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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Ein Leserbrief zur völkerrechtswidrig genannten Intervention Russlands in der Ukraine u.a.m.
Datum: 14. März 2024 um 10:00 Uhr
Rubrik: Leserbriefe
Verantwortlich: Redaktion
Wir erhalten von Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten immer mal wieder interessante Texte. So jetzt ein Brief von Dr. rer. nat. Bernhard Strauss an den CDU-Verteidigungspolitiker Kiesewetter. Er ist von allgemeinem Interesse. Deshalb veröffentlichen wir ihn. Albrecht Müller.
SAPERE AUDE
Immanuel Kant
März 2024
Sehr geehrter Herr Kiesewetter,
ich wende mich heute an Sie als deutscher Staatsbürger und Steuerzahler.
Mit großer Besorgnis verfolge ich, wie Sie als verteidigungspolitischer Sprecher der CDU immer wieder eine Intensivierung der militärischen Unterstützung der Ukraine durch Deutschland fordern.
Der ehemalige UN- und OSZE-Mitarbeiter Graf Michael von der Schulenburg formuliert hierzu am 06.03.2023 wie folgt: “Nach Angaben von Victoria Nuland, heute stellvertretende Außenministerin der USA, hatten die USA seit 1991 fünf Milliarden US-Dollar für Reformen und die Westorientierung der Ukraine investiert. In Wirklichkeit dürfte das ein noch wesentlich höherer Betrag gewesen sein. Ein Teil dieses Geldes ist in die Beeinflussung von Wahlen und den Aufbau US-freundlicher Kräfte geflossen, wie auch geleakte US-Drahtberichte bestätigen. Nuland, Senator McCain und andere westliche Regierungsvertreter haben es sich nicht nehmen lassen, die Demonstranten auf dem Maidan Platz persönlich anzufeuern und recht unverhohlen eine zukünftige pro-westliche Regierung für die Ukraine nach dem Umsturz zu planen. Auch das ist eine grobe Verletzung der Souveränität der Ukraine und damit ein Bruch der UN-Charta“ [GS].
Nach dem Umsturz haben US-Verantwortliche in erheblichem Ausmaß Waffen in die Ukraine geliefert und begonnen, das Ukrainische Militär an NATO-Strukturen anzupassen. Seit 2016 ist, wie jüngst bekannt wurde, die CIA in der Ukraine tätig. Demgegenüber war die Bekämpfung der Korruption, ein vorrangiges Anliegen der Mehrheit der Demonstranten auf dem Maidan 2014, für die US-Verantwortlichen offensichtlich – sofern überhaupt – deutlich weniger relevant.
Es ist mir schlichtweg nicht möglich zu erkennen, dass es Ziel der US-Politik gewesen wäre, demokratische Strukturen in der Ukraine zu stärken.
Ich sehe heute für mich keinen vernünftigen Grund, an diesen Einschätzungen von Herrn Kujat zu zweifeln. Zwischenzeitlich habe ich etliche Beiträge von Herrn Kujat gelesen und gehört und nach meinem Ermessen trägt Herr Kujat stets ausgesprochen substanziiert vor. Beispielhaft nenne ich hier die drei unten angegebenen Quellen [K1], [K2] und [K3].
Sicherlich wäre es einer sachorientierten Diskussion sehr förderlich, wenn Sie, Herr Kiesewetter in Ihrer Funktion als verteidigungspolitischer Sprecher der CDU, in der Sache auf die Beiträge von Herrn Kujat eingehen könnten.
Aber auch ohne militärische Expertise wird man doch unter Nutzung des gesunden Menschenverstands zu der Einschätzung gelangen, dass Herr Putin kaum in Passivität oder eine Art Schockstarre verfallen würde, wenn ein aus deutscher Produktion stammender Taurus-Fluglenkkörper in der Kertsch-Brücke einschlagen würde.
Es ist hier nicht meine Absicht, Verhaltensweisen der russischen Seite zu rechtfertigen, sondern vielmehr, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass es jedenfalls ein elementares Erfordernis darstellt, zunächst das Verhalten aller Akteure möglichst objektiv zu beurteilen, wenn man ehrlich daran interessiert ist, dazu beizutragen, dass eine Lösung gefunden wird, durch die der Konflikt gerecht und dauerhaft beendet wird.
Zunächst sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass die NATO unter der Führung der USA und der Teilnahme Deutschlands 1999 einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Serbien geführt hat. Hier hat die NATO der Welt demonstriert, dass sie kein reines Verteidigungsbündnis ist.
Abgesehen davon ist mir aber folgender Aspekt besonders wichtig: Im Rahmen der Gespräche, die zum so genannten Zwei-Plus-Vier-Vertrag geführt haben, wurde von den US-Verantwortlichen (u. a. Außenminister James Baker) der sowjetischen Seite (u. a. Präsident Gorbatschow) versprochen, dass sich die NATO nach der deutschen Wiedervereinigung nicht nach Osten ausdehnen werde. Dass dieses Versprechen gegeben worden ist, kann heute nicht mehr bezweifelt werden. Zutreffend ist, dass dieser Punkt seinerzeit offensichtlich nicht schriftlich festgehalten worden ist. Das bedeutet, dass hier von russischer Seite der US-amerikanischen Seite Vertrauen entgegengebracht worden ist. Wie die nachfolgende NATO-Osterweiterung gezeigt hat, ist dieses Vertrauen von den US-Verantwortlichen missbraucht worden.
Zwischenzeitlich haben die US-Verantwortlichen Raketenbasen in Polen (NATO-Mitglied seit 1999) und Rumänien (NATO-Mitglied seit 2004) aufgebaut, die durch das US-Militär zweifelsfrei dazu verwendet werden können, Atomwaffen-bestückte Raketen in Richtung Moskau abzuschießen. Die Flugzeiten würden hierbei jeweils etwa 10 Minuten betragen.
Diese Raketenbasen stellen bereits aufgrund ihrer inhärenten Struktur eine Bedrohung für die russische Seite dar. Insbesondere muss man zu dieser Einschätzung gelangen, wenn man bedenkt, dass niemand wissen kann, wer der nächste oder der übernächste US-Präsident sein wird und wenn man bedenkt, dass niemand weiß, in welche Hände diese Anlagen in Zukunft fallen werden.
Mit dieser Einschätzung bin ich sicherlich nicht allein. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der im August 1993 sagte: „Wenn ich ein sowjetischer Marschall wäre oder ein Oberst, würde ich die Ausdehnung der NATO-Grenze, erst von der Elbe bis an die Oder und dann über die Weichsel hinaus bis an die polnische Ostgrenze, für eine Provokation und eine Bedrohung des Heiligen Russland halten. Und dagegen würde ich mich wehren. Und wenn ich mich heute dagegen nicht wehren kann, werde ich mir vornehmen, diese morgen zu Fall zu bringen“ [PK].
Ich gehe davon aus, dass diese Haltung der US-Verantwortlichen bis heute eine Konstante darstellt. 2014 hat Jack F. Matlock, ehemaliger US-Botschafter in der Sowjetunion und Direktor für europäische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat der USA folgende Einschätzung abgegeben: „Wenn China anfangen würde, eine Militärallianz mit Kanada und Mexiko zu organisieren, würde die USA das nicht tolerieren. Wir würden uns auch nicht auf abstrakte Prinzipien von internationalem Recht beschränken lassen. Wir würden das verhindern, mit jedem Mittel, das wir haben“ [JM]. Diese Einschätzung hat jüngst an Aktualität gewonnen, da die mexikanische Regierung zwischenzeitlich ihr Interesse an einem zukünftigen Beitritt zum Verbund der BRICS-Nationen bekannt gegeben hat.
Selenskyj brach die genannten Verhandlungen unmittelbar nach dem Besuch von Boris Johnson (Vier-Augen-Gespräch) am 09.04.2022 ab, nicht nach der Enthüllung der Kriegsverbrechen in Bucha am 30.03.2022. Vielmehr erklärte Selenskyj noch nach seinem Besuch am 04.04.2022 in Bucha seine Bereitschaft, die Verhandlungen fortzusetzen [PK], [K3].
Ich fände es jedenfalls indiziert, wenn der deutsche Kanzler Olaf Scholz die Regierung des Vereinigten Königreichs mit der Frage konfrontieren würde, wer für den von Boris Johnson am 09.04.2022 verursachten Schaden aufkommen soll. Denkbar schlecht finde ich, dass hier offenbar mit einer gewissen Selbstverständlichkeit davon ausgegangen wird, dass sich die Deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler hier beteiligen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass das bereits so auf den Weg gebracht ist. Und ich habe auch den Eindruck, dass sich in diesem Punkt die CDU ebenso gegen die Interessen der deutschen Bürgerinnen und Bürger positioniert hat.
Deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass es für die deutsche Regierung im Februar 2022 viel besser gewesen wäre, eine neutrale Position einzunehmen und nach Möglichkeit auf die US-Seite einzuwirken, um sie dazu zu animieren, doch noch eine Verhandlungslösung anzustreben. Das wäre insbesondere auch zum Wohle und zum Nutzen der ukrainischen Seite gewesen. Leider hat sich die Regierung Scholz jedoch dazu entschlossen, durch militärische Unterstützungs-Maßnahmen in Form von Waffenlieferungen an die Ukraine Stellung auf der Seite der USA zu beziehen.
Noch wichtiger ist aus meiner Sicht aber die Feststellung, dass von Politikern der Regierung Scholz der Begriff „Zeitenwende“ als Rechtfertigungsversuch dafür verwendet wird, Versprechungen der letzten Parteiprogramme über Bord werfen zu dürfen. Ich erinnere hier beispielsweise an das „Exporte von Waffen und Rüstungsgütern in Kriegsgebiete verbieten sich“ aus dem Parteiprogramm der Grünen.
Die Frage der rechtlichen oder moralischen Beurteilung des Vorgehens des russischen Militärs seit dem 24.02.2022 ist zu trennen von der Frage, ob ein verantwortungsbewusster Politiker vor der letzten Bundestagswahl mit der Möglichkeit rechnen musste, dass Präsident Putin, das, was er seit vielen Jahren angekündigt hat, auch tatsächlich ausführt. Letzteres ist ohne Zweifel zu bejahen. Deshalb mussten die deutschen Wählerinnen und Wähler vor der letzten Bundestagswahl vernünftigerweise davon ausgehen können, dass das, was Ihnen in den Wahlprogrammen versprochen wurde, auch unter Umständen eingehalten wird, wie sie heute gegeben sind.
Abschließend erinnere ich an die vielen Menschen, die 1989 in der damaligen DDR friedlich protestiert haben und auf diese Weise den Weg hin zu einem unblutigen Wechsel des gesellschaftlichen Systems geebnet haben. Ich finde, jeder dieser Menschen hat im wörtlichen Sinn ein „Denk-mal“ verdient.
Sind die Worte von Bertha von Suttner, Mahatma Gandhi und Martin Luther King mit der deklarierten „Zeitenwende“ nun verhallt?
Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich dieses Schreiben öffentlich zugänglich machen werde.
In der Hoffnung auf eine friedlichere Welt
Dr. rer. nat. Bernhard Strauss
[K1] Harald Kujat: „Die Ukraine ist in einer Sackgasse“, Zeitgeschehen im Fokus, 22.12.2023
[K2] Die Weltwoche, 02.03.2024
[K3] Talk im Hangar-7: Zwei Jahre Krieg: Waffen oder Verhandlungen? 22.02.2024
[GS] Michael von der Schulenburg: „UN-Charta: Verhandlungen!“, EMMA, 06.03.2023
[PS] Jeffrey Sachs: „Sie russische Propaganda?“ in eXXpress, 14.06.2023
[KE] Katrin Eigendorf, in radiobremen, 3nach9, 02.09.2022, bei Minute 52
[PK] Ivan Katchanovski: The Russia-Ukraine War and the Maidan in Ukraine, Annual Meeting of the American Political Science Association, Montreal, September 15-18, 2022
[TK] Thomas Karlauf: Was würde Helmut Schmidt dazu sagen? Die Zeit, Nr. 22 vom 29.05.2022
[JM] Jack F. Matlock zit. n. Dorothea Hahn: “Das ist ein Familienstreit“, in: taz, 09.09.2014
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