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Titel: Beschwerde gegen Chefredakteur der WAZ

Datum: 19. Juni 2006 um 15:34 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Medienkritik
Verantwortlich:

Der Chefredakteur der WAZ Reitz hat in einem Kommentar zu Hartz IV „eine schmarotzerhafte Mitnahme-Mentalität“ beklagt. Jürgen Voss hat deshalb Beschwerde beim Deutschen Presserat gegen Reitz erhoben. Diese Beschwerde ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Deshalb übernehmen wir sie in unsere Rubrik „Andere interessante Beiträge“. Ich finde zusätzlich bemerkenswert, dass Personen wie der Chefredakteur der WAZ, die Reformen wie die Hartz-Reformen immer wieder gefordert haben, jetzt nachträglich in schrillen Tönen die Folgen und Nebenwirkungen beklagen. Hartz I, II, III und IV ist ja nun wahrlich nicht von den Betroffenen erfunden worden, denen Reitz Schmarotzertum vorwirft. Der Kommentar von Reitz ist ein weiterer Beleg dafür, dass die neoliberalen Kreise das Scheitern ihrer Ideologie damit zu kaschieren versuchen, dass sie den Missbrauch übertreiben und ihn für das Scheitern verantwortlich machen. Grotesk.

Oberhausen, 19.6.2006

Jürgen Voß
Elpenbachstraße 87
46119 Oberhausen
0208 / 600017

Deutscher Presserat
Postfach 7160
53071 Bonn
per E-Mail

Beschwerde gegen Herrn Ulrich Reitz, Chefredakteur der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) wegen Verstoßes gegen Ziffer 1 des Pressekodex in der Fassung vom 02.03.2005 / Konkreter Anlaß: Kommentar in der WAZ-Ausgabe vom 15./16.06.2006 “Wenn Gesetze Schaden stiften”

Sehr geehrte Damen und Herren,

in dem oben angegebenen Kommentar läßt sich Herr Reitz zu folgender Äußerung hinreißen:

“Zu welchen unerwünschten Verschiebungen bürgerlicher Moralvorstellungen fragwürdige Gesetze führen können, läßt sich schon an Hartz IV studieren. Stütze zu beziehen galt als Notausgang, es wurde zum tolerierten Regelfall. Das Gesetz hat nicht zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung geführt, sondern zur Entmündigung. Gefördert wurde eine schmarotzerhafte Mitnahme-Mentalität (Hervorhebung von mir!) quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, so weit, dass sich der redliche Geringverdiener schon fragen muß, warum er sich noch antut, jeden Tag pünktlich zur Arbeit zu gehen.”

Die verallgemeinernde Beschimpfung von arbeitslosen Menschen und deren Angehörigen als “Schmarotzer” (die Apposition “quer durch alle sozialen Schichten” ist dummes Zeug, oder beansprucht der Oberstudienrat Grundsicherung ?) verstößt m. E. gegen Ziffer 1 des Pressekodex, da die Behauptung “unwahr” ist, d.h. durch keinerlei empirische Daten gesichert ist, die Menschenwürde der Leistungsbezieher des Rechtskreises SGB II grob verletzt und die Betroffenen unter Generalverdacht stellt, eine Leistung zu beziehen, die ihnen nicht zusteht. Dass damit auch das Gebot “einer wahrhaftigen Unterrichtung der Öffentlichkeit” als “oberstes Gebot der Presse” ebenfalls nicht gewahrt wird, versteht sich von selbst.

Ich bitte den deutschen Presserat, Herrn Reitz, der schon als Chefredakteur der Rheinischen Post des häufigeren durch eine drastische Wortwahl gerade gegenüber denjenigen aufgefallen ist, die zu den Schwächsten in unserem Lande gehören und sich nicht wehren können, eine offizielle Rüge mit Veröffentlichungspflicht zu erteilen.

Zur weiteren Erläuterung verweise ich auf folgenden Sachverhalt:

Die Abschaffung des Bundessozialhilfegesetzes und seine Ersetzung durch das Sozialgesetzbuch II (vulgo Hartz IV) hatte zu keiner Zeit, die Zielsetzung “zu mehr Freiheit und Selbstbestimmung” zu führen, sondern die in kommunaler Zuständigkeit befindliche Sozialhilfe in Bundeszuständigkeit zu überführen und die am vorherigen Arbeitseinkommen orientierten Leistungsansprüche von Arbeitslosenhilfebeziehern drastisch auf eine nivelliertes Niedrigniveau zu senken und damit Geld zu sparen. Völlig unterschätzt hatte man die Tatsache, dass ein Großteil der Arbeitslosenhilfeempfänger zusammen mit ihren Angehörigen schon seit Jahren unter den Regelsätzen der Sozialhilfe lagen, sie aber nicht in Anspruch genommen hatten; diese aber nunmehr – im Zuge der Inkraftsetzung von SGB II – als einzige verbliebene Lohnersatzleistung in Anspruch nehmen müssen.

Im März 2006 (neuere Zahlen kann ich nachliefern) waren dies – einschließlich aller Angehörigen – 5,208 Mio. Menschen, von denen als Arbeitslose (in diesem Zusammenhang besser: ehemalige Arbeitslosenhilfeempfänger 2,985 Mio. registriert waren. (Zahlen vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, BIAJ; Knochenhauerstraße 20-25, 28195 Bremen)

Die Aufwendungen für die ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger entsprechen im Übrigen in etwa den Gesamtaufwendungen, die im Jahre 2005 für die Arbeitslosenhilfe plus der hinzuzurechnenden Sozialhilfe für Erwerbsfähige nach alter rechtslage angefallen wären. Ich verweise auf die Ausschußdrucksache 16 (11)197 des Deutschen Bundestages (Ausschuß für Arbeit und Soziales 16. Wahlperiode) des Staatssekretärs Gerd Andres, nach der zwischen den nach dem alten System hoch gerechneten Ausgaben von 43,5 Mrd. Euro im Jahre 2005 Ist-Ausgaben von 44,4 Mrd. Euro gegenüberstehen, also gerade eine Mehrausgabe von 900 Mio. Euro erfolgt ist. Dies sind ganz andere Zahlen, als die, die seit Monaten kolportiert werden.

Selbstverständlich ist diese Ausschußvorlage im Internet jedermann zugänglich und wäre damit auch Herrn Reitz zugänglich gewesen. Um so unverzeihlicher sind seine Ausführungen.

Ich möchte noch ein kleines persönliches Statement anschließen: Mit fast 61 Jahren gehöre ich – Gott sei Dank – einer Generation an, für die die morgendliche Zeitungslektüre zum unverzichtbaren Bestandteil des Tagesablaufs gehört. Leider hat die Monopolstellung des WAZ im Ruhrgebiet dazu geführt, dass ein Ausweichen auf eine Konkurrenzzeitung unmöglich ist. Mir verbliebe deshalb nur die Möglichkeit, die Zeitung ganz abzubestellen. Hieraus folgt, dass eine mißbräuchliche Ausnutzung der Monopolstellung (der Leser kann sich ja nicht wehren !) als besonders schlimm anzusehen ist. Ich bitte Sie, auch diesen Punkt bei der Beurteilung des Sachverhaltes zu berücksichtigen.

Mit freundlichen Grüßen

Jürgen Voß


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