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Titel: Rechtsruck der „Blätter“? Ja, meint Peter Becker und kündigt sein Abo

Datum: 4. Februar 2022 um 12:20 Uhr
Rubrik: Medienkritik
Verantwortlich:

Dr. Peter Becker ist Rechtsanwalt und Mitbegründer der International Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA). Er hat seine Entscheidung zur Kündigung seines langjährigen Abonnements der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ lange abgewogen. – Die NachDenkSeiten veröffentlichen seine Kündigungsbegründung, weil das, was Peter Becker bei den „Blättern“ beobachtet hat, symptomatisch für die gesamte Welt der Medien in Deutschland ist. Die ehedem kritischen, teilweise linken und liberalen Medien sind in den letzten Jahren systematisch umgedreht worden. Das gilt für den Spiegel, für die taz, für die Süddeutsche Zeitung, für die Frankfurter Rundschau und für große Teile des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Siehe zum Beispiel Maybrit Illner von gestern Abend. Es gilt für soziale und Verteilungsfragen genauso wie für das Verhältnis zu den Aussätzigen der Weltpolitik, zu Russen und Chinesen. Albrecht Müller.

Peter Becker belegt seine Beobachtung an sechs konkreten Texten, die in den „Blättern“ zwischen 2014 und heute erschienen sind. Seine Anmerkungen sind auch politisch aktuell.

Beckers kritische Anmerkungen sind wichtig, weil die „Blätter“ ein Image hochhalten, das durch die dargebotenen Inhalte offensichtlich nicht mehr gerechtfertigt ist. Bitte weitersagen.

Beckers Anmerkungen könnten insbesondere auch für den Kreis der Herausgeber der „Blätter“ – siehe hier – wichtig sein. Offensichtlich haben einige der Herausgeber gar nicht gemerkt, was mit diesem Blatt geschehen ist. Dies gilt beispielsweise vermutlich für Detlef Hensche, Rudolf Hickel, Friedrich Schorlemmer, Hans-Jürgen Urban, Peter Bofinger.

Es folgt der Text von Dr. Peter Becker:

Ich bin langjähriger Abonnent der Blätter für deutsche und internationale Politik. Aber weil ich meine, einen Rechtsruck der Blätter wahrzunehmen, habe ich das Abonnement gekündigt.

Begründung: Hinwendung zum Mainstream der deutschen Politik.

Die Veröffentlichungen von Manfred Quiring, Putins Poker (Blätter 8/2014), von Andreas HeinemannGrüder: Die Radikalisierungsdynamik des Putinismus (Blätter 10/2014), Manfred Quirings Aufsätze Der Westen als Feindbild: Wie Russland Politik betreibt (Blätter 7/2018), Putins Staatsräson: Der Feind steht im Westen (Blätter 9/2021), beanstande ich wegen ihrer russlandfeindlichen Tendenz, den von Herfried Münkler, Eine Weltordnung ohne Hüter: Afghanistan als globale Zäsur (Blätter 10/2021), wegen seiner USA-Verharmlosung. Aber ich beginne mit einem Aufsatz, der mich motiviert hätte, die Blätter zu abonnieren:

  1. Andreas Heinemann-Grüders, Ukraine: Revolution und Revanche (Blätter 6/2014):
     
    S. 39: „Auf dem zentralen Protestplatz Maidan übernahmen ab Januar 2014 organisierte Gewalttäter die Regie, friedlicher Massenprotest verwandelte sich in einen Aufstand. Ein Teil der Demonstranten ging mit Wurfgeschossen, Eisenketten, Katapulten, Molotowcocktails und Gassprays, zunehmend auch mit Schusswaffen gegen die Sicherheitskräfte vor.“ […]

    S. 40: „Zahlreiche Videomitschnitte vom Maidan, ein abgehörtes Telefonat zwischen Catherine Ashton und dem estnischen Außenminister Urmas Paets sowie Aussagen der ukrainischen Ärztin Olga Bogomolez nähren den Verdacht, dass mehrere Berkut-Polizisten und Demonstranten von denselben Scharfschützen erschossen wurden, also nicht auf Befehl von Janukowitsch – vermutlich, um aus der Gewalteskalation politischen Gewinn zu schlagen. Der neue Innenminister, Arsen Awakow, räumt vieldeutig ein, dass eine ‚dritte Macht‘ (jenseits der staatlichen Berkut-Kräfte und der Demonstranten) eine ‚Schlüsselrolle‘ auf dem Maidan gespielt habe.[1] Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine ermittelte gegen die Scharfschützen, gab aber am 21. März 2014 nur bekannt, dass es sich um ukrainische Staatsbürger handele. Dem estnischen Außenminister Paets zufolge ‚wächst schnell das Verständnis dafür, dass hinter diesen Scharfschützen nicht Janukowitsch, sondern jemand aus der neuen Koalition gestanden hatte‘.[2] Russland fordert die OSZE seit Anfang März 2014 dazu auf, zu klären, wer die Scharfschützen angeheuert hatte.“ […]

    S. 40: „Ukraine, jetzt Swoboda-Partei, vom ‚Kommandeur des Maidan‘, der die bewaffneten Schützen befehligt hatte, zum Vorsitzenden des nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates. Oleh Tjahnybok, Chef der nationalistischen Swoboda und Dritter im Bunde der Revolutionsführer, gilt dem Jüdischen Weltkongress als Neonazi, er kam auf der Liste des Simon-Wiesenthal-Zentrums im Jahre 2012 auf Platz fünf der schlimmsten Antisemiten weltweit. Zwar wollten US-Außenminister Kerry und Kanzlerin Merkel sich nicht mit Tjahnybok treffen, doch US-Senator John McCain tat es – ohne ein Wort der Abgrenzung vom Rechtsextremismus.“ […]

    S. 41: „Revolutionsrecht oder Völkerrecht?
    Wer Aufständische und einen Regimewechsel gutheißt, kann sich nicht glaubwürdig darüber empören, dass die Gegenseite zu Methoden greift, die er selbst ins Repertoire eingeführt hat. Er kann sich nur darüber empören, dass die andere Seite die eigene Hegemonie nicht anerkennt.“ […]

    S. 41: „Das Krim-Referendum sei illegitim, hieß es von westlicher Seite. Doch wer für sich höheres Revolutionsrecht reklamiert oder sich – wie im Falle des Irak – höhere Moral im Umgang mit dem Völkerrecht attestiert, kann schlecht im Handumdrehen das Recht anmahnen, wenn der
    Gegenspieler es missachtet. Nach der ukrainischen Revolution stellte der Konstitutionalismus für Putin keine Hürde mehr dar, aber schon davor war ‚der Maidan‘ gleichsam zum Volkssouverän anstelle des Wahlvolkes avanciert.“ […]

    S. 43: „Ethnische Russen haben ein legitimes Interesse, als Minderheit geschützt zu sein. Legitim ist gewiss auch die Sorge vor sozialen und ökonomischen Verwerfungen infolge der Kreditbedingungen des Internationalen Währungsfonds und des Freihandels mit der EU. Berechtigt sind auch die durch Handel vielfältig verflochtenen Interessen russischer und ukrainischer Unternehmen – ein Argument, dass im Falle deutscher Wirtschaftsinteressen in Russland stets hoch veranschlagt wird.
    Doch der Westen meinte schlicht, Russland und Putin nicht verstehen zu müssen. Dabei hätte auch die deutsche Außenpolitik in einem frühen Stadium Möglichkeiten der wechselseitigen Verständigung aufzeigen können. Ein ethisches, aber auch politisch kluges Krisenverhalten hätte den Idealzustand einer ethnischen, politischen und regionalen Integration der Ukraine antizipieren müssen. Neben den handfesten EU-Meinungen zur Reform der ukrainischen Wirtschafts- und Sozialpolitik hätte sie durchaus auch zum Minderheitenschutz Stellung nehmen können. Erst im Angesicht eines unkontrollierten Bürgerkrieges unternahmen die Außenminister Frankreichs, Polens und Deutschlands den Versuch, die Eskalation zu bremsen. Doch ihr Bemühen kam zu spät, die Kriseneskalation nahm ihren Lauf.“ […]

    S. 44: „Der Westen sollte daher anerkennen, dass die Ukraine dauerhaft von einem westukrainischen und einem russischen Osten geprägt ist – […]. Worauf es jetzt vor allem ankommt, ist ein nationaler Ausgleich in der Ukraine – ohne Ausgrenzung und ohne aufgenötigte Entscheidung zwischen Europa oder Russland. Die ukrainische Regierung wäre gut beraten, unter den Minderheiten, vor allem den ethnischen Russen, Vertrauen zu bilden mit Zweisprachigkeit und kulturellen Autonomierechten. Eine große Herausforderung wird darin bestehen, die paramilitärischen Verbände des ‚Rechten Sektors‘, aber auch der prorussischen Separatisten aufzulösen und das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen.“ […]

    S. 45: „Für eine Generalüberholung der deutschen und europäischen Russlandpolitik“ […]

    S. 46: „Auf die obsolete Partnerschaftsrhetorik folgen nach der Annexion der Krim mehr oder weniger hilflose Sanktionen, die den schwierigen Spagat versuchen, einerseits westliche Missstimmung auszudrücken, aber andererseits eine Rückkehr des Kalten Krieges zu verhindern. Konservative Politiker in den USA und in Europa betreiben indes interessierte Panikmache, indem sie eine Gefährdung für die gesamte Ukraine, die baltischen Staaten, Polen und den Nordkaukasus heraufbeschwören. Dem deutschen Außenminister FrankWalter Steinmeier ist zugute zu halten, dass er sich mit Umsicht und Beharrlichkeit jeder Kriegstreiberei entgegenstellt und aus der ungezügelten Eskalation im Georgienkrieg 2008 Lehren für das Krisenmanagement gezogen hat.“ […]

    S. 46: „Vordringlich wäre es, lange Zeit dysfunktionale gemeinsame Institutionen zu reformieren: die OSZE, den Nato-Russland-Rat und das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der EU.“ […]

    S. 46: „Es mag paradox klingen, aber wer der russischen Führung nur Niederlagen beibringen will, wird in einer Art self-fulfilling prophecy genau das Verhalten von Putin bekommen, das man verhindern will. Wir müssen davon ausgehen, dass Putin eben noch eine ganze Weile nicht ‚kaputt‘ ist.“

    Geradezu prophetisch!

  2. Das genaue Gegenteil tut sich auf in Manfred Quirings Aufsatz Putins Poker (Blätter 8/2014); auch rhetorisch:
     
    S. 13: „Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs okkupierte Moskau einen Teil eines Nachbarstaates, beraubte ein Mitglied der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein anderes:“ […]

    S. 13: „Der an den Haaren herbeigezogenen Vorwand für die Hast [bei der Volksabstimmung; der Verf.]: Die russische Bevölkerung auf der Krim werde von den ‚Faschisten in Kiew‘ bedroht, die auf dem Maidan-Platz in der ukrainischen Hauptstadt ihr Unwesen trieben. Sie müsste ‚geschützt‘ werden.“

    Das war am 16.03.2014, dem Tag der Volksabstimmung, und das traf zu! Aber das ist falsch:

    S. 14: „Doch mit der Präsidentenwahl in der Ukraine, die der Oligarch und ‚Schokoladenkönig‘ Petro Poroschenko mit knapp 55 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang für sich entschied, wurden die Rechtsextremen deutlich marginalisiert. Ihre militanten Vertreter, Dmytro Jarosch und Oleh Tjahnybok, kamen zusammen nicht einmal auf zwei Prozent der abgegebenen Stimmen.“

    Denn die Präsidentenwahl war erst am 25.05.2014, über zwei Monate später! Die Informationen sind wohl besser geworden. Bei den folgenden Ausführungen

    S. 16: „Doch Putin lässt sich nicht in die Karten schauen. Will er die Ostukraine annektieren? Will er die Ukraine, die er ohnehin nicht als selbständigen Staat anerkennt, so weit destabilisieren, bis ihm die Bruchstücke von selbst in die Hände fallen? Geschickt jongliert er mit seinen Optionen.“
    übersieht Quiring, dass die NATO keine Staaten im Bürgerkrieg aufnimmt und dass Putin das weiß. Der Bundeswehr-Brigadegeneral a.D. Klaus Wittmann weist in einem Leserbrief an die FAZ vom 31.05.2021 auf Folgendes hin: „Die NATO […] hatte schon in der ‚Erweiterungsstudie‘ von 1995 festgelegt, dass sie keine Einladung zum Beitritt an Staaten mit ‚external territorial disputes‘ ausspricht. Das ist ja – leider – Moskaus ‚Hebel‘. […]“

    Putin „jongliert“ auch nicht „mit seinen Optionen“, sondern versucht mit seiner Unterstützung der Separatisten, die Ukraine am NATO-Beitritt zu hindern. Deswegen ist das Folgende auch nicht richtig:

    S. 16: „Putin nutzte die zeitweilige Abwesenheit einer Führung in Kiew, um sich die Krim handstreichartig einzuverleiben.“

    Das war eine Notmaßnahme um zu verhindern, dass zukünftig NATO-Soldaten die russische Marinebasis in Sewastopol „schützen“.

  3. Offenbar gingen Andreas Heinemann-Grüder seine Bekenntnisse im Voraufsatz zu weit. Zum Ausgleich greift er in seinen Aufsatz Die Radikalisierungsdynamik des Putinismus (Blätter 10/14) Russland frontal an:
     
    S. 17: „Der Ukrainekrieg ist der zweite nach dem Georgienkrieg (2008), in dem sich Putins Russland der Nato-Erweiterung militärisch entgegenstellt und zu diesem Zwecke Gebiete eines Nachbarstaates unter seine Kontrolle bringt.“

    Die Behauptungen lassen aus, dass georgische Streitkräfte unter Anführung von Präsident Saakaschwili Abchasien und Südossetien überfielen, und erst dann schlug russisches Militär die georgischen Soldaten zurück. Das steht seit der EU-Untersuchung des Vorfalles unter Vorsitz von Heidi Tagliavini fest. Und den Krieg in der Ostukraine begannen die Separatisten, weil die Minsker Vereinbarungen nicht umgesetzt wurden, die dem Donbas größere Autonomie gegeben hätten.

    S. 77: „Putin ist nicht ideologisch motiviert, sondern vom Interesse getrieben, die Ukraine als Staat in ihrem gegenwärtigen Bestand aufzulösen oder zumindest dauerhaft zu destabilisieren, ihre Verfassung der russischen anzugleichen und die ukrainische Neutralität zu erzwingen.“

    Putin will tatsächlich „die Ukraine als Staat in ihrem gegenwärtigen Bestand“ auflösen? Dafür fehlt jeder Beleg. Ihm geht es um die Verhinderung des NATO-Beitritts, den die USA auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 herbeiführen wollten, was Deutschland und Frankreich im letzten Moment verhinderten.

    S. 79: „In einer eigentümlichen Volte halten die Neorealisten dem Westen vor, was sie Putin zugestehen.[3] Hätte der Westen nicht die Nato erweitert, nicht die Kriege im Kosovo, im Irak, in Libyen geführt, nicht die Opposition in Syrien unterstützt und stattdessen Russlands ‚legitime Interessensphären‘ geachtet, so die Unterstellung, dann wäre die Konfrontation mit Russland vermeidbar gewesen. Der Westen ist demnach schuld an Putin.“

    Wieso „Unterstellung“? Genauso ist es. Der nun folgenden Feststellung stimme ich aber zu:

    S. 79: „Jeden russischen Politiker, gleich welcher Couleur, hätte zudem die Aussicht auf Nato-Basen auf der Krim und auf Desintegration der Wirtschaftsbeziehung zur Ukraine besorgt.“

    Der aber nicht:

    S. 79: „Putins Frust über den ‚scheinheiligen Westen‘ erklärt jedoch nicht die Krimannexion und die militärische Landnahme in der Ostukraine – von den Rechtfertigungen ganz zu schweigen: Das internationale System nötigt Putin mitnichten, das Völkerrecht zu missachten, er hat vielmehr eine Wahl getroffen, die systemisch, kontextuell und situativ zu erklären ist.“

    Die Krimannexion geschah in erster Linie, um dort NATO-Basen zu verhindern. Und die „militärische Landnahme in der Ostukraine“ ist nach dem bereits zitierten Brigadegeneral a.D. Wittmann mit „Moskaus Hebel“ zu erklären; genauso die „Missachtung des Völkerrechts“.

    Ich verstehe auch nicht die folgende Feststellung:

    S. 80: „Wenn Putin eines begriffen hat, dann dass sein Regime nicht durch die EU-Orientierung der Ukraine, sondern durch die Legitimationskrise des westlichen Autoritarismus bedroht ist.“

    Was ist „westlicher Autoritarismus“? Und wieso hat Putin „begriffen“, dass sein Regime „durch die Legitimationskrise des westlichen Autoritarismus bedroht ist“?

    Putins Regime wird, wie das jedes Staatenlenkers, durch wirtschaftliche Misere gefährdet. Falsch ist auch,

    S. 80: „Offenkundig möchte Putin den Anschluss jener Teile der Ukraine, die er ‚Neurussland‘ nennt“. „Anschluss“ braucht er nicht; es reicht, den Konflikt im Donbass am Köcheln zu halten.

    Im folgenden Kapitel vergleicht Heinemann-Grüder Putin mit Mussolini und Mugabes langjähriger Herrschaft in Simbabwe: Verfehlt, die Vergleiche passen nicht. Aber den abschließenden Ausführungen stimme ich zu:

    S. 85: „Die Vorgeschichte und die Eskalation des Krieges verdeutlichen, wie dringlich sicherheitspolitische Vereinbarungen über den Informationsaustausch, militärische Verifikationen und militärisch ausgedünnte Zonen zwischen Russland, der Ukraine und den neuen Nato-Staaten sind. Der ausgesetzte bzw. nicht ratifizierte ‚Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa‘ sollte zumindest für diese hochbrisante Region erneut auf die Tagesordnung gesetzt werden. Dies schlösse auch Gegenleistungen der neuen Nato-Staaten und der Nato als ganzes ein.

    Sollte es tatsächlich gelingen, den Konflikt auf diese Weise einzufrieren, müsste es außerdem darum gehen, an Grundsätze der ‚friedlichen Koexistenz‘ anzuknüpfen, allerdings mit einer fundamentalen Ausnahme: Eine Rückkehr zur wechselseitigen Gewähr von Einflusssphären wie im Kalten Krieg darf es im 21. Jahrhundert nicht mehr geben.“

  4. Manfred Quiring, Der Westen als Feindbild: Wie Russland Politik betreibt, Blätter 7/2018.
     
    Quirings einleitenden Satz zu Trumps „aggressiven Freund-Feind-Denken“ verstehe ich als Tribut an die realistischer werdende US-Sicht in den Medien, um dann umso hemmungsloser auf Russland einprügeln zu können:

    S. 71: „Wer die neuen Verfeindungen seitens der USA aufzeigt und aus diesem Grunde für eine neue Entspannungspolitik der Europäischen Union speziell gegenüber Russland plädiert, sollte sich allerdings auch bewusst machen, dass hier schon seit langem mit dem Feindbild des ‚Westens‘ die Militarisierung des Landes und seiner Bevölkerung betrieben wird.
    Besonders deutlich wird dies alljährlich am 9. Mai, dem Tag des sowjetischen Sieges über Hitlerdeutschland. In diesem Jahr wurde diese Feier besonders laut und demonstrativ begangen.“

    S. 71: „Natürlich war die Siegesparade auf dem Roten Platz in Moskau zuallererst eine Demonstration und ein Signal an den Westen: Wir, die russische Führung, sind bereit, die uns zustehende Führungsrolle in der Welt wieder einzunehmen. Wir haben die Fähigkeit und – siehe Syrien – auch den Willen dazu.“

    Falsch: Assad hat Russland eingeladen. Deswegen war übrigens die Intervention vereinbar mit dem Völkerrecht.

    S. 72: „Bei der Bewahrung dieser Traditionen, wie Jarowaja und ihre zahlreichen nationalpatriotischen Gesinnungsgenossen sie verstehen, setzte die russische Propagandamaschine auch am diesjährigen Tag des Sieges schon bei den Jüngsten an. […] Das ‚Sabaikalskoje TV‘ hatte ein besonderes Highlight zu bieten. Es berichtete aus der Region Tschita – einst berüchtigt wegen der hohen Gulag-Dichte – von einer szenischen Darstellung des unmenschlichen Lebens in einem deutschen Konzentrationslager. Unter freiem Himmel reiht sich eine Grausamkeit an die andere: Es wurde geprügelt, der kleinste Widerstand mit Erschießung bestraft. Erst das Erscheinen der Sowjetsoldaten setzt dem grausigen Spiel ein Ende.“

    „Propagandamaschine“?: KZ-Sendungen sind auch in Deutschland üblich. Der Hinweis auf die Gulags ist berechtigt, aber er passt nicht. Denn das KZ-System diente dem Holocaust, also einem Genozid. Das ist der Unterschied zu Stalins Repression.

    S. 73: „Kritik an Russland ist »russophob«

    Im russischen Selbstverständnis ist die Welt – vielleicht mit Ausnahme von Nordkorea, Syrien, Venezuela und Nicaragua – von ‚Russophobie‘ ergriffen. Dieser Begriff hat in den vergangenen Jahren verstärkt in die russische Politik Einzug gehalten, er ersetzt die Auseinandersetzung mit konkreten Divergenzen. Kritische Bemerkungen aus dem Ausland, die Moskau nicht passen, wurden und werden zunehmend als ‚Russophobie‘ eingestuft.“ Deshalb arbeiten Leute wie ich als „Russophone“.

    S. 74: „Oleg Nemenski, ein leitender Mitarbeiter des Instituts für strategische Studien, kam zu der Erkenntnis, dass die Russophobie eine Ideologie sei, die in vielem dem Antisemitismus ähnele, aber ausschließlich Bezug auf Russland nehme. In ihrem Kern sei die Russophobie ‚eine eindeutig westliche Ideologie. […]‘“

    Stimmt. Aber sie greift auf Staaten wie Polen über.

    S. 75: „Inzwischen strebten die USA als Anführer der westlichen Welt auch danach, ‚Führer in der Feindschaft uns gegenüber zu sein.“

    Stimmt auch. Siehe meinen Aufsatz Plädoyer eines Putinverstehers (NachDenkSeiten 08.12.2021, nachdenkseiten.de/?p=78691).

    S. 75: „In einer über 40 Minuten andauernden Animationsshow stellte der russische Staatschef sechs ‚Wunderwaffen‘ vor, mit denen die russischen Streitkräfte mit den Amerikanern gleichziehen oder sie sogar überholen wollen.“

    Nur betrug der US-Militäretat 2020 738 Milliarden USD, der russische dagegen 61,7 USD.

    S. 75: „Es ist allerdings nicht das Trauma des angeblich gebrochenen Versprechens, die Nato nicht nach Osten auszudehnen. Denn dieses Versprechen hat es nie gegeben, es ist ein sorgfältig gepflegter Mythos, dem auch viele deutsche Politiker erlegen sind.[4]“

    Mythos“? (griechisch: Legende): Wie passt dazu die Aussage von Manfred Wörner, deutscher NATOGeneralsekretär, vom 17. Mai 1990: „Schon die Tatsache, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der Bundesrepublik Deutschland zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien.“[5] Und die berühmten Äußerungen von Bundesaußenminister Genscher, was die Aussagen zur „Nichtausdehnung der NATO betreffe, so gelten diese ganz generell“, war immerhin die Aussage des Außenministers eines NATO-Mitgliedstaats. Und für die Aufnahme eines neuen Staates in die NATO gilt das Einstimmigkeitsprinzip.

    Es fällt auf, dass der Wikipedia-Eintrag zur NATO-Ost-Erweiterung zum Jahreswechsel 2021/22 eine wichtige Änderung erfahren hat: Im Ausgangstext hieß es: „Kontroverse um Zusagen an die Sowjetunion“. Neuerdings heißt es: „Vermeintliche Zusagen an die Sowjetunion“. Quiring arbeitet mit seinem Buch und dem Verweis darauf an der Umgestaltung der Historie, an Fakes.

    S. 76: „Tatsächlich hat der russische Präsident damit ein für Moskau handhabbares Instrument sowohl für die ideologische Aufrüstung im Innern als auch für den Informations- und Propagandakrieg gegen ‚den Westen‘ geschmiedet. Es macht die Lücke deutlich, die sich zwischen den üblichen offiziellen russischen Absichtserklärungen, die von ‚Putinverstehern‘ in Deutschland so gern kolportiert werden, und der tatsächlichen Denkweise hinter den Kremlmauern auftut.“

    Auch ich reihe mich ein unter die „Putin-Versteher“. Der Schlusssequenz stimme ich zu:

    S. 76: „So sehr es daher richtig bleibt, gerade in diesen hoch angespannten Zeiten unter Donald Trump eine Verständigung mit Moskau zu suchen, so sehr kommt es darauf an, dabei nicht naiv zu sein, sondern stets auch das russische Freund-Feind-Denken kritisch im Blick zu behalten.“

  5. Manfred Quiring, Putins Staatsräson: Der Feind steht im Westen, Blätter 9/2021
     
    Dieser Aufsatz, der im Titel offensichtlich an den vorigen anknüpft, könnte auch in der FAZ mit ihrer „russophoben“ Linie stehen (das kann ich auf Anforderung belegen):

    Erwähnt wird die „Strategie der nationalen Sicherheit“ vom August 2021, die auch zur Überprüfung von Theaterspielplänen eingesetzt werde; nach Ansicht von Trenin, dem Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, das „Manifest einer neuen Epoche, die Schließung von Memorial, die Giftanschläge auf Skripal und Nawalny“. Abschließend heißt es:

    S. 104: „Fest steht: Die russische Führung hat mit ihren jüngsten restriktiven Entscheidungen, in deren Zentrum die Strategie der nationalen Sicherheit steht, den autoritären Druck im Innern des Landes noch einmal deutlich erhöht. Gleichzeitig hat der Kreml zahlreiche der noch existierenden Verbindungen nach Westeuropa gekappt oder genau das in Aussicht gestellt. Auch wenn man Trenins Worten von der ‚neuen Ära‘ nicht unbedingt folgen mag, so wird doch überaus deutlich: Wir haben es mit einer Zäsur in den Beziehungen Russlands zum Westen zu tun, deren Auswirkungen noch gar nicht in vollem Umfang abzuschätzen sind. Eines hat Putins neue Sicherheitsdoktrin indes unmissverständlich klargestellt: Für den Kreml steht der Feind im Westen – das ist jetzt Staatsräson.“.

    Richtig. Das ist ja leider das Ergebnis der westlichen „Russophobie“

    Manfred Quiring war jahrelang Korrespondent der „Welt“, eines Blattes aus dem Springer-Verlag, in Moskau. Da hatte er alle Hände voll zu tun, westliche Werte auf Springer-Art zu verteidigen. Aber dass er dafür die Blätter einspannen kann, ist ein Indiz für den Rechtsruck der Blätter.

  6. Münklers Aufsatz in den Blättern 10/2021, der längste in diesem Heft, heißt „Weltordnung ohne Hüter“.
     
    Da der Aufsatz auch von den USA handelt, hält er diese offenbar für den „Hüter“, den „Globocop“, wie es an anderer Stelle heißt. Münkler ist wohl auf die Propaganda der USA hereingefallen, die die USA erfolgreich als Hüterin der Weltordnung in den letzten Jahrzehnten ausgegeben hat. Dabei zettelten die USA in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg zahllose Kriege an, fielen mit ihrer Armee in vielen Staaten ein, ihre CIA stürzte viele Staatschefs. Man muss das tolle Buch von William Blum lesen, Zerstörung der Hoffnung (Killing Hope): Bewaffnete Interventionen der USA und des CIA seit dem 2. Weltkrieg (2014), um zu begreifen, dass die USA nicht der „Hüter“, sondern der Zerstörer der – von ihr mit geschaffenen – Weltordnung sind, genannt „Vereinte Nationen“. Die freilich kommen in Münklers Aufsatz nur am Rande vor, als „Versuch, an die Idee des Völkerbundes mitsamt seiner wertgebundenen Ordnung wieder anzuknüpfen“ (S. 70). Davon hält Münkler wenig, und zwar wegen der Paralyse des Sicherheitsrats durch die Vetos der USA und der UdSSR im Kalten Krieg. Deswegen plädiert er für die Übernahme der „Hüter“-Rolle durch eine „neue Pentarchie der Ordnungsgaranten“, als die er die USA, China, Russland, die EU („wenn sie denn zusammen bleibt“) und Indien sieht (S. 75 f.). Möglich werde dies dadurch, dass „die Wert- und Normorientierung des Westens […] zunehmend als Belastung der Außen- und Sicherheitspolitik angesehen und deswegen schrittweise in den Hintergrund gedrängt werden“ (S. 74). Das bedeutet nichts anderes, als dass die „Normorientierung“, also das Völkerrecht, verdrängt wird durch eine neue Ordnung, in der freilich die EU nur dann mitspielt, „wenn sie […] ihre außen- und sicherheitspolitische Fähigkeit deutlich vergrößert“ (S. 76), also durch militärische Aufrüstung.

    Das entspricht zwar der Linie vieler Kommentare in Politik und Medien, allen voran der FAZ, aber das afghanische Desaster beruhte nicht auf militärischem Versagen, sondern auf dem Irrglauben, dass „nationbuilding“ vor allem Aufgaben des Militärs und von US-Dollar-Fluten seien. Das ist aber nicht so (siehe Verf.: Die gescheiterte Afghanistan-Mission und die Folgerungen für die Parlamentsbeteiligung, in den NachDenkSeiten vom 13.10.2021 – https://www.nachdenkseiten.de/?p=76917).

    Deswegen war das Afghanistan-Debakel zwar eine Zäsur für die USA,

    • aber keine Folge des „imperial overstretch“ (Münkler, S. 65),
    • deswegen auch nicht letztlich ein Erfolg (Münkler, S. 63),
    • genauso wenig wie Napoleons Rückzug aus Russland 1812 als „berühmtestes Beispiel“ für letztlich erfolgreiche Rückzüge (Münkler, S. 64).

    Münkler hält sich für einen großen Weltendeuter. Aber seine souveräne Missachtung des Völkerrechts, der UN, der eigentlichen Rolle der EU, die für „Frieden durch Recht“ eintreten könnte und sollte, ist schon beängstigend und einer Veröffentlichung in den Blättern nicht würdig.

  7. Der Richtungswandel ist schade.

[«1] Jutta Smirnowa, Wer hat die Demonstranten auf dem Maidan erschossen?, in: „Die Welt“, 6.3.2014.

[«2] „Ukrainische Staatsanwaltschaft kennt Namen der Scharfschützen vom Maidan“, in: RIA Novosti Kiew, 21.3.2014, Paets bestätigt die Authentizität des abgehörten und auf youtube.com verlinkten Telefonats

[«3] John Mearsheimer, Why the Ukraine Crisis is the West’s Fault, in: “Foreign Affairs”, 9/10, 2014 wwwforeignaffairs.com; auf Deutsch: Ders., Putin reagiert. Warum der Westen an der Ukrainekrise schuld ist, www.ipfjournal.de, 1.9.2014

[«4] Vgl. Manfred Quiring, Putins russische Welt. Wie der Kreml Europa spaltet, Berlin 2017, darin insbesondere: Der Mythos vom Verzicht auf die Osterweiterung, S. 102-107.

[«5] Silvia Stöber, tagesschau.de v. 03.12.2021.


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