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Titel: Jubelstimmung – Deutschland, einig Vaterland?

Datum: 4. Oktober 2010 um 10:18 Uhr
Rubrik: Finanzkrise, Gedenktage/Jahrestage
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20 Jahre deutsche Einheit – ein Grund zum Feiern? Das ist die Frage. Zunächst aber habe ich mich gefragt, wie es denn 1989 und 1990 in Deutschland aussah. Da gab es nach dem sich anbahnenden Zerfall des sogenannten Ostblocks immer noch die BRD und die DDR. Die Bundestagswahlen in der BRD standen bevor; als Kanzlerkandidat trat Oskar Lafontaine 1990 gegen Helmut Kohl an. Laut den statistischen Erhebungen stand die SPD mit ihrem Kandidaten Lafontaine in der Wählergunst vorn.
Aber der damalige Bundeskanzler Kohl reiste nach der Öffnung der Grenze und der Auszahlung von Begrüßungsgeld an die „armen“ Brüder und Schwestern zum Wahlkampf in die DDR. Er versprach blühende Landschaften und die D-Mark und erreichte die Vereinigung der beiden deutschen Staaten – oder vielmehr die Übernahme der DDR durch die BRD – noch kurz vor der Wahl, sodass die Menschen in der ehemaligen DDR ebenfalls den neuen gesamtdeutschen Bundestag wählen konnten. Durch diesen Schachzug, der heute in den Medien allgemein als großartige Leistung Kohls gefeiert wird, gewann er seinerzeit die Wahl. Und das Leben in Deutschland veränderte sich grundlegend. Sozialabbau, Finanzmarktkapitalismus, Kriegseinsätze, Entstaatlichung und Entsolidarisierung der Gesellschaft sind nur einige wenige Stichworte dafür. Von Wolfgang Bittner

In den folgenden Jahren wurde das Staatsvermögen der DDR versilbert. Es floss weitgehend in die Taschen der Spekulanten, die ihre Chance erkannt hatten, nutzten und in ihren windigen Geschäften nicht nur nicht gehindert, sondern noch gefördert wurden. Das dem Volk der DDR gehörende Vermögen wurde also privatisiert. Das war – so lässt sich rückblickend feststellen – der größte Betrugs-Skandal in der Geschichte der Bundesrepublik: Die „Abwicklung“, wie man es nannte, des DDR-Vermögens durch die Treuhand-Anstalt.
1990 schätzte der erste Treuhand-Chef, Detlef Rohwedder, das DDR-Vermögen auf ca. 600 Milliarden DM. Bei der Auflösung der Treuhand-Anstalt im Jahre 1994 betrugen die Schulden ca. 250 Milliarden DM. Gute Geschäfte für Spekulanten und Betrüger, staatlich organisiert, auf Kosten der Bevölkerung.
Der allergrößte Betrugs-Skandal folgte dann allerdings ab 2007 und 2008, offenkundig zunächst mit der Pleite der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers und in Deutschland mit der drohenden Insolvenz der Hypo Real Estate Bank. Es stellte sich heraus, dass deutsche Banken auf dem internationalen Finanzmarkt Roulette gespielt und wertlose Papiere in Billionenhöhe erworben hatten; auch die Landesbanken, die einen öffentlichen Auftrag wahrzunehmen haben, wozu keinesfalls die getätigten Spekulationsgeschäfte gehörten.
Das zur Bankenrettung bereitgestellte Kapital erreichte die unvorstellbare Summe von 500 Milliarden Euro. Allein bei der Hypo Real Estate Bank fehlten 102 Milliarden, dann noch einmal 40 Milliarden und kürzlich wurden Papiere der Hypo Real Estate Bank im Wert von 200 Milliarden Euro in eine sogenannte Bad-Bank ausgelagert. Wie es weitergeht, steht in den Sternen, zur Rechenschaft gezogen wurde niemand.
Seit dieser unter der Bezeichnung „Internationale Finanzkrise“ laufenden verbrecherischen und desaströsen Finanzmanipulationen rechnet man in Regierungskreisen nur noch mit Milliarden. Der europäische Rettungsschirm für die Gemeinschaftswährung beträgt sogar 750 Milliarden Euro. Die Bevölkerung wird zur Kasse gebeten, die Spekulanten haben sich saniert, machen weiter und baden sich in satten Gehältern, Bonuszahlungen, Abfindungen oder Renten.
Übrigens waren die Bonus-, Abfindungs- und überhöhten Gehalts- und Rentenzahlungen maroder Unternehmen an Manager, die sich auf ihre vor der Krise geschlossenen Verträge beriefen, rechtswidrig, und zwar nach §§ 242, 303 des Bürgerlichen Gesetzbuches und – soweit es sich um Aktiengesellschaften handelt – nach §§ 87, 93 und 116 des Aktiengesetzes: Das nennt sich „Störung der Geschäftsgrundlage“ oder auch „angemessenes Verhältnis“. Wenn sich also die Umstände, unter denen Verträge geschlossen wurden, wesentlich geändert haben, sind sie anzupassen oder aufzulösen (dazu mein Beitrag in der NRhZ vom 29.7.2009). Bisher ist niemand ernsthaft gegen die Verfehlungen der Vorstände und Aufsichtsräte, denen eine Vermögensbetreuungspflicht obliegt und die haftbar sind, eingeschritten.
Zwei weitere Zahlen sollten nicht verschwiegen werden, nachdem nun wieder überall zu hören ist, die DDR sei vor ihrer Übernahme durch die reiche BRD schon bankrott gewesen. Es sind noch unvorstellbarere Zahlen als die für die Rettung der Banken und des Euro: Die Staatsverschuldung in Deutschland beläuft sich zurzeit auf die Summe von rund 1.800 Milliarden Euro, das sind also 1,8 Billionen. Und die Staatsverschuldung der USA beträgt sogar mehr als 13,6 Billionen Dollar. (Der ehemalige Diplomat Ralph Hartmann widerlegt übrigens die Behauptung vom seinerzeit angeblich bevorstehenden Staatsbankrott der DDR in seinem Buch Die DDR unterm Lügenberg, Ossietzky Verlag 2008).
Das ist die Wirklichkeit in der wir heute leben. Immer noch wird auf der Leiche des „realen Sozialismus“ herumgetrampelt, ohne Alternativen zum „realen Kapitalismus“ auch nur zu erwägen. Weitgehend verschwiegen wird bis heute, dass Lafontaine sich 1998 und 1999 als Finanzminister vergeblich bemühte, das europäische Lohn-, Steuer- und Sozialdumping zu verhindern. Außerdem beabsichtigte er die Finanzmärkte zu regulieren und die Währungsspekulationen zu unterbinden, wofür er in der Folgezeit nach seinem Rücktritt verteufelt wurde.

Eine Anmerkung noch aus meiner Sicht als Schriftsteller: Bis 1990 gab es in der Bundesrepublik eine finanziell verhältnismäßig gut dastehende Kulturszene. Es gab zahlreiche – auch linke – Kulturinitiativen, Kommunikations- und Kulturzentren, Stadtteil- und Schulbibliotheken usw. Außerdem gab es eine recht aktive linke Verlags-, Medien- und Buchhandelsszene. Das hat sich grundlegend geändert. Die „Konkurrenz der Systeme“ ist weggefallen und es ist kein Geld mehr für diese Art von Kultur da. Die Zahl der Autorinnen und Autoren hat sich 1990 durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten deutlich erhöht, die zur Verfügung stehenden Gelder wurden jedoch nicht angeglichen, sondern in den folgenden Jahren ständig gekürzt, und zwar bereits vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Situation hat sich noch verschärft durch den fortschreitenden Kultur-, Bildungs- und Sozialabbau seit Beginn der Krise. Da geht es den Kreativen nicht anders als der übrigen Bevölkerung – soweit es sich nicht um die Spekulanten, Absahner, Politikerdarsteller und das sonstige Packzeug handelt, dass sich auf Kosten der breiten Bevölkerung die Taschen füllt.
Für sozial Schwache, für Kultur und Bildung ist kein Geld da, die Zahl der Leiharbeiter und Hartz-IV-Empfänger wächst. Zugleich hören wir, dass die Finanzspekulationen weitergehen, dass zum Beispiel Manager der heruntergewirtschafteten und staatlich gestützten Banken nach wie vor Gehälter in zum Teil zweistelliger Millionenhöhe erhalten. Die verstaatlichte Hypo Real Estate Bank verteilt 25 Millionen als Boni an ihre Mitarbeiter, sie zahlt Jahresgehälter von jährlich 500.000 Euro und bewilligt Rentenansprüche für kurzfristige Vorstandstätigkeiten von monatlich 20.000 Euro.
Und damit sind wir wieder bei der Frage, ob wir 20 Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten einen Grund zum Feiern haben. Aber das ist die falsche Frage. Meinetwegen kann gefeiert werden, aber die richtige Frage lautet: Leben wir noch in einer Demokratie? Oder vielmehr in einer Staatsform, die nach dem negativen Vorbild der römischen Dekadenz Plutokratie genannt werden kann, also Herrschaft des Geldes, der Besitzenden, des Kapitals? Das ist die richtige Frage, die auch in den Medien gestellt werden müsste. Stattdessen werden wir mit Nebensächlichkeiten abgelenkt und beschäftigt, zum Beispiel mit den Überlegungen eines Herrn Sarrazin oder einer Frau Steinbach, mit Geträller, blödsinnigen Talkshows und anderem Irrsinn.


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