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Titel: Ergänzende Anmerkung zu „Iudex non calculat – Die Verfassungsrichter in NRW als Oberökonomen“

Datum: 17. März 2011 um 15:31 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Das kritische Tagebuch, Denkfehler Wirtschaftsdebatte
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Bei meinem Beitrag vom 16. März konnte ich mich nur auf die Presseerklärung des Verfassungsgerichtshofs und auf das Presseecho bzw. auf die Interpretation dieses Urteils durch Oppositionspolitiker stützen. Nach der Lektüre der schriftlichen Urteilsbegründung [PDF – 200 KB] möchte ich Folgendes ergänzen. Wolfgang Lieb

Die Richter haben es sich ziemlich leicht gemacht. Als zentrales Argument für ihre Entscheidung haben sie darauf verwiesen, dass die Landesregierung und der Landtag keine ausreichend nachvollziehbare und plausible Erklärung geliefert hätten, dass das „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ gestört sei. Im Mittelpunkt der Kritik des Gerichts steht also nicht etwa die Feststellung, der Haushaltsgesetzgeber habe ein in der Sache nicht von der Landesverfassung gedecktes Gesetz verabschiedet, der Vorwurf ist vielmehr ausschließlich, dass Regierung und Parlament keine ausreichend sorgfältige Abwägung vorgenommen hätten, obwohl das angesichts der nach Auffassung der Richter „verbesserten Wirtschaftslage“ geboten gewesen wäre. (An meiner Kritik an dieser einseitigen Beurteilung der wirtschaftlichen Lage halte ich fest.)

Zur Klarstellung weise ich darauf hin, dass der Verfassungsgerichtshof somit keinesfalls entschieden hat, dass ein Haushalt in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage mit einer Verschuldung oberhalb der im Haushalt veranschlagten Ausgaben für Investitionen (Art. 83 Satz 2 der Landesverfassung NRW) per se verfassungswidrig wäre. (So hätten es die CDU und FDP wohl gerne.) Die Kritik der Münsteraner Richter am Haushaltsgesetzgeber beschränkt sich ausschließlich darauf, dass er sich nicht hinreichend mit dem Vorliegen einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts auseinander gesetzt habe.

Diese Kritik müssen die Landesregierung und der Haushaltsgesetzgeber wohl oder übel annehmen. Regierung und Parlament können dieser Kritik etwa bei den Beratungen des Haushaltes 2011 jedoch relativ leicht abhelfen. Eine starre Obergrenze für eine Kreditaufnahme im NRW-Haushaltsgesetz ergibt sich weder aus der Landesverfassung noch aus dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs. Die Landesregierung kann also auch künftig eine „präventive“ Finanzpolitik verfolgen.

Ich bleibe allerdings bei meiner Auffassung, dass das Gericht mit der Annahme einer „verbesserten Wirtschaftslage“ der Schönfärberei der Bundesregierung und einer weitverbreiteten veröffentlichten Meinung gefolgt ist und die von mir in meinem Beitrag erwähnten Schattenseiten der gesamtwirtschaftlichen Lage nicht zur Kenntnis genommen hat. Eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts misst sich sowohl an einem „angemessenen und stetigen Wachstum“, als auch an der Preisniveaustabilität, an einem hohen Beschäftigungsstand und an einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht („magisches Viereck“).

Von einem „stetigen“ Wachstum, kann jedenfalls trotz leicht verbesserter Wachstumsraten, angesichts eines Einbruchs des Bruttoinlandsprodukts in NRW von 5,9 % im Jahr 2009 keine Rede sein. Von einem „hohen Beschäftigungsstand“ kann man angesichts einer Unterbeschäftigung von fast einer Million Menschen (985.242) [PDF – 630 KB] und einer Arbeitslosenquote von 8,6% im Februar 2011 in Nordrhein-Westfalen gewiss auch nicht sprechen.

Diese unbestreitbaren und offensichtlichen Tatsachen einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts hätten auch den Richtern bekannt sein können und müssen. Sie waren jedenfalls dem Parlament bei der Verabschiedung des Nachtragshaushalts 2010 bekannt und sind dort auch debattiert worden und in Kenntnis dieser Tatsachen wurde ja gerade dieser Nachtrag beschlossen. Insoweit bleibe ich bei meiner Kritik an dem Urteil, dass die Richter eine einseitige politische Einschätzung der wirtschaftlichen Lage zur Grundlage ihre Entscheidung gemacht haben und dem Haushaltsgesetzgeber nun nachträglich die Beweislast auferlegt haben, das (wirtschaftspolitische) Vorurteil des Gerichts zu widerlegen. Folgte man den Forderungen des Gerichts, so müsste einem Haushaltsgesetz künftig sozusagen ein „Jahreswirtschaftsbericht“ als Präambel vorweg gestellt werden.

Mit allem Nachdruck bleibe ich bei meiner Meinung, dass sich das Landesverfassungsgericht nicht zur letzten Instanz für ökonomische und finanzpolitische Streitfragen erheben darf.


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