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Titel: SPD-Fortschrittsprogramm – Kaum ein Fortschritt

Datum: 20. Januar 2011 um 9:36 Uhr
Rubrik: Das kritische Tagebuch
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Die Autoren des Entwurfs für ein SPD-Fortschrittsprogramms [PDF – 424 KB] hätten sich viele Seiten sparen können, wenn sie den Wurf eines alternativen Welt- und Menschenbilds zum vorherrschenden (neoliberalen) Weltbild gewagt hätten. Dazu vor allem noch ein wirtschaftspolitisches Gegenkonzept zu dem von der einzelwirtschaftlichen Unternehmerlogik bestimmten und getriebenen herrschenden Dogma skizziert hätten. Damit hätten sie vielleicht eine öffentliche Debatte zwischen einem konservativen und einem fortschrittlichen Gesellschaftsentwurf anstoßen können. Im vorliegenden Entwurf unter der Überschrift „Neuer Fortschritt und mehr Demokratie.“ wird stattdessen auf 43 Seiten viel richtige Kritik an den untragbaren Zuständen auf zentralen Politikfeldern geübt, ohne dass ausgesprochen wird, wie und warum es dazu gekommen ist und wie einen Wende herbeigeführt werden könnte. Wolfgang Lieb

Man hätte so etwas wie eine neue „geistig-moralische Wende“ beschreiben können. Stattdessen irrlichtert der Entwurf zwischen massiver und richtiger Anklage der bestehenden Zustände, der Rechtfertigung sozialdemokratischer Politikverantwortung und vielfach detailbesessener, oftmals technokratischer Lösungsvorschläge. Die Forderungen sollen einerseits Sachkompetenz vorspiegeln, weisen aber – wie etwa das Konzept der „Bürgerversicherung“, die „einheitliche Qualitätsstandards für die medizinische und pflegerische Versorgung für alle Versicherten gleichermaßen“ schaffen soll – noch erheblichen Klärungsbedarf auf. Bis auf die Bildungspolitik, wo immerhin „ein bitteres Resultat“ „auch für Sozialdemokraten“ eingeräumt wird, unterstellt das Papier als hätte die sozialdemokratische „Reformpolitik“ alles richtig gemacht und als sei „es“ wie ein Unglück über uns gekommen, dass „sich“ „für wachsende Gruppen der Gesellschaft … das mit dem Fortschrittsverständnis verbundene Aufstiegsversprechen nicht mehr“ einlöst. (S. 3)

Das Papier versucht einen Spagat zwischen der kritischen Analyse der realen Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte und dem Selbstlob des eigenen politischen Handelns. Dieses Auseinanderklaffen von Kritik und Verantwortung für das Kritisierte durchzieht den gesamten Programmentwurf und nimmt vielen guten Vorschlägen für die Zukunft viel von ihrer Glaubwürdigkeit.

Da wird z.B. kritisch angemerkt: „Bewährte soziale Solidaritätsmechanismen werden als Standortdefizit im internationalen Wettbewerb denunziert.“ Klingt einem dabei aber nicht noch die röhrende Stimme von Gerhard Schröder bei der Ankündigung der „Agenda 2010“ vom März 2003 im Ohr? Originalton Schröder „Die Struktur unserer Sozialsysteme ist seit 50 Jahren praktisch unverän­dert geblieben. An manchen Stellen, etwa bei der Belastung der Arbeitskosten, führen Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu Ungerechtigkeiten. Zwischen 1982 und 1998 sind allein die Lohnnebenkosten von 34 auf fast 42 Prozent gestiegen.
Daraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden.“

An vielen Stellen findet sich ein eindeutiges Bekenntnis zum Sozialstaat: „Der Sozialstaat ist die wichtigste zivilisatorische Leistung des 20. Jahrhunderts. Er ist die Grundlage einer sozialen Demokratie … Angesichts der sozialen Schieflage in unserem Land brauchen wir einen Kurswechsel.“ (S. 20) Von einem Rückbau des von Schröder angekündigten und vollzogenen „Umbaus des Sozialstaates“ ist allerdings nirgendwo in dem Papier die Rede.

Wir halten „an der paritätischen Finanzierung unserer Sozialsysteme fest“. (S. 22) Wurde aber die paritätische Finanzierung der Altersvorsorge nicht gerade auch von der SPD aufgekündigt? Etwa mit der Einführung der ausschließlich aus den Beiträgen der Arbeitnehmer finanzierten kapitalgedeckten Riester-Rente oder mit den schon von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt eingeführten „Zusatzbeiträge“ bei der Finanzierung der Krankenversicherungen, die einseitig von den Versicherten zu leisten sind?

Auf solche Widersprüche zwischen dem eigenen politischen Handeln in der Vergangenheit und Bekenntnissen für die Zukunft stößt man auf fast allen in diesem Entwurf abgehandelten Feldern. So heißt es etwa: „Es bleibt vieles zu tun, um den Banken ihre eigentliche dienende Funktion zurück zu geben, d. h. die Sammlung von Kapital und die Versorgung der Wirtschaft mit Krediten.“ Ja, richtig, möchte man zustimmen, aber kein einziges der vielen Gesetze, die unter Hans Eichel und Peer Steinbrück zur Deregulierung der Finanzmärkte und damit zur Dominanz des Investmenbankings und damit auch der Spekulation in Kraft gesetzt wurden, wird in dem Papier in Frage gestellt. Da wird noch nicht einmal der von Franz Müntefering einst angekündigte Kampf gegen die „Heuschrecken“ aufgenommen. Stattdessen wird die vielfach auch schon von der Bundesregierung (zumindest angekündigte) magere Kost geboten: höhere Eigenkapitalquoten (aber natürlich mit angemessenen Fristen für die Anpassung), schärfere Regulierung hochspekulativer Produkte, effektivere Aufsicht über Rating-Agenturen, transparentere Bilanzregeln
Finanztransaktionssteuer oder ein echter (!) von den Banken finanzierter Sicherungsfonds. Immerhin wird noch eine Trennung von Geschäfts- und Investment-Banken gefordert.

Man könnte an noch vielen anderen Stellen geradezu eine Blockade gegen eine Korrektur eigener Fehler nachweisen. Diese Abwehr einer Fehleranalyse ist schon deswegen geradezu grotesk, weil man so tut als habe es seit 2003 nicht zahllose Korrekturen z.B. bei den Hartz-Reformen gegeben. Von Hartz I bis III etwa redet heute kaum noch jemand, vom „Job-Floater“, von den Personal Service Agenturen (PSA), von der Ich-AG oder wie die technokratischen Instrumente alle hießen, spricht heute kein Mensch mehr. Sie haben sich entweder als Flop erwiesen oder sind still und heimlich ausgelaufen. Und die unter der Mitverantwortung von sozialdemokratischen Ministern festgelegten Hartz-IV-Regelsätze sind schließlich vom Bundesverfassungsgericht gestoppt worden. Wären die Sozialdemokraten früher umgeschwenkt hätten sie es jetzt auch leichter im derzeit tagenden Vermittlungsausschuss ihre Forderungen anzumelden.

Was fehlt, ist vor allem ein fortschrittliches wirtschaftspolitisches Gegenkonzept zum herrschenden Kurs. Da wird in dem Papier zurecht kritisiert, dass „geringe Löhne und niedrige Steuern…nicht automatisch zu mehr Investitionen in Deutschland“ führten und stattdessen „Milliardengewinne in weltweite riskante Finanzmarkt- und Immobilienspekulationen“ flossen (S. 11). Wachstum dürfe nicht länger primär auf Überschüsse im Außenhandel gründen, sondern man müsse die hohen Exporte durch eine höhere Binnennachfrage ausbalancieren. (S. 13) Aber statt einen Vorschlag zu machen, wie man die Binnennachfrage steigern könnte (etwa durch die Forderung nach der Einhaltung der Lohnregel (Inflation plus Produktivitätsgewinn)) schwenkt das Papier sofort wieder auf das angebotsorientierte Dogma ein, wonach man die Kaufkraft der Massen gar nicht braucht, weil vor allem die Unternehmen durch ihre Investitionen für Binnenkonsum und Wachstum sorgen.

Es wird zwar eingestanden, dass „trotz der erheblichen Steuersenkungen für Unternehmen und trotz der maßvollen Lohnanhebungen, die zu einer spürbaren Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommen führte, … die Investitionsquote nicht höher als in früheren Jahrzehnten“ war, aber – so als habe man aus dieser Erfahrung nichts gelernt – der angebotsökonomische Kurs wird munter weitergefahren. So heißt es da: „Wir brauchen einen Investitionsaufschwung. Dafür brauchen wir eine Wirtschaftspolitik, die Investitionen sowohl seitens des Staates als auch von Privaten konsequent fördert. Nur so kann Deutschland dem fortwährenden Druck auf Löhne und Gewinne begegnen.“ (S. 14) Deshalb müssten „gezielte steuerliche Anreize für Investitionen gegeben werden“. (S. 14)

Die SPD zieht also keine Konsequenz aus der in dem Entwurf selbst beschriebenen Erfahrung, dass „eine Wirtschaftspolitik der Umverteilung zugunsten der Unternehmen und pauschale Steuervorteile … noch keinen Investitionsschub“ (S. 14) bewirken, sie will in Zukunft die Steuervorteile nur gezielter einsetzen. Damit bleibt sie der herrschenden ökonomischen Lehre verhaftet und bietet keine wirtschaftspolitische Alternative. Sie will es nur etwas besser machen als die Konservativen. Aber gerade weil sie aus dem Scheitern einer auf die simple Unternehmenslogik ausgerichteten Lehre offenbar nichts lernen will, dürfte ihr kein neues Vertrauen in ihre wirtschaftspolitische Kompetenz entgegengebracht werden. Die Erfahrung des Scheiterns dieser angebotsorientierten Politik haben nämlich die Arbeitnehmer schließlich in den letzten Jahrzehnten auch gemacht und durch einen Blick in ihren Geldbeutel bestätigt finden können.

In meiner bisherigen Analyse des Papiers habe ich den gleichen Fehler gemacht, wie die Autoren selbst: Wo es eigentlich doch um einen neuen Fortschrittsbegriff gehen sollte, hat man den Fortschritt mit den Vorschlägen auf verschiedenen Politikfeldern gleichgesetzt. Oder kurz gesagt: Fortschritt ist das, was wir wollen.

Ob damit aber ein neu zu gebendes Fortschrittsversprechen glaubwürdiger wird, darf bezweifelt werden. Zumal bei diesem Versprechen die gleichen Ungereimtheiten auftauchen, wie bei dem Spagat zwischen der Kritik an den obwaltenden Zuständen und dem Selbstlob.

Da wird einleitend gesagt: „Fortschritt war für Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten immer ein gesellschaftlicher Fortschritt: zu mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität.“ Dann wird behauptet, dieses alte Fortschrittsmodell sei „brüchig“ geworden, denn der Fortschritt, den wir erlebten, sei entkoppelt – von der Verbesserung von Lebensqualität und Einkommen und der Sicherung von Nachhaltigkeit und Mitsprache. Man könnte allerdings auch genau umgekehrt sagen, dieses alte Fortschrittsbild ist deshalb brüchig geworden, weil es aufgegeben worden ist – und zwar gerade auch während der Zeit sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung.

Sozusagen zur Selbstverteidigung wird angeführt, dass sich „in den letzten Jahrzehnten … neoliberale und marktradikale Ideen überall auf der Welt verbreitet und die politische Praxis geprägt“ hätten. Es wird also wiederum so getan, als seien uns diese Ideen sozusagen von außen aufgezwungen worden. Man tut also gerade so, als hätten etwa Tony Blair und Gerhard Schröder nichts damit zu tun, dass diese Art von „Fortschritt“ „Verunsicherung statt Hoffnung“ gebracht hat, dass sich dieser Fortschritt „den wir erleben“ „von der Verbesserung von Lebensqualität und Einkommen“ etc. entkoppelt hat.

Da wird richtig beschrieben: „Wo der Fortschritt keine Hoffnung, keinen Wohlstand für alle, nicht mehr Lebensqualität und Teilhabe ermöglicht, brechen Demokratie- und Fortschrittskonflikte aus. Fortschritt heute ist eine Erfahrung der Ambivalenz. Der Mensch ist zu einem Spielball von Märkten, technokratischen Notwendigkeiten und vermeintlichen Sachzwängen geworden. Der Mensch fühlt sich allein gelassen. Er sieht sich einer Gesellschaft gegenüber, in der anonyme Prozesse und Akteure regieren. Das Argument des Sachzwangs ist zur Zwangsjacke geworden. In solch einem Klima können Zuversicht, Sicherheit, Engagement und neue Ideen nicht entstehen. Die Tatsache, dass das alte Fortschrittsmodell offensichtlich an Grenzen stößt, ist für manche sogar Anlass, alle Hoffnung auf weiteren Fortschritt aufzugeben. Nicht wenige halten gar das Ende von Demokratie und Sozialstaatlichkeit für gekommen.“

Statt nun danach zu fragen, warum sich „für wachsende Gruppen der Gesellschaft das mit dem Fortschrittsverständnis verbundene Aufstiegsversprechen“ nicht mehr einlöst und warum „die Reformversprechen der wirtschaftlichen und politischen Eliten … für viele Menschen“ sich als „leer“ erwiesen, wird in dem Entwurf die Schuld nicht etwa in der Politik sondern bei den Verunsicherten und Enttäuschten gesucht. Sie flüchteten sich in ein „Muster“ von „Angst und Pessimismus“, sie verharrten in einer „skeptischen Grundhaltung gegenüber der politischen Gestaltungskraft von Fortschritts- und Veränderungsprozessen“. In einem Klima der Verunsicherung wachse der Wunsch nach Sicherheit und die die Menschen klammerten sich an das Vertraute. (S. 5) Ängste, Verunsicherung, Skepsis gegenüber dem in der letzten Epoche erfahrenen „Fortschritt“ werden also nicht auf die erfahrbare Realität zurückgeführt, sondern als psychologisches Phänomen abgestempelt, ja noch mehr: Menschen die sich gegen solcherart „Fortschritts- und Veränderungsprozesse“ stemmen werden als konservative Kleinbürger, die sich ans Vertraute klammern, abgetan. Es herrsche „zunehmend eine pauschale Fortschrittskritik vor, die sich inzwischen mehr kultur- und zivilisationskritischer als sozioökonomischer Argumente bedient“ (S. 4).

„Die für eine dynamische, wirtschaftlich und sozial erfolgreiche Gesellschaft unverzichtbaren Projekte und Veränderungen werden immer seltener die Zustimmung der Bevölkerung finden, wenn es bei dieser skeptischen Grundhaltung gegenüber der politischen Gestaltungskraft von Fortschritts- und Veränderungsprozessen bleibt.“ (S. 5) Die Frage ist doch aber gerade, was sind die „unverzichtbaren Projekte“. Ist Stuttgart 21 „unverzichtbar“, ist eine CO2-Pipeline durch dicht besiedeltes Gebiet „unverzichtbar“, ist Hartz „unverzichtbar“ usw.?

Die Renitenz des Volks dieses „Lümmels“ (Heinrich Heine) „gegenüber der politischen Gestaltungskraft (?) von Fortschritts- und Veränderungsprozesen“ wird also nicht mehr – wie einst bei Schröder – als „Vermittlungsproblem“ der Politik gegenüber der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger verstanden, sondern dieses Aufbegehren wird als Pessimismus, also als eine psychische Deformation der Aufbegehrenden behandelt. Als ginge es nur darum, eine Therapie zu entwickeln, diesen Pessimismus abzubauen.

Das Therapiekonzept ist einfach: Die Skeptiker sollten sich einfach nur an der psychischen Verfasstheit von Sozialdemokraten orientieren: „Wir Sozialdemokraten teilen einen solchen Pessimismus nicht. Wir halten auch weiterhin gesellschaftlichen Fortschritt für notwendig und möglich – national wie europaweit und international. Unsere Gesellschaft bleibt gestaltbar und nichts ist vorherbestimmt. Die Zukunft ist offen.“ Eine sozialdemokratische Frohschar soll also den weit verbreiteten Pessimismus vertreiben.

Mehr als diesen sprühenden Optimismus und sozialdemokratische Politikvorschläge zu verbreiten leistet dieser Entwurf für einen neuen Fortschrittsbegriff nicht.

Letztlich entpuppt sich der neue Fortschrittsbegriff nach viel Wortgeklingel als der alte, angeblich brüchig gewordene: „Gemeinsam mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Europa und anderen Teilen der Welt treten wir für eine Politik ein, die sich erneut einen umfassenden gesellschaftlichen Fortschritt zum Ziel setzt: für mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität.“ (S. 6)

Und wie die Alten sungen, wird dann noch Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ und Willy Brandts „mehr Demokratie wagen“ (S. 11) hintereinander gereiht und schon hat man „neuen Fortschritt“.

Wo bleibt das Positive? Viele der kritischen Beschreibungen des Arbeitsmarktes, des Niedrigsteuerlands Deutschland, der Umverteilung von unten nach oben, der Misere der Bildungs- und Ausbildungssituation sind richtig. Auch vielen einzelnen Vorschlägen möchte man gerne folgen und auf ihre politische Verwirklichung hoffen. Was aber das Papier nicht schafft, das ist an einen neuen Fortschritt zu glauben, der die Werte des alten sozialdemokratischen Fortschrittsversprechens wieder in die praktische Politik umzusetzen vermag.

Diese Zweifel sind deswegen angebracht, weil das Papier so viele Widersprüche in sich birgt. Und diese Widersprüche spiegeln nur wieder, dass die Schnittmenge der Ziele, über die man sich innerhalb der Sozialdemokratie derzeit verständigen kann, so klein ist, dass jedenfalls aus diesem Entwurf für einen „neuen Fortschritt“ kein allzu großes Vertrauen in ein neues Fortschrittsversprechen gedeihen kann.


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