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Titel: Ratingagenturen – ein zutiefst korruptes System

Datum: 12. Juli 2011 um 10:13 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Euro und Eurokrise, Finanzkrise
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Kanzlerin Merkel, Finanzminister Schäuble und Eurogruppen-Chef Juncker sind sauer auf die drei großen Ratingagenturen, weil die durch ihre gesenkten Daumen die Kreditbedingungen für Griechenland und Portugal ständig verschlechtern und die „Rettung“ erschweren. Eine öffentliche europäische Agentur ist im Gespräch. Doch als Berater dafür ist u.a. Roland Berger tätig. Die EZB hat den Vorschlag bereits kategorisch abgelehnt; lediglich setzt sie für sich selbst das Urteil der drei Großen Drei für den Fall wie Griechenland und Portugal aus, wenn bereits europäische Finanzhilfen fließen. Das Problem ist, dass Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch der verlängerte Arm der Banken und der wichtigsten Käufer von Staatsanleihen sind. Die Wirtschaftspresse kritisiert ebenfalls, dass sich „die Kapitalmärkte freiwillig dem Diktat der Ratingagenturen unterwerfen“ (Financial Times Deutschland 8.7.2011). Doch diese Kritik dient der Verschleierung. Werner Rügemer ging der Frage nach, wem diese Agenturen gehören: Standard & Poor’s und Moody’s gehören den größten Vermögendsverwaltern und Anleihespekulanten wie Morgan Stanley, Blackrock, Fidelity Investments, auch der Allianz Versicherung, und Blackrock ist zugleich größter Aktionär der Deutschen Bank; Fitch gehört im wesentlichen dem US-freundlichen Großkapital Frankreichs. Von Werner Rügemer

Anmerkung Jens Berger: Werner Rügemeners Artikel ist in großen Teilen bereits im letzten Jahr in der Jungen Welt erschienen – da er aber nichts an Aktualität verloren hat, wollen wir ihn unseren Lesern an dieser Stelle vorstellen.

Die großen Drei der Ratingbranche, Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch, haben den wüstesten Spekulationsprodukten der Investmentbanken bis zuletzt Bestnoten erteilt. Sie haben die Spekulation angeheizt und damit die Finanz- und die nachfolgenden Wirtschafts- und Staatskrisen mitverursacht. Auch für Konzerne und Banken selbst haben diese Agenturen bis zuletzt Bestnoten verteilt, haben den Bankrott vertuscht, die Bereicherung der Insider gefördert und Verluste für Beschäftigte und Kleinanleger verursacht, etwa bei Enron, Worldcom, Parmalat, Lehman Brothers, IKB und Hypo Real Estate (HRE). Der US-Ökonom und Nobelpreisträger Paul Krugman bezeichnet die Agenturen als ein »zutiefst korruptes System«. Warum machen sich nicht nur Finanzakteure und Privatunternehmen, sondern auch Staaten weiterhin von einem solchen System abhängig? Warum schaffen sie es nicht ab?

Die Weltwirtschaftskrise von 1928/30 war durch Spekulationen vor allem der US-Investmentbanken verursacht worden. Die Regierung von Franklin Roosevelt setzte Anfang der 30er Jahre Reformen durch, um eine Wiederholung zu verhindern. Zu diesem »New Deal« gehörte die Einrichtung der ersten Börsenaufsicht der kapitalistischen Welt, der Security Exchange Commission (SEC). Die SEC vergab Lizenzen an private Wirtschaftsprüfer, die als hoheitliche Aufgabe inzwischen weltweit die Korrektheit der Bilanzen von Banken und Unternehmen testieren.

Kontrollfunktion geschwächt

Auch die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA gegründeten privaten Ratingagenturen erhielten eine hoheitliche Funktion: Sie sollten die Sicherheit von Geldanlagen benoten, damit Investoren zwischen sicheren (»investment grade«) und spekulativen (»non investment grade«) Investitionen unterscheiden können und »vor den Exzessen der Wall Street geschützt« werden. Als vorläufigen Schlußpunkt lizensierte die SEC 1975 in einem nichtöffentlichen Verfahren nur sieben Agenturen, aus denen durch Fusionen innerhalb kurzer Zeit die drei Agenturen Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch als Nationally Recognised Statistical Rating Organisations (NRSRO) entstanden. Sie erhielten damit vom Staat eine entscheidende und zugleich exklusive Wächterstellung im US-Finanzsystem.

Gleichzeitig schwächte die SEC ihre eigene Kontrollfunktion und ließ die enge kommerzielle Verbindung der Agenturen mit den Kreditgebern und Wertpapier-Emittenden zu: Seit 1975 werden die Agenturen von denen bezahlt, die bewertet werden. Die SEC bezeichnete es als Reform, daß nun die Kreditgeber und Emittenden die Ratinggebühren zahlen statt wie zuvor die Kreditnehmer und Investoren. Zudem gingen die Agenturen dazu über, die Kreditnehmer und Emittenden zu beraten. Das ist so, »als würde ein Professor Geld dafür nehmen, daß er seinen Studenten sagt, was sie lernen sollen, um in der Prüfung die besten Noten zu bekommen«.

Die Bewertung durch die Agenturen wurde in zahlreiche Gesetze und Vorschriften auf Bundes-, einzelstaatlicher und internationaler Ebene übernommen. So müssen alle Teilnehmer am US-Kapitalmarkt sich seitdem von mindestens zwei der lizensierten Agenturen bewerten lassen. So dürfen auch Banken, Versicherungen und andere Finanzakteure in den USA nur in solche Wertpapiere investieren, die als »investment grade«, d. h. als nicht spekulativ gelten. US-Unternehmen müssen sich einem Rating unterziehen, bevor sie im US-Kapitalmarkt Kredite aufnehmen. Gleichzeitig durften Anleger und Käufer die Wertpapiere, die von den Agenturen als sicher bewertet wurden, zum Nominalwert in ihre Bilanzen einstellen, auch wenn der Marktwert sinkt.

Im Zuge der »Globalisierung« setzten die USA auch globale Funktionen für ihre drei Agenturen durch. Die staatlichen Zentralbanken sind in der Bank of International Settlements (BIS, Sitz Basel/Schweiz) zusammengeschlossen. Im Abkommen »Basel I« legten sie fest, daß im internationalen Finanzsystem Wertpapiere durch die drei großen US-Agenturen bewertet und bei
»non investment grade« mit zusätzlichem Kapital der Finanzakteure unterlegt werden müssen. Mit »Basel II« (1999) wurden die Ratings zum globalen Standard für das Eigenkapital der Banken, um zu verhindern, daß riskante Kredite vergeben werden. Die Europäische Union macht sich seit 2007 bei der Bewertung ihrer Mitgliedsstaaten von den US-lizensierten Agenturen abhängig. Auch der 700-Milliarden-Euro-Rettungsfonds, den die EU 2010 in der Finanzoase Luxemburg einrichtete (Europäische Finanzmarkt-Stabilisierungs-Fazilität, EFSF), unterwirft seine Anleihen der Bewertung durch die drei großen Agenturen.

Die USA hatten auf Basel II gedrungen, setzten die Vorschriften aber selbst nicht um – das Ziel, die drei Agenturen als Kontrollinstanz global durchzusetzen, war ja erreicht. So zündeten die USA und die US-Finanzakteure einschließlich der Agenturen einen zusätzlichen Treibsatz für die Finanzkrise. Auch die Regierung von Barack Obama hat die Umsetzung von Basel II mit Hinweis auf die außerordentlichen Umstände der Krise weiter ausgesetzt und die Arbeitsweise und die Funktionen der Ratingagenturen nur in geringfügigen Details verändert.

Am guten Ruf der Agenturen änderten auch die größten Skandale nichts. 2001 etwa stellte sich heraus, daß alle drei Agenturen die Zahlungsfähigkeit von Enron, des von der Bush-Regierung protegierten größten US-Energieunternehmens, bis vier Tage vor der Bankrotterklärung mit den Bestnoten bewertet hatten. Dadurch gerieten die Agenturen (wieder einmal) in die öffentliche Kritik. Die SEC stellte erneut fest, was sie schon verschiedentlich festgestellt hatte: Die Agenturen sind nicht objektiv, sondern ihre Bewertungen sind von eigenen Profitinteressen geleitet. Sie werden von den bewerteten Unternehmen bezahlt und verdienen zusätzlich durch verschiedene Beratungsdienste an den gleichen Unternehmen. Das ist, als würde bei Gericht eine der beiden Streitparteien den Richter, oder beim Fußballspiel eine der beiden Mannschaften den Schiedsrichter bezahlen.

Profitorientierte Regulierung

Als Reaktion auf den Fall Enron und zahlreiche andere Skandale der dotcom-Blase wurde 2002 im Sarbanes-Oxley Act u. a. festgelegt, daß die SEC die Arbeitsweise der Agenturen überprüfen
muß – das war aber sowieso schon ihre Aufgabe gewesen. Das 2006 beschlossene Gesetz zur Reform der Ratingagenturen (Credit Rating Agency Reform Act) quillt über von billiger Rhetorik:
Gefordert werden Transparenz, Verantwortung, Wettbewerb etc. Seitdem müssen sich Agenturen in einem formellen Verfahren lizensieren lassen – zuvor hatte die SEC die Lizenz freihändig vergeben. Seit 2007 erhielten sieben neue Agenturen eine Lizenz. Das änderte aber nichts an der Vorherrschaft der »Großen Drei«, die nach wie vor 95 Prozent des Ratinggeschäfts beherrschen.

Im Ergebnis ist festzustellen: Erstens, der entscheidende Fehler in der Reform des US-Finanzsystems durch Roosevelt 1930 bestand darin, keine staatliche Behörde zu schaffen, sondern die hoheitliche Aufgabe privaten Agenturen zu übertragen und sie ihrer Selbstverwaltung und ihrer Interessensverbindung mit den Banken zu überlassen. Der Staat ist somit Komplize. Dasselbe gilt übrigens für die privaten Wirtschaftsprüfer, die im New Deal ebenfalls eine hoheitliche Aufgabe erhielten und sie ebenso pervertierten. Zweitens: Die Propagandisten der Deregulierung haben mit den Ratingagenturen selbst eine Regulierungsinstanz etabliert, und zwar eine, die ebenso mächtig wie intransparent und korrupt ist. Das zeigt, daß die lautstarken Gegner der Regulierung keineswegs für Deregulierung eintreten, sondern für eine Regulierung, die von ihnen selbst beherrscht wird. Drittens: Die drei großen Agenturen sind sichtbar und unsichtbar in das Netzwerk der privaten und staatlichen US-Finanzakteure eingebunden und sind somit aktives Element des kapitalistischen Krisenzentrums.

Oder sind die Agenturen doch so unabhängig, wie sie behaupten? Das hängt mit der Frage zusammen: Wer sind die Eigentümer? Diese Frage wurde bisher auch von den besonders kritischen Kritikern des gegenwärtigen Finanzsystems nicht gestellt. Von den Mitspielern des Systems wird diese Tatsache bewußt verschleiert; so behauptet etwa Dirk Reidenbach, Partner der Wirtschaftskanzlei Hengeler Müller, die für die Deutsche Bank und andere Banken arbeitet, es gebe »keine evidenten Interessenskonflikte« bei Standard & Poor’s (S&P): Diese Agentur gehöre zum Konzern McGraw Hill, einer Verlagsgesellschaft, also keiner Bank und keinen anderen Finanzakteuren. Die nächstliegende Frage, wem McGraw Hill gehört, stellt Reidenbach nicht.Gehen wir ihr also nach.

Werfen wir zuerst einen Blick auf Standard & Poor’s. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründete »Agentur für Finanzinformationen« wurde 1966 vom größten US-Verlag für Wirtschaftsmedien, McGraw Hill, aufgekauft und in das Netzwerk der größten institutionellen Spekulanten der Welt und der Wall Street (Blackrock, Capital World Investors, Fidelity, Vanguard, State Street, Morgan Stanley) integriert. S&P eignete sich weitere Funktionen im Finanzsystem und zusätzliche Geschäftsbereiche an. Seit 1957 veröffentlicht S&P den weltweit führenden Aktienindex S&P 500. Darin wird heute – im 15-Sekunden-Rhythmus – die Aktienkursentwicklung der 500 wichtigsten Unternehmen abgebildet, die an einer US-Börse notiert sind. 1964 beendete die Börsenaufsicht SEC ihren Index und übernahm den S&P-Index. Er erfaßt nicht das ökonomische

Ergebnis der Unternehmen (Produkte, Preise, Umsatz, Dividende, Arbeitsplätze, Löhne und Gehälter), sondern die isolierte Wertentwicklung der Aktie. Er ist seit 1983 die Grundlage für den spekulativen Handel der Banken, der großen Vermögensverwalter u.ä. mit Index-Optionen (Wetten auf die Kursentwicklung). Alle 500 Unternehmen dieses Inzuchtklubs sind Kunden von S&P und der anderen Ratingagenturen, mehr als 40 Prozent der Unternehmen sind Finanzakteure. Gleichzeitig betreibt S&P eine große Zahl weiterer solcher Indexe, die etwa die Kursentwicklung
mittelständischer, kleiner und internationaler Unternehmen (S&P MidCaP 400, S&P SmallCap 600, S&P Global 1 200), die Anlagen der Infrastrukturfonds oder die Rohstoffpreise (World Commodity Index) zur Grundlage von Spekulationen machen.

S&P arbeitet eng mit den Regierungen zusammen, bei Bedarf aber auch gegen sie. So war McGraw Hill-Chef Harold McGraw Berater von Präsident George W. Bush9. Als die Regierung von Präsident Barack Obama 2010 die Spekulation mit Rohstoffen einschränken wollte, half S&P umgehend den Investoren, die neuen Terminmarkt-Regeln zu umgehen. Sie besagen, daß mit Rohstoffen, die in den USA gefördert werden, nicht mehr spekuliert werden darf. Im neuen World Commodity Index sind deshalb keine US-amerikanischen Rohstoffe mehr enthalten, sondern das Nordseeöl Brent und Schwermetalle sowie Zucker, Kakao und Kaffee, die an Londoner Börsen gehandelt werden. »Die Anleger wollen sich in Rohstoffen engagieren«, hieß es bei S&P.

Firmensitz Finanzoase

Sehen wir uns die zweitwichtigste Agentur an: Moody’s. Sie gehört zwar nicht zu einem vergleichbaren Konzern wie S&P, ist ansonsten aber nach demselben Muster strukturiert: Sie operiert von Finanzoasen aus (Delaware, Virgin Islands) und bewertet nicht nur Banken, Vermögensverwalter und Staaten, sondern verkauft ihnen auch zahlreiche Recherchen und Beratungsdienste. Die Eigentümer sind teilweise dieselben wie bei S&P: Capital World Investors, Fidelity, Vanguard Group, State Street und die Investmentbank Morgan Stanley. Haupteigentümer ist der Spekulant und Multimilliardär Warren Buffet. Moody’s war der Vorreiter bei der entscheidenden Umstellung, die die korruptive Phase der Ratingagenturen einleitete: Seit 1970 macht die Agentur ihre Bewertungen nicht mehr im Auftrag der Investoren, sondern der Emittenden der Wertpapiere und verlangt die Gebühren von den Emittenden. Insofern stellt der Begriff »Investor Service«, der noch heute wie bei S & P den offiziellen Firmennamen ziert, eine Täuschung dar.

Wenden wir uns schließlich der dritten Agentur, Fitch Ratings, zu. Bei ihr liegen die Verhältnisse in gewisser Weise anders: Sie gehört dem US-verbundenen Teil des französischen Großkapitals, der zugleich eng mit der politischen und Verwaltungselite Frankreichs verbunden ist. Fitch gehört zum französischen Konzern Fimalac, der 1991 von Marc Ladreit de Lacharrière, Absolvent der Ecole Nationale d’Administration, gegründet wurde. Lacharrière führt auch heute noch mit 74 Prozent der Aktien und 87 Prozent der Stimmrechte den patriarchalischen Familienkonzern.

Lacharrière war bis 1991 Vizechef des französischen Luxusgüterkonzerns L’ Oreal und ist heute Mitglied in Aufsichts- und Beiräten der französischen Zentralbank, von Renault/Nissan, der Supermarktkette Casino Guichard Perrachon, des TV-Konzerns Canal Plus und von L’ Oreal und steht der Stiftung der L’ Oreal-Haupterbin und Sarkozy-Geldgeberin Liliane Bettencourt vor. Er war mehrere Jahre Präsident der französischen Bilderberg-Sektion. Mit American Friends of the Louvre und France Museums will er die französische Hochkultur globalisieren (z.B. Nachbau des Louvre in Abu Dhabi).

Véronique Morali wechselte von der staatlichen Finanzaufsicht (Inspection Générale des Finances) zu Fimalac; sie ist in der Fitch-Leitung tätig, ebenso im Aufsichtsrat der französischen Investmentbank Rothschild und von Coca-Cola in Atlanta/USA. Sie gründete die Vereinigung der Frauen in Leitungsfunktionen, Terrafemina. 2009 wurde sie zusammen mit den früheren Premierministern Alain Juppé und Michel Rocard in die Regierungskommission berufen, die Vorschläge für zukünftige Staatsanleihen machen soll.

Fimalac hält die Mehrheit an der Fitch Group, eine Minderheit gehört dem US-Unterhaltungskonzern Hearst. Insofern ergänzen sich das großbürgerliche französische Familienunternehmen Fimalac und der von einem verschwiegenen Familientrust kontrollierte US-Konzern als besondere Exponenten der Intransparenz. Auf der Website und in den Geschäftsberichten von Fimalac wird Hearst mit keinem Wort erwähnt. Neben dem Großaktionär Hearst spielen in Fimalac Wall-Street-Akteure eine untergeordnete Rolle, entscheidend sind französische Investmentbanken (Rothschild, Lazard Frères) und französische Konzerne (Renault/Nissan, Casino, Fremapi, EDF, Veolia), die aber auch längst internationalen Investoren gehören.

Die Ratingagenturen sind nicht unabhängig, sondern Teil von Konzernen und Finanznetzwerken. Die Agenturen bewerten nicht nur Kredite und Finanzprodukte, sondern sie verkaufen denselben Unternehmen auch die verschiedensten Beratungsdienste. Sie betätigen sich als Lobby für strukturierte Finanzierungen und sind Teil des auf privaten Gewinn fixierten Finanzsystems. Vic Tillmann, damaliger S&P-Vizepräsident, stellte 2004 stolz und zutreffend fest: »Wir haben eine unschätzbare Rolle für das Wachstum der Finanzmärkte gespielt.«

Bei den Eigentümern der Agenturen dominieren die größten Vermögensverwalter und institutionellen Investoren bzw. Spekulanten der Welt; bei S&P und Moody’s haben sie ihren Sitz in den USA, bei Fitch sind es Weltkonzerne mit traditionellem Sitz in Frankreich. Die Eigentümer der Agenturen und die im Aufsichtsrat vertretenen Unternehmen gehören zu denen, die selbst Wertpapiere emittieren und von den Noten der Agenturen abhängen. Intransparenz und Geheimhaltung gehören mit der extensiven Nutzung von Finanzoasen und nichtssagenden Geschäftsberichten zur grundlegenden Praxis: Die Agenturen haben ihren juristischen Sitz in Delaware, Virgin Islands u. ä. – genauso wie die strukturierten Finanzprodukte, die bewertet werden. Die ebenfalls von der US-Börsenaufsicht lizensierten Wirtschaftsprüfer KPMG und Price Waterhouse Coopers geben den Agenturen die Bilanztestate.

Der Bock als Gärtner

Die Ratingagenturen stehen auf der Seite derjenigen, die Kredite vergeben, Wertpapiere emittieren und Geldanlageprodukte verkaufen. Im Auftrag von Banken und anderen Finanzakteuren nehmen die Agenturen die Bewertungen im wesentlichen vor, von ihnen werden sie vor allem bezahlt, von ihnen kommen die bei weitem meisten Aufträge.

Der »neoliberale« Kapitalismus beruht in einem wachsenden Umfang auf Krediten und »strukturierten« Finanzprodukten: verbriefte, d. h. weiterverkaufte Hypotheken und andere Produktions- und Konsumentenkredite, Collateral Debt Obligations (CDO), Collateral Loan Obligations (CLO), Asset Backet Securieties (ABS), Residential Mortgage Backed Securities (RMBS) und ähnliches. Konsumenten, Unternehmen, Staaten, aber auch Banken selbst sind nur noch lebensfähig mithilfe einer sich immer weiter drehenden Kreditspirale (Interbanken-Geschäfte). Ob die Kredite und Finanzprodukte volkswirtschaftlich schädlich oder nützlich sind, ob sinnvolle Produkte, Arbeitsplätze und ausreichendes Einkommen für abhängig Beschäftigte entstehen oder nicht, ob Staaten verarmen oder nicht: All dies kümmert die Kreditgeber und die Verkäufer der Finanzprodukte nicht. Es geht ihnen um die Bonität, die Fähigkeit der Kreditnehmer und Käufer, die Kredite zurückzuzahlen und den Kaufpreis für Finanzprodukte aufzubringen, selbst wenn dabei Unternehmen, Konsumenten und auch Staaten bankrott gehen.

Deshalb steht die Bewertung logischerweise im ursächlichen Zusammenhang mit Enteignungen und der Über tragung fremden Eigentums in das Eigentum der Kreditgeber und Verkäufer. Die Herabstufung der Bonität hat, gestützt auf die im Bankenmilieu vereinbarten Regeln und auf staatliche Maßnahmen und Gesetze, deshalb zur Folge: Die Kreditkonditionen verschlechtern sich, die Zinsen werden erhöht. Der Kreditnehmer – ob Staat, Privatunternehmen oder Konsument – muß Eigentum verkaufen, Einkommen abtreten (Privatisierung, höhere Zinsen, Rentenund Lohnkürzung, höhere Gebühren und Preise).

Nach uns die Sintflut

Wegen der Bestnoten, die die Agenturen für Ramschpapiere vergeben hatten, wurde Deven Sharma, Chef von S&P, gefragt: Wäre es nicht besser, wenn nicht die Kreditgeber und Verkäufer, sondern die Kreditnehmer und Käufer die Ratings beauftragen und bezahlen? Sharma anwortete: »Nein. Denn wir haben mehr Zugang zu nicht öffentlich zugänglichen Informationen, wenn wir im Auftrag der Emittenden handeln.« Sharma bejaht somit die zusätzlich von Intransparenz und Geheimhaltung geprägte Komplizenschaft.

Der Agenturchef bestätigt zudem den grundsätzlichen Webfehler seiner Tätigkeit: Bei den zu Spekulationszwecken weiterverkauften US-Hypothekenkrediten »sind wir gründlich daneben gelegen, wir haben die Subprime-Verbriefungen zu gut bewertet. Dabei hat den drastischen Einbruch am US-Immobilienmarkt aber kaum jemand vorausgesehen«, sagt er. Er gesteht damit ein – ohne die Fähigkeit, dies reflektieren zu können –, daß seine Ratingagentur gar keine auftragsgemäße Bewertungsfunktion wahrgenommen hat und wahrnehmen konnte, sondern im Mainstream der Ahnungs- und Verantwortungslosen ununterscheidbar mitgeschwommen ist. Er spricht somit in aller Unschuld und Dummheit das Todesurteil über seine Profession.

»Strukturierte Finanzprodukte« waren seit 2000 der am schnellsten expandierende Bereich der Ratings. Damit verdienten die Agenturen zwischen 2002 und 2007 dreimal mehr als mit der Bewertung von Unternehmensanleihen. Sie gaben Wall-Street-Produkten im Umfang von 3,2 Billionen Dollar Bestnoten, davon 435 Milliarden für Subprime-Hypothekenbündel. Die Agenturen vergaben dafür jeweils mehrere zehntausend Ratings. Ein Rating kostet zwischen 30 000 und 120 000 USDollar.

Gleichzeitig waren die Agenturen als Lobby tätig, um in allen wichtigen Staaten die Regierungen dazu zu bringen, Verbriefungen und andere strukturierte Finanzprodukte gesetzlich zu fördern. Die emittierenden Investmentbanken wie Morgan Stanley, Lehman Brothers, United Bank of Switzerland und Deutsche Bank hätten ohne den Segen der Agenturen ihren Ramsch gar nicht verkaufen können. Institutionelle Investoren wie Vermögensverwalter, Versicherungen, Pensions- und Investmentfonds müssen aufgrund von gesetzlichen oder internen Verpflichtungen den Kauf vom Gütesiegel »investment grade« abhängig machen.

»Laß uns Geld machen …«

Das Hearing im Permanent Subcommittee on Investigations des US-Senats (Ständiger Untersuchungsausschuß für Finanzfragen) zur Rolle der Ratingagenturen ergab: Sie haben nicht einmal die eigenen Standards eingehalten. Ihre Verfilzung mit den Emittenden und ihre privatkapitalistische Unternehmensform haben dazu geführt, daß sie umso weniger prüften, je mehr es nötig gewesen wäre. Die strukturierten Finanzprodukte wurden immer zahlreicher und komplizierter, aber die Agenturen haben nicht entsprechend Personal eingestellt, sondern Gefälligkeitsbewertungen am Fließband produziert. Vorgesetzte drohten ihren Analysten: Du prüfst zu genau! Hör auf damit, sonst verlieren wir unsere Kunden an die Konkurrenz! Analysten wurden eingeschüchtert und gemobbt. Wenn etwa Goldman Sachs, Lehman und UBS sich über die Nachfragen eines Analysten beschwerten, wurde der Analyst ersetzt. Für die Bewertung eines verbrieften Hypothekenbündels wurde statt wie früher zwei nur noch ein Analyst eingesetzt, der nun 40 bis 60 Dokumente innerhalb weniger Tage durchzuarbeiten und eine Bewertung von 280 Seiten zu verfassen hatte. »Kundenzufriedenheit ging über alles.« So wurden der Marktanteil der Agenturen gesteigert, ihr Aktienkurs und die Boni in die Höhe getrieben. Das berichtete etwa Richard Michalek, der bis zu seiner Entlassung im Dezember 2007 Senior Credit Officer bei Moody’s war.

Eric Kolchinsky wurde ebenfalls von Moody’s entlassen, weil er seine Vorgesetzten auf Betrug bei Collateralized Debt Obligations (CDOs) hinwies. Er sollte die hohen Gewinne in diesem Bereich nicht gefährden – im ersten Halbjahr 2007 waren es 200 Millionen Dollar. Der Analyst Mark Froeba von Moody’s sagte aus: Gewissenhafte Mitarbeiter wurden gemobbt, College-Absolventen ohne Aufenthaltsgenehmigung wurden als unerfahrene und leicht beeinflußbare Analysten eingestellt. Das förderte das Rating-Hopping oder Rating-Shopping: Wenn eine Bank bei der einen Agentur nicht schnell ihre günstige Bewertung durchbekam, ging sie zur nächsten Agentur.

Während des Jahres 2009 erstellte Standard& Poor’s 850 000 Ratings, und zwar durch 1 300 Analysten. Das bedeutet: Jeder einzelne Analyst hatte im Jahr 65 Bewertungen eines komplizierten Finanzprodukts – etwa der Anleihe eines Großkonzerns wie General Motors, eines Staats oder eines Bündels von 30 000 Hypothekenkrediten – anzufertigen. Frank Raiter, bis 2005 Managing Director bei S&P, sagte aus: Der Mutterkonzern McGraw Hill drängte auf monatliche Gewinnberichte und verweigerte die Einstellung zusätzlichen Personals. »Mit hemmungslosen Bewertungen und Betrug bei der Ausgabe von Wertpapieren wurde die Finanzmaschine gefüttert«, sagte ein Angestellter.

Einzelnen Mitarbeitern war durchaus klar, daß diese Praxis nicht endlos weitergehen konnte. Ein Mitarbeiter berichtete: »Als ich bei einem Investmentbanker genauer rückfragte, antwortete er mir: IBG-YBG. Als ich ihn fragte, was das bedeutet, erklärte er: I’ ll be gone, you’ ll be gone! – Ich werde längst weg sein, du wirst längst weg sein! Mit anderen Worten: Warum quälst du mich? Laß uns zusammen eine Menge Geld machen, und wir werden lange weg sein, bevor das Kartenhaus zusammenbricht.«

Zahlungsunfähig? Egal!

Fitch erfand 1924 die Bewertungsskala mit zehn Bewertungsstufen, beginnend mit AAA (Bestnote, Triple A) absteigend über AA, A, BBB, BB, B, CCC, CC, C bis D (=Default, vollständige Zahlungsunfähigkeit). Die Bewertungen AAA bis BBB bedeuten »investment grade«, also die Empfehlung an die Anleger zum Kauf. Bei BB beginnt »non investment grade«, also die Empfehlung an die Anleger: Nicht kaufen! oder: Zusätzliche Sicherheiten verlangen! Die Einstufungen sind zugleich, wenn es sich um Kredite handelt, verbunden mit bestimmten Kreditbedingungen: Eine Herunterstufung bedeutet, daß alle Banken einen höheren Zins verlangen. Die Skala wurde später verfeinert durch Hinzufügung von Plus- und Minuszeichen +/– und in ähnlicher Form – etwa durch Hinzufügung von Ziffern (Moody’s) – auch von den anderen Agenturen übernommen.

Die Agenturen holen sich die Informationen vor allem von den Kreditgebern und Emittenden der Wertpapiere und orientieren sich ausschließlich an deren Interessen. Die Agenturen kümmern sich auch nicht darum, wie etwa die Kreditvergabe geschah. Wurden die Kredite unter falschen oder unvollständigen Informationen den Kreditnehmern aufgeschwatzt? Egal. War schon absehbar, daß der Kreditnehmer die Kredite gar nicht zurückzahlen kann? Egal. Haben die Kreditversicherer wie American International Group (AIG) überhaupt Rücklagen für den Versicherungsfall gebildet oder nicht? Egal.

So wurde auch nicht berücksichtigt, daß im Vorfeld der verbrieften Hypothekenkredite die Kreditnehmer – vielfach Arbeitnehmer ohne festes Einkommen – mit betrügerischen Mitteln zur Kreditaufnahme verlockt worden waren, z. B. durch Einkommensnachweise, die von den Bankvertretern gefälscht wurden. Obwohl Berichte über solche Betrügereien bereits 2005 in den Mainstreammedien auftauchten, war das den Agenturen egal. Sie kümmern sich auch nicht darum, wie es den Kreditnehmern geht, z. B. ob sie nach der Herabstufung und den höheren Zinsen
enteignet werden, Bankrott gehen oder verhungern – unabhängig davon, ob es sich dabei um individuelle Konsumenten, Unternehmen oder ganze Volkswirtschaften handelt. Die Bankforderungen haben absolute Priorität, wie leichtfertig, korrupt und betrügerisch die Kreditgeber und Emittenden auch vorgegangen sein mögen.

Die Agenturen bewerten nicht nur, sondern helfen den Kunden, Kredite und Wertpapiere vor dem Rating zu strukturieren (indicative rating). Die Kunden, z. B. Investmentbanken, konnten solange ändern und nachbessern, bis freundlicherweise ein Triple A gewährt wurde. Die Agenturen halfen dabei, die unterschiedlichen Tranchen von verbrieften Hypothekenkrediten – unterschiedlich nach der Ausfallwahrscheinlichkeit – so zu mischen und zu gestalten, »daß dabei ein möglichst großes Volumen an AAA-Tranchen und folglich ein möglichst hoher Erlös aus dem Verkauf von CDO-Papieren entstand«.

Die Bewertungen werden mit Hilfe von mathematischen Risikomodellen erstellt. Dabei werden die bisherigen historischen Erfahrungen zugrunde gelegt. Dagegen können die aktuellen Mechanismen nicht berücksichtigt werden, die sich aus der ständigen Deregulierung und der eigendynamischen Erfindung neuer Finanzprodukte ergeben: Die Modelle laufen den ständig bewußt vergrößerten Risiken notwendigerweise immer hinterher.

Die Agenturen unterhalten wichtige Tochterunternehmen oder Abteilungen (Analytics, Algorithmics u. ä.), die solche mathematischen Ri sikomodelle entwickeln. Sie arbeiten mit Methoden und Zeithorizonten, die an den privaten und kurzfristigen Gewinnkriterien orientiert sind; Gewinnkriterien, die sowohl für die Kunden der Agenturen wie für die Agenturen selbst gelten. Die Agenturen verkaufen den Kunden nicht nur die Ratings, sondern etwa auch Beratung und Software, wie auf den öffentlichen und nichtöffentlichen Finanzmärkten durch Ausnutzung winziger zeitlicher und wertmäßiger Unterschiede – dabei geht es auch um tausendstel von Sekunden und dritte Stellen hinter dem Komma –, auf Kosten anderer Marktteilnehmer Gewinne herauszuholen sind. Dabei folgen die Agenturen derselben Logik wie ihre Kunden. Deshalb können die Bewertungen der Agenturen nicht unabhängig sein, sondern sind identisch mit den Zielen der Kunden.

Gleiches ungleich bewertet

Obwohl die Agenturen hoheitliche und regulatorische Aufgaben wahrnehmen, übernehmen sie keine Verantwortung.9 Mit den Kunden vereinbaren sie eine standardisierte Haftungsfreistellung, woraus, nebenbei bemerkt, auch hervorgeht, daß auch die Kunden das Rating inhaltlich nicht wirklich ernst nehmen – das Rating ist nur als hoheitlicher Gefälligkeitsstempel interessant. Die Agenturen bezeichneten bisher ihre Bewertungen als »Meinung« (opinion). Auch die US-Justiz spielte mit: In mehreren Fällen sprachen US-Gerichte die Agenturen, die von Privatpersonen verklagt wurden, frei: Die Agenturen hatten argumentiert, daß ihre Bonitätseinstufungen keinen objektiven Anspruch haben, sondern der »Meinungsfreiheit« unterliegen. Im »Wall Street Reform and Consumer Protection Act« hat die Regierung Obama 2010 dem einen Riegel vorgeschoben: Die Ratings gelten nun als Expertenäußerung, für die die Agenturen haften. Wie diese Haftung genau aussieht, ist offen.

Es spricht auch nicht für ihre Unabhängigkeit, daß die Agenturen fast nie und wenn, dann immer nur in Nuancen in ihren Bewertungen voneinander abweichen. Es würde keinen Unterschied machen, ob es eine einzige Agentur gäbe oder die drei, die seit vier Jahrzehnten das Ratinggeschäft beherrschen. Wettbewerb findet nicht statt, sondern es handelt sich um ein als Oligopol verkleidetes Monopol. Die Agenturen sind in die Strukturen der Wall Street, der mächtigsten, in den USA ansässigen Investorengruppen der Welt und der US-Weltmacht, eingebunden. Obwohl der Staat USA in griechischen Dimensionen überschuldet ist und keinen Rückzahlungsplan vorweisen kann, bekommt er von allen drei Agenturen einheitlich nach wie vor die Bestnote AAA. Befragt, ob die US-Staatsanleihen ihr Triple A verlieren könnten, antwortete US-Finanzminister Timothy Geithner: »Die USA werden niemals das Triple A verlieren.« Gerade in Krisenzeiten legen »die Investoren« weltweit ihr Geld immer in US-Anleihen an, es bestehe eben ein »grundsätzliches Vertrauen« in die USA. Und die Agenturen segnen das ab.

Auch hochverschuldete Staaten wie Großbritannien und Japan erhalten weiterhin Bestnoten. Sie können nämlich wie die USA selbst – etwa im Unterschied zum Euro-Raum – ihre Staatsanleihen
in eigener Währung herausgeben; d.h. die Zentralbanken können einfach neues Geld drucken bzw. heutzutage das digitale Äquivalent herstellen. Damit wird der nominelle Bankrott vermieden, aber die Schulden gehen durch Inflation auf die Gläubiger über. Die Ratingagenturen stützen dies durch ihre Bewertungen, sie sind Teil dieser Praxis. Als Mexiko stark verschuldet war, benoteten die Agenturen Mexikos Schulden, die in der Landeswährung Peso aufgenommen waren, mit AA-, aber die in US-Dollar aufgenommenen Schulden gleichzeitig mit BB-, und dies allein deswegen, weil Mexiko Pesos drucken konnte, US-Dollars aber nicht.

So ist verständlich, daß die Agenturen Gleiches nicht gleich bewerten. Während sie in die Verschuldung des Staates Griechenland die Schulden etwa der öffentlichen Krankenhäuser einrechnen, so lassen sie bei der Bewertung des US-Staates sowie von US-Einzelstaaten vergleichbare Schulden außen vor. »Viele US-Staaten haben dreifach höhere Schulden als im öffentlichen Haushalt ausgewiesen wird, u.a wegen der hohen Pensionsverpflichtungen für die Bediensteten der öffentlichen Verwaltung. Das wird aber von den Ratingagenturen nicht berücksichtigt«, stellt Andrew Biggs vom American Enterprise Institute fest.

Die Agenturen sind keine Kontrollinstanz, die dem ursprünglich gemeinten Gesetzesauftrag nachkommt, sondern sie mißbrauchen ihre privilegierte, vom Gesetzgeber zugestandene Kontrollfunktion, gefördert vom Staat. Sie sind ein aktiver Regulator im Dienste des in den USA entwickelten und global herrschenden Finanzsystems. Es beruht auf der Möglichkeit endlosen staatlichen Gelddruckens und der absoluten Vorherrschaft der Investmentbanken und der größten Vermögensverwalter der Welt. Die Forderungen der Finanzakteure haben Vorrang vor volkswirtschaftlichen und sozialen Kriterien. Betrug auch im Sinne bürgerlicher Gesetze, organisierte Geheimhaltung und Täuschung sind selbstverständlicher Bestandteil des Verhaltens. Die Agenturen helfen bei der schleichenden Enteignung von Individuen, Anlegern und Staaten und dienen damit der Selbstbereicherung einer ungewählten Elite, die nach dem Motto vorgeht: »Nach uns die Sintflut«.

Klagen wegen Schrottpapieren

Die Agenturen sind »ein zutiefst korruptes System «, aber diese Charakterisierung durch Paul Krugman ist unvollständig: Wie korrupt ist ein Gesamtsystem, das einem zutiefst korrupten Teilsystem eine so zentrale regulatorische Bedeutung zumißt?

Das Modell, dessen »Leistungen« seit Jahrzehnten nachprüfbar sind, zeigt, daß es ein grundsätzlicher Fehler ist, privatkapitalistische Akteure mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben zu betrauen. Aus diesen Erfahrungen die richtigen Konsequenzen zu ziehen, ist um so wichtiger, als im Unterschied zur anfänglichen Aufgabenstellung inzwischen auch öffentliche Unternehmen und Staaten dem Rating nach US-Muster unterliegen. Wurden 1975 nur fünf Staaten durch die Agenturen bewertet, so waren es 1990 bereits 68, 2000 bereits 191, und seit 2002 sind es alle 202 Staaten. Welchen Einfluß damit die Agenturen – in Verbindung mit den verfilzten Banken, Spekulanten, der Europäischen Union und der Weltbank – haben, zeigte sich zuletzt im Falle Griechenlands.

Nach der Finanzkrise haben auch westliche Regierungen eine stärkere Regulierung und eine Reform der Ratingagenturen gefordert. Die US-Börsenaufsicht SEC (Security Exchange Commission) schlug vor, daß die Agenturen ihre Beratungstätigkeit »reduzieren«; der Wechsel von Mitarbeitern einer Agentur in eine Bank sollte erschwert werden. Davon ist so gut wie nichts übriggeblieben. Die Agenturen haben bei den Hearings im US-Kongreß pflichtgemäß ein paar »Fehler« eingestanden und Besserung gelobt, wie schon oft.

Die Meinungsmacher des Finanzsystems üben sich in pragmatischer Resignation: »In Zeiten der Unsicherheiten steigt die Nachfrage nach Ratings – so fragwürdig diese auch sind«, schreibt die Neue Zürcher Zeitung. So argumentiert auch Andrew Bosomworth, Topmanager bei Pimco, einem der größten Anleihekäufer der Welt: »Die Ratings bedeuten immer weniger. Da man aber bei vielen
Entscheidungen und Regulierungsvorschriften keine andere Wahl hat, greift man dennoch immer wieder auf die Ratingagenturen zurück.« Mit diesem Zynismus kann die Branche sehr gut leben.

Etwas mehr beunruhigt sind die Agenturen durch Klagen auf Schadenersatz, die von Geschädigten vor Gerichten in mehreren Staaten eingereicht werden. Dadurch können die Praktiken der Agenturen stückweise offengelegt werden. Ein erfolgreiches Urteil kann Milliardenforderungen nach sich ziehen. So gewinnt etwa die Klage eines Rentners gegen die deutsche Filiale von Standard & Poor’s eine grundsätzliche Bedeutung; er hatte für 30 000 Euro Lehman-Zertifikate gekauft, für die sich die Bank das Gütesiegel A von S&P gekauft hatte – es galt noch drei Tage vor der Lehman-Bankrotterklärung. Nach Ansicht des Klägers haften die Agenturen – im Unterschied zur Rechtsauffassung in den USA – gegenüber den Anlegern für ihre Bewertungen, wenn diese im Verkaufsprospekt als Werbung aufgeführt werden.15 Es klagen nicht nur individuelle Geschädigte, sondern auch institutionelle Investoren und Pensionsfonds, etwa wegen der Schrottpapiere der IKB, die von S&P und Moody’s geratet wurden.

Nicht reformierbar

In der Europäischen Union werden zögerliche Überlegungen für eine eigene europäische Agentur angestellt – dagegen dürfte die Bankenlobby in Brüssel wohl schon aktiv geworden sein. Selbstbewußter ist die neue Wirtschaftsmacht China. Die chinesische Zentralbank gründete 1994 die Dagong Global Credit Rating Company als private Agentur für innerchinesische Aufgaben. Sie ist zu 100 Prozent in chinesicher Hand, im Unterschied zu den anderen Agenturen in Asien, die ganz oder teilweise westlichen Agenturen gehören. Nach der Finanzkrise hat Dagong den Tätigkeitsbereich auf ausländische Staaten und Kredite ausgeweitet. Im Unterschied zu S&P, Moody’s und Fitch, die die USA ungerührt mit AAA bewerten, gab Dagong nur ein AA.

Ein zutiefst korruptes System kann man nicht regulieren oder reformieren. Die Agenturen müssen ihrer öffentlichen Funktionen enthoben werden. Vor allem müssen die Kriterien für gutes Wirtschaften und gute Staatshaushalte anders gestaltet werden. Die Kriterien dürfen sich nicht am Partialinteresse der spekulierenden Finanzakteure orientieren, sondern am Interesse der Beschäftigten und Empfänger staatlicher Transferleistungen, der privaten und öffentlichen Unternehmen, der Konsumenten und Staaten.


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