medizinischen Experten Julian Assange im Gefängnis besuchen konnte, hatte in seinem Gutachten am 31. Mai 2019 von der massiven “psychologischen Folter” gesprochen, der Assange seit Jahren ausgesetzt werde und ein sofortiges Ende der “kollektiven Verfolgung” des Wikileaks-Gründers gefordert. “In 20 Jahren Arbeit mit Opfern von Krieg, Gewalt und politischer Verfolgung”, so Nils Melzer, “habe ich noch nie erlebt, dass sich eine Gruppe demokratischer Staaten zusammenschließt, um ein einzelnes Individuum so lange Zeit und unter so geringer Berücksichtigung der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit bewusst zu isolieren, zu verteufeln und zu missbrauchen”.
    Klarer und deutlicher als in dem Statement des UN-Folterexperten kann man kaum benennen, welchem menschenunwürdigen Unrecht Julian Assange seit Jahren ausgesetzt ist, doch abgesehen von einigen alternativen Medien erregten diese Anklagen kein größeres Aufsehen. Sie verschwanden sofort wieder aus den Nachrichten und der britische Außenminister Jeremy Hunt verbat sich die “hetzerischen Anschuldigungen” des UN-Berichterstatters.
    Quelle: Mathias Bröckers auf Telepolis

    dazu: Power Versus the Press: The Extradition Cases of Pinochet & Assange
    With Julian Assange facing possible extradition from Britain to the U.S. for publishing classified secrets, Elizabeth Vos reflects on the parallel but divergent case of a notorious Chilean dictator.
    Eight months from now one of the most consequential extradition hearings in recent history will take place in Great Britain when a British court and the home secretary will determine whether WikiLeaks publisher Julian Assange will be extradited to the United States to face espionage charges for the crime of journalism. Twenty-one years ago, in another historic extradition case, Britain had to decide whether to send former Chilean dictator Augusto Pinochet to Spain for the crime of mass murder.
    In October 1998, Pinochet, whose regime became a byword for political killings, “disappearances” and torture, was arrested in London while there for medical treatment. A judge in Madrid, Baltasar Garzón, sought his extradition in connection with the deaths of Spanish citizens in Chile. Citing the aging Pinochet’s inability to stand trial, the United Kingdom in 2000 ultimately prevented him from being extradited to Spain where he would have faced prosecution for human rights abuses.
    Quelle: Consortium News

  7. Freihandel mit Folgen
    Mit Applaus begrüßt die deutsche Exportindustrie die Einigung auf ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur. Das Abkommen, das Ende vergangener Woche nach 20 Jahre währenden Verhandlungen fertiggestellt wurde, senkt die Zölle dramatisch, mit denen die vier Mitgliedstaaten des Mercosur, darunter Brasilien, bislang ihre Industrie schützten. Es öffnet die Länder damit für Exporteure aus der EU. Die EU-Kommission spricht von Zolleinsparungen in Höhe von vier Milliarden Euro. Ein guter Teil davon wird den größten Mercosur-Lieferanten der EU, deutschen Unternehmen, zugutekommen. Umgekehrt öffnet das Abkommen die Agrarmärkte der EU für die südamerikanische Agrarindustrie – zum Schaden insbesondere französischer und irischer Bauern. Tatsächlich hat Berlin das Abkommen gegen Widerstand aus Paris durchgesetzt. Protest wird auch in Südamerika laut: Dort warnen Gewerkschaften vor einem “Todesurteil” für die einheimische Industrie und der Reduktion des Mercosur auf einen kolonialen Status als Rohstofflieferant der EU und Absatzmarkt für europäische Konzerne.
    (…) Die Hauptprofiteure
    Auf Seiten der EU erhoffen sich von dem Abkommen vor allem Industrieunternehmen steigende Profite…
    Rohstofflieferant und Absatzmarkt
    … Faktisch führt dies aller Voraussicht nach zu einer Stärkung der Rolle des Mercosur als Rohstoff- und Agrarlieferant der EU, während gleichzeitig die Industrie des Mercosur – soweit vorhanden – unter wachsenden Konkurrenzdruck gerät. Südamerikanische Kritiker warnen bereits ausdrücklich, das Freihandelsabkommen werde “katastrophale Auswirkungen” haben; es könne sich als “Todesurteil für unsere Industrie” erweisen, heißt es in einer Erklärung von insgesamt 20 Gewerkschaften aus den Mercosur-Staaten und Chile. Tatsächlich ist die Vereinbarung geeignet, den Mercosur auf eine klassisch koloniale Stellung festzulegen – als Absatzmarkt für EU-Industrieprodukte und Lieferant von Rohstoffen.
    Quelle: German Foreign Policy

    Anmerkung Marco Wenzel: CETA et cetera: Nun also ein Freihandelsabkommen mit Mercosur. Es geht aber nicht um freien Handel, es geht um die Interessen der Großkonzerne.

    Venezuela wird boykottiert, mit Faschisten macht die neue EU Handelsverträge. Dass dieser Vertag gerade jetzt, wo der Faschist Bolsonaro Brasilien terrorisiert, nach 20 Jahren Verhandlung zustande gekommen ist, ist besonders traurig. Es sagt aber auch genug darüber, wem er nützt. Den Kleinbauern weder in Lateinamerika als auch in Europa bringt er jedenfalls nichts.

    Wer sich mehr für die Fleischwirtschaft Brasiliens, die damit verbundene Umweltzerstörung, die Sklaverei-ähnlichen Arbeitsbedingungen, die dort herrschen und wer davon profitiert interessiert, dem sei die Broschüre „Die Fleischwirtschaft Brasiliens. Ausbeutung frisch auf den Tisch“ empfohlen.

    dazu: Bauernverband sieht Familienbetriebe durch Freihandelsabkommen bedroht
    Insbesondere Rindfleisch- und Geflügelzüchter und Zuckerbauern könnten betroffen sein: Am Entschluss der EU mit dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur die größte Freihandelszone der Welt aufzubauen, hat der Deutsche Bauernverband scharfe Kritik geäußert.
    “Es ist nicht zu akzeptieren, dass die EU-Kommission diese völlig unausgewogene Vereinbarung unterzeichnet”, sagte Bauernpräsident Joachim Rukwied. Er forderte die Staats- und Regierungschefs und das Europäische Parlament auf, die europäischen Standards für Landwirtschaft und Lebensmittel zu schützen. “Die Landwirtschaft darf nicht zugunsten der Automobilindustrie geopfert werden.”
    Ungleiche Anforderungen bei Umwelt- und Klimaschutz, beim Antibiotikaeinsatz und beim Pflanzenschutz sowie die fehlende ausreichende Absicherung des europäischen Marktes würden zu einer dramatischen Wettbewerbsverzerrung führen. Das Abkommen gefährde die Zukunft “vieler bäuerlicher Familienbetriebe, die unter den hohen europäischen Standards wirtschaften”.
    Die politischen Verhandlungen zwischen der EU und den Mercosur-Ländern Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay waren am Freitagabend abgeschlossen worden. Sie liefen mit Unterbrechungen bereits seit dem Jahr 2000. Über das Abkommen sollen Zölle und andere Handelshemmnisse abgebaut werden, um den Warenaustausch zu stärken und Unternehmen Kosteneinsparungen in Milliardenhöhe zu bringen.
    Durch das Abkommen würden aber auch die Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung aber konterkariert, kritisierte der Bauernpräsident. Er forderte die Staats- und Regierungschefs – auf, auf ein ausgewogenes Ergebnis hinzuwirken.
    Ablehnung kam auch von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Sie lehne “dieses unqualifizierte Freihandelsabkommen” ab. “Wir importieren aus diesen Ländern künftig nicht nur Rindfleisch, sondern die mit der stark industriellen Produktion verbundenen Klimaschäden und menschenunwürdigen Produktionsbedingungen”, sagte die Handelsreferentin des Verbands, Berit Thomsen.
    Quelle: SPON

    Anmerkung JK: Man muss dies explizit aus der Perspektive des Umweltschutzes sehen. Eine immer wieder erhobene Forderung bezüglich einer ökologischen Landwirtschaft ist, primär regionale Produkte zu kaufen um den Energieverbrauch beim Transport zu verringern aber auch um kleinen regionalen Anbietern den Vorrang zu geben und nicht der Agrarindustrie mit riesigen Monokulturen und deren negativen Auswirkungen auf die Umwelt etwa durch exzessiven Wasserverbrauch und Pestizideinsatz. In Südamerika dominiert das Agrarbusiness mit riesigen Farmen. Hier kommt ein weiterer Aspekt insbesondere in Brasilien hinzu, dort befindet sich der Großteil des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens im Besitz weniger reicher Familien, die sich nicht scheuen Kleinbauern mit teils brutalen Methoden von ihrem Land zu vertreiben oder die Landarbeiter unter ausbeuterischen Bedingungen zu beschäftigen. Eine Landreform ist seitjeher eine Forderung der politischen Linken in Brasilien. Es ist sicher keine Überraschung, dass die Großgrundbesitzer natürlich den Faschisten Bolsonaro unterstützen. Das alles spielt für die EU keine Rolle.

  8. Wenn ein Terroranschlag nicht aufgeklärt werden soll
    Amri-Ben Ammar-Komplex: Im Untersuchungsausschuss des Bundestages präsentieren sich ranghohe Staatsanwälte als Bremser und Strafvereiteler
    Der Verdacht beginnt sich zur Gewissheit zu verdichten: Die Hintergründe des Anschlages auf den Weihnachtsmarkt in Berlin am 19. Dezember 2016, der zwölf Menschen das Leben kostete und Dutzende verletzte, sollen nicht aufgeklärt werden. Anders sind die jüngsten Auftritte zweier hochrangiger Zeugen vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) des Bundestages nicht zu interpretieren: ein Oberstaatsanwalt der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und der stellvertretende Generalstaatsanwalt von Berlin.
    Klar wird außerdem: Die Abschiebung des Amri-Freundes Ben Ammar geschah auf Geheiß von zwei Bundesministerien. Es ist wie ein Anschlag nach dem Anschlag. Und die Frage ist, seit wann die Politik im Terrorkomplex Amri-Ben Ammar die Finger im Spiel hatte. Schon vor dem Anschlag?
    Die Abschiebung des Tatverdächtigen Tunesiers Bilel Ben Ammar sechs Wochen nach der Tat ist ein Schlüsselereignis. Und zwar deshalb, weil diese mutwillige politisch motivierte Aktion nicht mit den entschuldigend vorgebrachten Erklärungen der Sicherheitsbehörden kompatibel ist, man habe die Gefährlichkeit des späteren – mutmaßlichen – Attentäters Anis Amri falsch eingeschätzt. Wenn das so war, warum lässt man dann nach dem Anschlag wieder einen Verdächtigen gehen? Im Fall Ben Ammar wurde nicht etwa geirrt, sondern absichtsvoll gehandelt. Also auch im Fall Amri?
    Quelle: Telepolis
  9. Tag der Bundeswehr in Pfullendorf – ein Rückblick
    Am Tag der Bundeswehr (TdB) in Pfullendorf am 15. Juni 2019 öffnete das Ausbildungszentrum Spezielle Operationen der Bundeswehr seine Türen, um für Bundeswehr und Auslandseinsätze zu werben. Zuvor hingen die Städte über Wochen voll mit makaberster Werbung der deutschen Armee. Erwartet wurden 20.000 Besucher*innen – letztendlich verirrten sich „nur“ 12.500 in die Kaserne in Pfullendorf.
    Zum Programm, das die Bundeswehr vorbereitet hatte, gehörte auch ein Militärkonzert des Heeresmusikkorps Ulm, eine Hüpfburg, Feldpost schreiben, eine dynamische Vorführung des Kommando Spezialkräfte (KSK) und Fallschirmspringen. Interessant dabei: Das gesamte Programm wurde so gestaltet, dass es vor allem auf Kinder möglichst ansprechend wirken sollte. Kinder wurden sogar mit „Hallo liebe Kinder, hallo liebe Besucher“ explizit angesprochen. Immer wieder waren Kinder zu sehen, die auf Panzern kletterten. So verankert sich eine Normalisierung und Verharmlosung von Krieg und Militär schon im Kindesalter und ebnet den Weg für eine spätere „Karriere“ als Soldat*in, wie auch das Offene Treffen gegen Krieg und Militarisierung Stuttgart, das sich an Protesten gegen den TdB beteiligte, kritisiert
    Protest
    Das Bündnis „Keinen Tag der Bundeswehr“, an dem sich neben elf weiteren Gruppen auch die IMI beteiligte, rief zu einer Kundgebung vor den Kasernentoren auf. Dem Aufruf folgten etwa 50 Demonstrierende…
    Gewaltbereitschaft und rechte Bezüge
    Die Friedensaktivist*innen waren bestürzt über die Gewaltbereitschaft, die ihnen teilweise seitens der Besucher*innen entgegenschlug. So wurde beispielsweise eine vierköpfige Gruppe, die ein Transparent mit der Aufschrift „No war“ zeigte, von mehreren Besuchern*innen körperlich angegriffen. Die Aktivist*innen wurden gewürgt, geschubst und gekniffen, sie erlitten Prellungen…
    Erfolg für die Friedensbewegung
    Das Bündnis, das zu den Protesten gegen den TdB aufgerufen hatte, verbucht den Tag dennoch als Erfolg. Gerade die genannten Vorfälle verdeutlichen, dass es wichtig ist, die Bundeswehr nicht ungestört agieren zu lassen, sondern der Normalisierung von Militär und rechtem Gedankengut entgegenzuwirken…
    Quelle: imi

    dazu: Kampf um die Jugend
    Schul-Referate, Karriere-Stände, Web-Serien: Mit großem Aufwand bemüht sich die Bundeswehr um die Zielgruppe der Unter-18-Jährigen. Ist das legitim? Oder handelt es sich um Schleichwerbung unter dem Deckmantel sachlicher Informationsarbeit?
    (…) Die Gewerkschafterin Ilka Hoffmann ist Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Und sie hat eine klare Meinung. „Viel zu viele staatliche Gelder werden für die Rekrutierung ausgegeben.“ Allein im Grundschulbereich fehlten in Deutschland 25.000 Lehrkräfte, im Pflege- und Sozialbereich noch einmal deutlich mehr. „Dort wird jeder Mensch gebraucht, aber die Bundeswehr investiert 35 Millionen Euro in Werbespots“, echauffiert sich Hoffmann.
    Ihr Hauptkritikpunkt: Junge Menschen seien besonders empfänglich für markige Sprüche. „Dabei ist die Bundeswehr eben kein Arbeitgeber wie jeder andere. Wir reden von einem Arbeitsumfeld, in dem man lernt, Menschen zu töten.“ Diese Kontroverse komme bei den Unterrichtsbesuchen viel zu kurz…
    In Schulen in Baden-Württemberg wurden Jugendoffiziere im vergangenen Jahr 538 Mal vorstellig (in Gesamtdeutschland gab es etwa 4300 Vorträge)…
    Ilka Hoffmann hingegen findet: „Das ist keine politische Bildung, wenn eine Organisation für sich selbst spricht.“ Besonders stört sie, dass auch Unter-18-Jährige dienen dürfen. Im Jahr 2018 waren von 20.012 eingestellten Soldatinnen und Soldaten 1.679 minderjährig. „Das ist nicht vereinbar mit der UN-Kinderrechtskonvention, der sich Deutschland verpflichtet hat“, so Hoffmann. Gemeinsam mit dem Kinderhilfswerk „Terre des hommes“ hat die GEW eine Kampagne gestartet, mit der sie die Bundesregierung unter Druck setzen möchte („Unter 18 nie“)…
    Quelle: Kontext

  10. Deutschland, Du armes Land der Reichen
    Ich war schon drei Tage unterwegs und hatte mich oft darüber gewundert, was alles nicht klappen kann, wenn man in Deutschland mit der Bahn fährt, und was denen, die es in ihrem Land dennoch tun, zugemutet werden darf, ohne dass es zum täglichen Aufstand käme. Im ersten Zug fielen bloß die digitalen Reservierungen und Informationen aus, der zweite war dafür gleich ersatzlos gestrichen. Von den Anschlusszügen erwischte ich mindestens einen von dreien nicht, dafür bin ich – mit meinen 65 Jahren kein hinfälliger Greis, aber doch über das Tramperalter hinaus – einmal inmitten von Anzugträgern, die konzentriert an ihren aufgeklappten Laptops arbeiteten, auf dem Boden gesessen. Das Merkwürdigste war, dass ich von den Leuten, die auf den Bahnhöfen desinformiert herumirrten oder vor defekten Toiletten der Züge standen, kaum ein Wort der Empörung hörte. […]
    Nach und nach begriff ich, dass die meisten Reisenden das, was sie an Unbill erlebten, nicht für den skandalösen Einzelfall hielten, sondern für etwas, mit dem man als Zugreisender in der Ära des digitalen Fortschritts eben zu rechnen habe. Sie schienen keine Erinnerung mehr daran zu besitzen, dass diese Form der Fortbewegung einmal auch etwas anderes bedeutet hatte. Zum Beispiel, dass man seine Uhr sprichwörtlich nach der Eisenbahn stellen konnte!
    Vor Jahren haben der Schriftsteller Martin Pollack und ich eine Anthologie mit literarischen Texten über Galizien herausgegeben. Als Titel wählten wir “Das reiche Land der armen Leute”, weil das alte Galizien reich an Bodenschätzen und landwirtschaftlichen Nutzflächen, aber seine Bevölkerung dennoch bettelarm war. Mit Deutschland, kommt mir vor, verhält es sich heute umgekehrt, es ist ein “armes Land der reichen Leute” geworden, denn das reichste Deutschland, das es jemals gegeben hat, lässt seine Infrastruktur vor den Augen aller verfallen, wie man es sich zu schlechteren Zeiten nicht hätte vorstellen können. Da mag notorisch darüber geklagt werden, dass der Sozialstaat in den Bürgern ein Anspruchsdenken habe wachsen lassen, das der Staat finanziell einfach nicht mehr befriedigen könne. In Wahrheit verhält es sich oft gerade umgekehrt, haben die Leute doch vergessen, worauf sie früher einen selbstverständlichen Anspruch besaßen!
    Ich bin wahrlich nicht der Erste, der das sagt, aber habe es erst jetzt als staunender Besucher aus der Nachbarschaft in all seiner Drastik wahrgenommen: Dass es nämlich nicht nur Menschen gibt, die über ihre Verhältnisse leben, sondern auch Staaten, die unter ihren Verhältnissen wirtschaften. Der deutsche Verkehrsminister und der Vorsitzende der Bahn haben angekündigt, dass diese bis 2030 die Zahl der beförderten Fahrgäste verdoppeln werde. Nach Lage der Dinge ist das eine gefährliche Drohung.
    Quelle: Süddeutsche

    Anmerkung JK: Treffend bemerkt, Deutschland ist ein Land, das unter seinen wirtschaftlichen Verhältnissen lebt. Im Namen des neoliberalen Dogmas der “schwarzen Null” lässt man die Infrastruktur des Landes sehenden Auges verfallen. Verantwortung tragen dafür Politiker wie der Finanzminister Olaf Scholz (SPD), der sich in der Rolle des blinden Vollstreckers der neoliberalen Ideologie gefällt.

  11. Propagandakracher „Schuldenlüge“ DDR war moralisch bankrott, aber nicht pleite
    Die Kanzlerin klagte kürzlich in der Fragestunde des Bundestages, zu wenige Menschen würden sich an die schonungslose Analyse des DDR-Systems durch Günter Mittag erinnern. Günter Mittag? Da brachte die alleswissende Kanzlerin einiges durcheinander, obwohl sie sich doch mit dem Ende der DDR auskennen müsste. Es ging um den Wunsch der Linken, das Treiben der Treuhand in einem Untersuchungsausschuss zu untersuchen, was der in Treuhandzeiten aktiven Politikerin Merkel nicht gefallen kann. Diese Aufarbeitung will sie nicht.
    Tatsächlich gab es diese schonungslose, erschütternd klare Analyse. Aber sie kam von Gerhard Schürer, dem Chef der Staatlichen Plankommission, zu einem Zeitpunkt, als der steinerne Wirtschafts-Politbüronik Mittag samt Chef Erich Honecker hinweggefegt waren. […]
    Die DDR-Bevölkerung erfuhr von alldem nichts, doch das brisante Papier gelangte aus dem hochvertraulichen Kreis in den Westen. Als die seit Mitte November 1989 amtierende DDR-Regierung Modrow/Luft im Februar 1990 zu Verhandlungen mit Bundeskanzler Kohl nach Bonn reiste, wedelte man dort mit dem Dokument (das die Ost-Delegation nach eigenem Bekunden nicht kannte) und begründete mit den Zahlen die knallharte Position: Ihr seid pleite! Es gibt nichts zu verhandeln. Geld gibt es schon gar nicht.
    Aber traf das zu? Die DDR war politisch bankrott, aber war sie auch finanziell pleite? Zahlungs- und handlungsunfähig? Die Zeitzeugen und seinerzeit unmittelbar Beteiligten, die kürzlich im Erzählsalon des Verlages Rohnstock Biografien zum Thema „Schuldenlüge“ sprachen, sagten eindeutig: So war das nicht! Sie setzen der gängigen Geschichtsversion ihre eigene entgegen. Gut begründet. Sie haben die Bundesbank und andere West-Institutionen auf ihrer Seite, die das rituell verbreitete Schuldenmärchen längst korrigiert haben. Doch die Wahrheit dringt nicht durch.
    Walter Siegert, 1990 Finanzminister der Modrow-Regierung, einer der Rohnstock-Gäste, zitierte die Bundesbankberichte, die den DDR-Schuldenstand Ende der 1990er-Jahre aus der Drama-Ecke herausgeholt hatten: Als nachgerechnet war, blieben von den im Schürer-Papier angeführte 49 Milliarden Valutamark Schulden, die das Schürer-Papier anführte, noch 19 Milliarden übrig. Dieser Summe standen Guthaben entgegen, die die DDR in Entwicklungsländern hatte. So habe die DDR auch diese 19 Milliarden noch bezahlt, bilanzierte Siegert. […]
    Aus Sicht des Wirtschaftshistoriker Prof. Jörg Roesler eignete sich das Schürer-Papier nach der Vereinigung als propagandistischer Kracher, denn die Abfolge wirtschaftlicher Fehlentscheidungen hatte in den Jahren 1990/91 ja tatsächlich zu einem Absturz der DDR-Wirtschaft geführt. Der Pleite-Mythos half nun, auf den politisch geeigneten Schuldigen zu zeigen.
    Quelle: Berliner Zeitung
  12. Die Sozialdemokratie hat ihre Aufgabe erfüllt. – Ein Nachruf auf die SPD
    Sozialdemokratisches ist längst nicht mehr das Monopol der Sozialdemokratie. Es ist Allgemeingut. Aber was heisst das für eine Partei wie die SPD?
    Sozialdemokratismus, verstanden als verwirklichter und sich ständig weiterentwickelnder Wohlfahrtsstaat (nicht zu verwechseln mit dem Paradies), ist in Deutschland sowie im politisch westlichen Europa gelebter Alltag und gehört zur unumstrittenen Basis fast aller Parteien. Die SPD hat also ihre historische Mission erfüllt. Deshalb stirbt sie ab.
    Seit je konzentrierte sich die Sozialdemokratie aufs materielle Wohl der Menschen. Zunächst der Menschen «ganz unten», dann, als Volkspartei, «der» Gesellschaft». Seit den späten 1960er Jahren sind die meisten westeuropäischen Gesellschaften materiell weitgehend zufriedengestellt. Postmaterialistisches bekam immer mehr Gewicht, und diese Entwicklung entzog der Sozialdemokratie strukturell den Boden unter den Füssen.
    Quelle: NZZ

    Anmerkung Albrecht Müller: Dieser Artikel des deutschen Professors Michael Wolffsohn in der Neuen Zürcher Zeitung ist in mehrerer Hinsicht interessant:

    Da verbreitet ein vom Steuerzahler ausgehaltener Professor die in einer großen langfristigen Kampagne vermittelte Mär, unsere Gesellschaft sei sozialdemokratisiert und deshalb sei der Job der Sozialdemokratie erledigt.

    Dazu muss dieser Professor behaupten, Sozialdemokratismus, verstanden als verwirklichter Wohlfahrtsstaat sei gelebter Alltag. Die meisten westeuropäischen Gesellschaften seien materiell weitgehend zufriedengestellt. Daraus lernen wir, dass ein deutscher Professor offensichtlich keine Ahnung von der Realität eines Großteils der Jugendlichen und jungen Erwachsenen hat, die sich mit unsicheren Arbeitsverträgen und befristeten Arbeitsverträgen herumzuschlagen haben. Vielleicht weiß der Professor das nicht, weil er an einer Bundeswehr-Hochschule tätig war. Besonders abstrus ist diese Unterstellung angesichts der Situation vieler lohnabhängig arbeitenden Menschen in anderen westeuropäischen Gesellschaften, in den ost- und südosteuropäischen und südlichen Gesellschaften sowieso. Hohe Jugendarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit kennzeichnet viele Völker, die zur Europäischen Union gehören. Vielleicht schaut sich der Herr Professor mal diesen 3sat Film an. Dort, in den meisten Ländern des Ostens, des Südostens und des Südens Europas wie auch in Deutschland wäre für eine richtige Sozialdemokratie noch ausgesprochen viel zu tun.

  13. #Freitag13: Hochschul-Industrie
    Warum haben wir Unis, Hochschulen und ihre Sub-Unternehmer für den Schwarzen Freitag am 13. September 2019 nominiert?
    Hochschul-Industrie: Schluss mit der Niedriglöhnerei!
    Studentische Hilfskräfte werden als Lehrkräfte, als Tutorinnen (die Klausuren korrigieren), in der Forschung, in der Verwaltung von Projekten (inklusive Öffentlichkeitsarbeit, Social Media, Veranstaltungsorgane), in Sekretariaten, im IT-Bereich und als ungenannte Hilfs-Rechercheure für ihre ProfessorInnen eingesetzt. Die Arbeitsverträge sind befristet. Kettenbefristungen können bis zu 6 Jahren laufen: Auch dieses Arbeitsunrecht ist verrechtlicht, nicht in einem der vier Hartz-Gesetze, sondern im Wissenschafts-Zeitvertrags-Gesetz…
    (…) Erpressbar
    Zwei Drittel der Studierenden (68 Prozent) sind auf einen Nebenjob angewiesen. Da ist ein Nebenjob an der Hochschule mehrfach attraktiv: Der hat (hoffentlich) mit dem Studieninhalt zu tun, man ist mit anderen Studierenden oder auch mal mit dem Professor zusammen, und: kein Extraweg!
    Das macht aber zugleich erpressbar. Die Niedriglöhne werden hingenommen. Da werden schon mal Überstunden gemacht, wenn es eilig ist, auch wenn sie nicht bezahlt werden. Und wer verklagt notfalls den eigenen Professor oder die eigene Professorin?…
    Kostengünstiger Universitätsbetrieb
    Die neoliberale Gewinnschinderei hat längst auch die Hochschulen erfasst. Konzerne, auch die Bundeswehr und das US-Pentagon finanzieren Forschungen (deren Ergebnisse geheim bleiben). Konzerne wie Deutsche Bank, die Energie- und Versicherungskonzerne finanzieren allein in Deutschland hunderte von Stiftungs-Lehrstühlen und Institute im Bereich Energie, Finanzen, Materialwirtschaft, Künstliche Intelligenz u.ä. Sie wollen zeit- und ortsnah das wissenschaftliche Potential billig abschöpfen…
    (…) Streiken nützt! Mehr davon!
    Wenn der Betrieb der Hochschulen schon so abhängig geworden ist von den immer mehr Hilfskräften, dann haben die auch eine wachsende Macht, eigentlich. Man muss sich nur zusammentun.
    Der große Streik an der Berliner Hochschulen im Jahre 2018, auch unterstützt von der Bildungsgewerkschaft GEW, hatte Erfolg. Die zeitlich unbegrenzte Besetzung des Audimax der TU Berlin gehörte zu den Maßnahmen. „Revolution first, studies second – Streik jetzt“ und „Lernfabriken meutern“ und „Mitbestimmung statt Ausbeutung“ waren die Parolen.
    Online-Voting #Freitag13: >> Zur Abstimmung
    Quelle: Aktion Arbeitsunrecht

    Anmerkung Werner Rügemer: Unsere Aktion gegen arbeitsunrecht schlägt damit vor, die Ausnutzung der 400.000 studentischen und der 40.000 wissenschaftlichen Hilfskräfte an den Hochschulen in Deutschland anzuprangern. Das soll konzentriert am Kampagnentag “Schwarzer Freitag der 13.” am 13. September 2019 geschehen, in Zusammenarbeit mit studentischen Initiativen in möglichst vielen Städten.

  14. Zu guter Letzt: Lange Partynacht: Anwohner von McKinsey-Zentrale beklagen sich über Ruhestörung
    Düsseldorf (dpo) – Was war da denn los? Die Düsseldorfer Polizei hat in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch mehrere Anrufe wütender Anwohner erhalten, die sich über lauten Partylärm aus der Deutschland-Zentrale des Beratungsunternehmens McKinsey beschwerten. Die Polizei musste mehrfach anrücken.
    “Das ging so kurz nach 19 Uhr los”, erzählt ein Anwohner. “Das weiß ich ziemlich genau. Ich hab da nämlich gerade auf mein Handy geschaut, weil ich eine Spiegel-Eilmeldung reinbekommen habe, dass Ursula von der Leyen als EU-Kommissionspräsidentin nach Brüssel gehen soll. Und genau in dem Moment höre ich da so ein Ploppen und bei mir ist sogar ein Champagnerkorken in den Garten geflogen.”
    Zeugen berichten von lauter Musik, Geschrei und Sprechchören. “Die ganze Nacht lang skandierten die immer wieder ‘UR-SU-LA! UR-SU-LA!’ oder ‘E-U-GEL-DER! E-U-GEL-DER!’”, klagt eine weitere Anwohnerin. “Ich habe die ganze Nacht kein Auge zubekommen. Ich will gar nicht wissen, wie viel die gekokst haben müssen.” […]
    Die Ereignisse in Düsseldorf waren dabei deutschlandweit nicht der einzige Fall extremer Ruhestörung: Auch die Anwohner zahlreicher Bundeswehr-Kasernen beklagten sich über lang anhaltenden Partylärm.
    Quelle: Der Postillon


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