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Titel: Ein dunkler Horizont in Lateinamerika und der Karibik: Umweltkrise und Hunger

Datum: 6. Juli 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Klimawandel, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Die Region läuft Gefahr, ein Modell der Abhängigkeit zu reproduzieren, anstatt aktiv die Autonomie in Einheit aufzubauen. Die Naturkatastrophen, die durch die globale Erwärmung noch verschärft werden, treffen den gesamten Planeten immer wieder. Auch in den letzten Jahren litt Lateinamerika unter den Auswirkungen der Klimakrise. Die Aussichten der Region sind weiterhin getrübt durch das geringe Wachstum, die soziale Krise und den Verlust des Vertrauens der Bürger in die Demokratie. Von Sergio Ferrari.

Abrupte Wetterveränderungen und extreme Klimaereignisse haben erneut die landwirtschaftliche Produktion beeinträchtigt und die Produktivität geschädigt, sodass der Kontinent mit den Folgen von mehr Hunger und Unterernährung konfrontiert ist. Im Jahr 2023 waren in der Region 41 Millionen Menschen von Hunger betroffen, und jeder zehnte Minderjährige unter fünf Jahren litt an chronischer Unterernährung.

Der unlängst veröffentlichte Bericht der Vereinten Nationen „Regionaler Überblick über Ernährungssicherheit und Ernährung 2024″ erklärt, dass der Klimawandel sowie extreme Phänomene wie Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürme die landwirtschaftliche Produktivität beeinträchtigen, die Lebensmittelversorgungsketten unterbrochen und zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise geführt haben.

Eine Realität, die Lateinamerika und die Karibik nach Asien zur weltweit am zweithäufigsten von schweren klimatischen Ereignissen betroffenen Region macht. Mindestens 20 Länder des Kontinents, 74 Prozent der untersuchten Länder, sind häufig von extremen Ereignissen betroffen. Nach Angaben der Vereinten Nationen gefährden diese Ereignisse die regionalen Erfolge des letzten Jahrzehnts bei der Verringerung von Hunger und Unterernährung.

Laut diesem Bericht, der gemeinsam von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), dem Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (Fondo Internacional de Desarrollo Agrícola, FIDA), der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (Organización Panamericana de la Salud, OPS), dem Welternährungsprogramm (Programa Mundial de Alimentos, PMA) und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) erstellt wurde, ist zwischen 2019 und 2023 (der Zeitraum, der die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie umfasst) die Gesamtzahl von Unterernährung in allen von Wetterextremen betroffenen Ländern um 1,5 Prozentpunkte gestiegen.

Diese negative Auswirkung von Naturereignissen wird laut dem Bericht durch erschwerende strukturelle Faktoren wie lokale und internationale Konflikte, wirtschaftliche Rezession und Krisen aller Art verschärft. Sie kommen zu den zugrunde liegenden Faktoren wie einem hohen Maß an Ungleichheit und dem fehlenden Zugang zu einer gesunden Ernährung hinzu. In Ländern mit wirtschaftlicher Rezession sind die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen besonders betroffen, da sie weniger Möglichkeiten haben, sich an diese erschwerenden Situationen anzupassen, wie der Bericht hervorhebt.

Hunger ist kein zwangsläufiges Schicksal

Die 41 Millionen Menschen in Lateinamerika und der Karibik, die im Jahr 2023 von Hunger betroffen waren, stellen einen leichten Rückgang um 2,9 Millionen im Vergleich zu 2022 und um 4,3 Millionen im Vergleich zu 2021 dar. Es bestehen jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Subregionen. So ist beispielsweise die Zahl der Hungernden in der Karibik in den letzten zwei Jahren um 17,2 Prozent gestiegen, während sie in Mittelamerika mit 5,8 Prozent der Bevölkerung relativ unverändert geblieben ist.

Auch bei der mittelschweren oder schweren Ernährungsunsicherheit konnte der Kontinent im zweiten Jahr in Folge Fortschritte verzeichnen (19,7 Millionen weniger als 2022), und 2023 lag er zum ersten Mal seit zehn Jahren unter dem weltweiten Durchschnitt.

Die realen Gesamtzahlen sind jedoch nach wie vor dramatisch: Mehr als 187 Millionen Menschen (von insgesamt 630 Millionen) litten unter Ernährungsunsicherheit. Laut dem UN-Bericht ist diese leichte Abwärtstendenz auf die wirtschaftliche Erholung mehrerer südamerikanischer Länder sowie auf Programme zur sozialen Absicherung, auf wirtschaftliche Anstrengungen nach der Pandemie und neue gezielte Maßnahmen zur Verbesserung des Zugangs zu Nahrungsmitteln zurückzuführen.

Die Ernährungsunsicherheit betrifft ländliche Gemeinden und Frauen stärker. In Bezug auf die Unterernährung stellt der Bericht fest, dass im Jahr 2022 11,5 Prozent der Kinder unter fünf Jahren unter Wachstumsverzögerungen litten, was zwar unter dem weltweiten Durchschnitt (22,3 Prozent) liegt. Die Tendenz ist jedoch besorgniserregend, wenn man bedenkt, dass sich die dabei erzielten Fortschritte in der Region Lateinamerika und Karibik in den letzten Jahren verlangsamt haben.

Die wirtschaftliche Unmöglichkeit, Zugang zu einer gesunden Ernährung zu haben, ist eines der besorgniserregendsten Symptome. Eine unmittelbare Folge davon ist die Zunahme von Übergewicht und Adipositas, die den Risikofaktor für nicht übertragbare Krankheiten erhöhen.

Obwohl eine gesunde Ernährung die Grundlage für Gesundheit, Wohlbefinden, optimales Wachstum und menschliche Entwicklung bildet, konnten sich im Jahr 2023 50 Prozent der Bevölkerung in der Karibik dieses Grundrecht nicht leisten. In Mittelamerika betraf diese 26,3, in Südamerika 26 Prozent. In Anbetracht dieser Unterschiede werden die Staaten in dem Bericht aufgefordert, den am meisten benachteiligten Bevölkerungsgruppen, die extremen Wetterereignissen ausgesetzt sind, besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Die wichtigsten internationalen sozialen Bewegungen im ländlichen Raum, wie La Vía Campesina, fordern weiterhin eine bessere Verteilung des Bodens und die Förderung eines agrarökologischen Produktionsmodells, das die Ernährungssouveränität gewährleistet. Dieser Vorschlag steht im Gegensatz zum Agrobusiness, das auf Großgrundbesitz beruht und ausschließlich auf den Export ausgerichtet ist.

Im Januar dieses Jahres bestätigte die Sitzung der nationalen Koordination der brasilianischen Landlosenbewegung (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra, MST) die Notwendigkeit einer Agrarreform zugunsten der Bevölkerung. Sie erachtet diese Reform als „einen möglichen Weg, um Umweltzerstörung, Konzentration von Reichtum und soziale Ungleichheit zu überwinden”.

In dem von 400 führenden Mitgliedern des MST aus allen 23 Bundesstaaten des Landes unterzeichneten Dokument wird das zerstörerische Modell der Agroindustrie angeprangert und die Bewegung verpflichtet, im Jahr 2025 in zwei grundlegenden Punkten Fortschritte zu erzielen:

  • Erstens, die Verteidigung von Land, Territorium und Gemeingütern, indem „wir Spekulationen mit Agrarreformparzellen und jegliche Form kapitalistischer Schikanen in unseren Territorien bekämpfen”.
  • Zweitens, die Produktion gesunder Lebensmittel für alle Brasilianer. Dafür ist es laut MST unerlässlich, „die Agrarökologie voranzutreiben, die Vielfalt der Biome zu respektieren, gegen Agrargifte zu kämpfen und die Zusammenarbeit und die kleinbäuerliche Agrarindustrie zu stärken, um das kollektive Leben in der Produktion, der Arbeit und den menschlichen Beziehungen zu organisieren”.

Dunkler Horizont für dieses Jahr

Bei der Bewertung der Realität der Region und der Trends im Jahr 2025 identifiziert das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (Programa de las Naciones Unidas para el Desarrollo, UNDP) in einem im Januar veröffentlichten Dokument die fünf wichtigsten Faktoren, die die Dynamik des Kontinents prägen werden: Klimaveränderungen, schwaches Wirtschaftswachstum, geringe Produktivität, strukturelle Ungleichheiten und fehlendes Vertrauen in das System und die Politik.

„Der Klimawandel ist keine ferne Bedrohung mehr, sondern eine alltägliche Realität”, so das UNPD. Als Beispiel werden die häufigen und schweren Dürren angeführt, die sich täglich auf die Landwirtschaft, den Handel und die Energieerzeugung auswirken.

Wenn sich der derzeitige Klimatrend fortsetzt, argumentiert das UNDP, könnten diese Belastungen, wenn keine zusätzlichen Maßnahmen ergriffen werden, „die Lebensqualität und Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung erheblich beeinträchtigen”.

Ohne einen deutlichen Wandel wird es in Lateinamerika und der Karibik schon bald in fast der Hälfte der Länder zu Wasserknappheit kommen, mit einer schweren Wasserkrise um das Jahr 2080.

Was das Wirtschaftswachstum betrifft, so prognostiziert das UNDP 2,5 Prozent, was knapp über dem Vorjahresniveau liegt, aber immer noch unter dem weltweiten Durchschnitt. Dieser langsame Wachstumsrhythmus, der die Region seit Jahrzehnten prägt, wird die Bemühungen zur Armutsbekämpfung erschweren. Städtische Haushalte, die eng mit der Marktdynamik verbunden sind, sind besonders anfällig für Wirtschaftskrisen. Und obwohl die Armut auf dem Land nach wie vor höher ist, nimmt sie in urbanen Gebieten schneller zu, was neue Belastungen für die städtischen Zentren mit sich bringt.

In Bezug auf die geringe Produktivität, die seit jeher eines der größten Hindernisse für das Wachstum der Region darstellt, empfiehlt das UNDP, dass sich der Kontinent auf die „Schaffung von Arbeitsplätzen und Unternehmen konzentrieren sollte, die auf Wissen und Innovation basieren, insbesondere in den Bereichen Wissenschaft, Technologie, Ingenieurwesen und Mathematik”.

Dieser Vorschlag kollidiert indes mit der politischen Realität vieler Länder wie Argentinien, wo der systematische Abbau von Wissenschaft und Forschung im letzten Jahr und die erhebliche Kürzung der Bildungsbudgets im Widerspruch zu den als vorrangig erachteten Empfehlungen internationaler Experten stehen.

Der vierte Faktor, die tief verwurzelten strukturellen Ungleichheiten in der Region, beginnt, sich in neuen Situationen wie der digitalen Kluft zu manifestieren.

Lateinamerika und die Karibik werden laut UNDP nicht uneingeschränkt von der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz profitieren können, solange Haushalte mit niedrigem Einkommen und ländliche Gebiete von einer grundlegenden Infrastruktur wie dem Internet abgeschnitten bleiben.

Im Bildungsbereich verschärft diese Kluft das Problem noch weiter, wie die Ergebnisse des Programms zur internationalen Schülerbewertung (PISA) zeigen, wonach viele Schüler erhebliche Schwierigkeiten haben, komplexe Fähigkeiten wie Mathematik und Naturwissenschaften zu erwerben.

Soziale Ungleichheiten wie die unverhältnismäßig hohe Belastung der Frauen durch die Betreuung von Angehörigen schränken ihren wirtschaftlichen Beitrag ein.

Und schließlich, aber nicht weniger kritisch, das Misstrauen gegenüber dem System und der Politik. Nach Angaben des UNDP ist dieses auf die anhaltende Ungleichheit zurückzuführen, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Demokratie und ihre Institutionen untergraben hat.

Wenn der Staat nicht auf die Grundbedürfnisse und Erfordernisse der lokalen Gemeinschaften eingeht, tendieren diese dazu, sich nicht mehr auf ihn zu verlassen, was die Spaltungen auch innerhalb eines Landes verstärkt. Unter diesen Umständen des Misstrauens gegenüber dem demokratischen System wären viele Menschen sogar bereit, radikale Lösungen wie einen Staatsstreich zu rechtfertigen, wenn dadurch ihre Lebensbedingungen und ihre Sicherheit verbessert werden könnten.

Mehrere Krisen auf einmal auf einem Kontinent, der trotz seines großen natürlichen Potenzials weiterhin zu kämpfen hat. Er wird immer mehr zu einer zweitrangigen Rolle verdammt ‒ zum Agrarexporteur und abhängig von den wechselnden Launen der großen Machtzentren.

Lateinamerika und Karibik laufen heute Gefahr, ein Modell der Abhängigkeit zu reproduzieren, anstatt aktiv die Autonomie in Einheit aufzubauen.

Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21.

Titelbild: Shutterstock / Vibe Images


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