Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Leserbriefe zu „Deutschland, uneinig Vaterland“
Datum: 8. Oktober 2025 um 16:00 Uhr
Rubrik: Leserbriefe
Verantwortlich: Redaktion
In diesem Beitrag thematisiert Maike Gosch den Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober. Die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands 1990 werde gefeiert, zugleich erinnere „dieser Tag auch an die historische nationale Einigung, die im 19. Jahrhundert mit der Reichsgründung 1871 erreicht wurde“. Während die staatliche Einheit erreicht worden sei, scheine in diesem Jahr die gesellschaftliche Einheit weniger vorhanden und weniger erreichbar zu sein denn je. Wir danken für die interessanten Leserbriefe hierzu. Die nun folgende Auswahl hat Christian Reimann für Sie zusammengestellt.
1. Leserbrief
Sehr geehrte Frau Gosch,
die FDP-Spitzenpolitikerin Linda Teuteberg argumentierte so ähnlich wie Sie auch, daß es mehr Verbindendes als Trennendes gäbe:
“Uns Deutsche verbindet eine gemeinsame Kultur, auch jenseits der Sprache. Die Überwindung der SED-Diktatur sollte uns Anlass sein, zu lernen, dass es ebenso wie nationale historische Verantwortung auch legitime nationale Freude gibt. Feiern wir, was uns verbindet. #TDE25”, so Linda Teuteberg (03.10.2025).
Ich will dazu nur anmerken:
Ja, es gibt diese gemeinsame Kultur, die die Deutschen verbindet, nämlich die Kultur des Schweigens & Vergessens:
Die gemeinsame Kultur der Deutschen lautet: Beschweigen & Vergessen – und vor allem den Kindern in den Schulen nichts davon erzählen, sondern nur einen Brei aus Halbwissen & Blödsinn.
Mit freundlichen Grüßen,
Ernesto Loll
2. Leserbrief
Sehr geehrte Frau Gosch,
35 Jahre nach der „Deutschen Einheit“: Deutschland will endlich wieder über allem stehen
Na ja. Die sogenannte Deutsche Einheit war doch eigentlich eine Annexion, weil es, bspw. im Gegensatz zur Krim-Abstimmung, gar kein Referendum gab.
Auch war die Bedingung für die Vereinigung, dass sich die NATO keinen Inch weiter nach Osten ausdehnt. Da es im erheblichen Maße aber doch geschah und weiter geschehen soll, müsste sie also eigentlich rückgängig gemacht werden.
Die Oppositionen und Bürgerbewegungen, so auch ich, gingen nämlich nicht für die Irrfahrt in die kapitalistische Sackgasse, sondern für eine reformierte sozialistische DDR auf die Straße, was auch (mehr) Meinungsfreiheit und Reisefreiheit einschloss.
Daher war ich natürlich alles andere als begeistert vom 02.10.1990, an dem ich zur mitternächtlichen Feierlichkeit in Berlin zur Begrüßung des 03.10.1990 „mitgeschliffen“ wurde. Der Traum von einer reformierten und endlich richtig sozialistischen DDR war ausgeträumt und mir war klar, dass ich nun für den Kapitalisten zu arbeiten hätte.
Mit der Liquidation einer ganzen, sich selbsttragenden Volkswirtschaft und dem Diebstahl des gesamten DDR-Volkseigentums (mindestens eine Billion DM), was Massenarbeitslosigkeit und Massenverelendung in der Ost-Bevölkerung zur Folge hatte, war doch die große Spaltung schon besiegelt. Ach so, da war doch auch noch etwas mit einer Verfassung, die laut Gründungsvätern des Deutschen Grundgesetzes für den Fall des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten unter Volksabstimmung etabliert werden sollte. Aber Pustekuchen.
Und das sogenannte Sommermärchen 2006 erlebte ich als einen großen Albtraum. Da spürte ich schon, wie eine ganze Volksmasse dazu gebracht werden kann, in eine Richtung zu marschieren. Zu diesem Zeitpunkt war dieses Deutschland übrigens schon längst in festen Händen des Hartz4-Regimes, dem wir den größten Sozialabbau in der BRD seit Ende des zweiten Weltkrieges zu „verdanken“ haben und unter dem bereits viele Leute, so auch ich, zu leiden hatten.
Jetzt ist die Verarmung nur immer mehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und der Deutsche Michel ist darüber furchtbar erstaunt. Hätte er sich mal mit den Folgen der Agenda 2010 auseinandergesetzt, hätte er schon zu dem zwingenden Schluss kommen müssen, dass die Verarmung immer weiter zunehmen werde. Aber er hat stattdessen den Hartz4-Reformen sicherlich begeistert zugestimmt und sich weiter mit Brot und Spielen (Apropos „Sommermärchen“ 2006) betäubt.
Nun wird dem Deutschen Michel das“ letzte Hemd genommen“ und er wird von den deutschen Nazi-Erben aus Politik und Massenmedien auf den großen Krieg in Stalingrad 2.0 eingeschworen. (Frau Gosch hätte unbedingt mal klarstellen müssen, wo die wirklichen Rechtsextremen und Nazis sitzen, und dass Demos gegen Coronamaßnahmen und Impfzwang sowie Frieden und Völkerverständigung keine rechten, sondern linke Demos sind, es sei denn, sie hat es auch immer noch nicht erkannt.)
Aber er bleibt lieber brav zu Hause und sieht seinem Untergang und dem Untergang seines Landes brav zu oder gefällt sich sogar noch in der Rolle, jeglichen Friedens- und Völkerverständigungsinitiativen fanatisch und systematisch in den Rücken zu fallen.
35 Jahre nach dem „Einheitstag“ erscheint es mir, wie 85 Jahre zurückgeworfen. Daher hätte ich zu den diesjährigen offiziellen Feierlichkeiten eigentlich die große mediale Einspielung der ersten Strophe der Deutschen Nationalhymne erwartet.
Mit freundlichen Grüßen
Elian Binner
3. Leserbrief
Sehr geehrte Frau Gosch,
zuerst möchte ich mich, wie schon bei früherer Gelegenheit, von Herzen für Ihre Arbeit bedanken. Sie und Ihr journalistischer Ansatz sind für die Medienlandschaft im Allgemeinen und die NachDenkSeiten im Besonderen ein absolutes Geschenk. Ich freue mich auf jeden einzelnen Artikel von Ihnen.
Ihr aktueller Text zur Spaltung der Gesellschaft hat mich tief bewegt, weil er eine Entwicklung beschreibt, in der uralte und oft beschriebene Methoden zum Tragen kommen. Methoden, die man, wenn man sie einmal erkannt hat, überall wiederfindet.
Der Politikwissenschaftler nennt es “Teile und Herrsche” – die Aufspaltung größerer Machtkonzentrationen in kleinere, leichter zu kontrollierende Einheiten. Der Psychologe spricht von “Spaltung” oder “Abspaltung”, einem Mechanismus, bei dem das eigene Selbst oder andere Menschen in ausschließlich gute oder schlechte Anteile zerlegt werden. Manipulative Persönlichkeiten nutzen dies gezielt, um Keile zwischen Menschen zu treiben. Und in der Theologie findet das Prinzip seine Entsprechung in der Konzeption von Sünde und in der kirchlichen Geschichte als Machtinstrument, das den Menschen gefangen hält.
Hermetiker würden sagen: “Wie im Großen, so im Kleinen.” So wie die Zelle sich teilt, um intelligentes, selbstwirksames Leben zu schaffen, und dieses Leben durch Zerstückelung vernichtet wird, so findet sich dieses Muster auch in Familien, Gemeinschaften, Städten und Staaten. Je größer eine Gruppe wird, desto gefährlicher wird sie für jene etablierten, selbsterhaltenden Systeme, die man umgangssprachlich als “Eliten” bezeichnet. Gruppen müssen getrennt werden, damit sie sich nicht zur Wehr setzen können.
Das ist eine oft genutzte imperialistische Methode, um “zu große Staaten” in viele kleine aufzuteilen, die nicht mehr die “Macht der Masse” besitzen. Deswegen muss mit allen Mitteln verhindert werden, dass wir ein “Herzland Europa” bekommen. Deswegen ist es so wichtig, dass Deutschland in den Köpfen der Menschen niemals wirklich geeint wird. Wir könnten jemandem – den ich persönlich nicht näher definieren kann und möchte – zur Gefahr werden. Sobald eine kritische Masse erreicht wird, wird sie aufgespalten. Man kann es fast vorhersagen, egal ob es um Coronakritiker, Bauernproteste, den Arabischen Frühling, den Maidan 2014 oder die Zerschlagung der Sowjetunion geht. Meines Erachtens nach fühlen sich immer dieselben bedroht und wenden immer dieselben Methoden an.
Die von Ihnen beschriebene Spaltung ist daher weder ungewöhnlich noch unerklärlich, sondern eine logische Konsequenz aus gesellschaftlicher und geopolitischer Sicht. Dass sich das Individuum – und je nach Kontext würde ich hier auch ganze Staaten so bezeichnen – so leicht spalten lässt, zeigt, wie fragil der Zusammenhalt im Großen durch die Spaltung im Kleinen gemacht wird.
Was wir dagegen tun können? Uns nicht spalten lassen. Mitdenken. Selbstwirksam und eigenverantwortlich handeln. Wir können nicht die Außenwelt verändern, nicht durch unser Eingreifen. Wir können in der Außenwelt nicht mit den üblichen Mitteln wirken. Aber jeder von uns kann individuell in seiner Realität, in seinem Bewusstsein, die Entscheidung treffen, verantwortungsvoll zu handeln. Nur da! Dazu ist es essenziell, dass wir hören, sehen, denken und zusammenhalten. Nur dadurch ermächtigen wir uns, im Außen zu wirken.
Vielen Dank für Ihre Arbeit, Frau Gosch. Sie tragen als eine der wenigen Stimmen – auch auf den NachDenkSeiten – zum Zusammenhalt bei, nicht zur Spaltung. Und das ist in diesen Tagen unglaublich wichtig.
Mit freundlichen Grüßen,
Danny Altmann
4. Leserbrief
Auf vielen Kanälen sind die Themen wie Uneinigkeit und Spaltung virulent.
Festzustellen wäre doch erstmal, ob jemals in diesem sog. Vaterland eine Einigkeit bestanden hat?
Wie genau sah diese denn aus?
Ist es nicht so, dass das vorherrschende Politsystem selbst für Spaltungen, Ausgrenzungen… ‘sorgt’, da Parteien ja untereinander in Konkurrenz stehen und einem jeweiligen Wahlklientel immer das versprechen, was vorherige Regierungsparteien angeblich nicht zustande gebracht haben?
Allerhöchste Zeit dieses unfruchtbare und unwürdige Polittheater zu beenden, welches WählerInnen im Untertanenstatus hält und “wirkliche Demokratie” verhindert.
“Echte Demokratie” heißt, dass wir als BürgerInnen alle über “politische Machtgleichheit” verfügen um miteinander Politik machen zu können.
Leider vermisse ich das Nachdenken darüber auch auf den Nachdenkseiten, die uns zwar tagtäglich die Verfehlungen des heutigen Politsystems vor Augen führen, jedoch immer noch von diesem falschen System richtige Ergebnisse im Sinne des Gemeinwohls erwarten.
L.G.
Ute Plass
Anmerkung Albrecht Müller: Was wäre denn das richtige System, verehrte Frau Plass? Und überhaupt, was soll der Begriff System? Wie würden Sie unser System definieren, beschreiben?
Schöne Grüße.
Albrecht Müller
Lieber Albrecht Müller,
Danke für Ihre Rückfrage, die mich freut.
Systemisch verstanden wäre eine wirkliche Demokratie, ein System zu etablieren, das gesellschaften stabil befriedet, so dass menschliche Gesellschaften überhaupt gedeihen können.
Dazu bedarf es politischer Machtgleichheit aller BürgerInnen, die eben nicht ihre Stimme an eine Partei abgeben, sondern selbst Politik machen auf dem Boden einer von ihnen selbst verfassten Verfassung. ‘Richtig’ im Sinne von: Wir BürgerInnen geben uns selbst Regeln und Gesetze, nach denen wir uns verhalten. Insofern kommt die Idee der “gelosten Demokratie” dem weitaus näher als das, was wir als “repräsentative Demokratie” bezeichnen, die doch letztlich (siehe auch Mausfeld) eine simulierte ist:
(…)
Im Sinne “paradoxer Intervention” hat sich eine Losdemokratiepartei gegründet, deren Ziel eine Verfassungsreform ist und das Überflüssigmachen von Parteien.
Auch wenn der Parteivorsitzende der Losdemokratiepartei Ardalan Ibrahim in seiner ‘sehr eigenwilligen, unkonventionellen Weise’ darübe spricht, so halte ich seine Überlegungen zur gelosten Demokratie für sehr bedenkenswert. (…)
Mit großem Dank und Wertschätzung für Ihr unermüdliches Tun im Sinne würdigen Lebens aller sende ich friedensbewegte Grüße,
Ute Plass
5. Leserbrief
Liebe Redaktion,
wie jeden Morgen werden bei DSF die Kurznachrichten gehört, um das Wichtigste des Tages zu wissen. Das Wichtigste ist an diesem Tage freilich der Tag der Einheit, der gefeiert wird. Wie viele Millionen im Lande haben nach 35 Jahren wirklich nur zu feiern? Die Frage wird nicht gestellt, schon gar nicht nach Antwort gesucht. Wie viele Millionen der “Helden” und “friedlichen Revolutionäre” sehen nach 35 Jahren ihre Forderungen nach Freiheit, Demokratie ganz konkret, nach sozialen Menschenrechten über die Banane und grenzenloses Reisen, nach Konsumfreiheiten bei reichlich finanziellen Mitteln erfüllt? Wo ist das zu erfahren? In Feierlaune kommen wie alljährlich jene zusammenkommen, die sich selbst feiern, feiern lassen, allerlei Hohn und Spott, Zynismus für die übrig haben, die ihnen den Weg an die Macht demonstriert haben und sich eher auf der Verliererseite und Illusionisten wiederfinden.
Tag der Einheit nichts zum Feiern für das ganze “Wir sind das Volk” um mal wieder an Sprüche zu erinnern wie auch die “Freiheit der Andersdenkenden”. Der Umgang mit solchen wird zunehmend sichtbar dank der Staatsgewalten und Staatsräson.
Warum neben dem Tag der Einheit nicht große Friedensdemos in Berlin und Stuttgart ein Wort in den Kurznachrichten wert ist, auch das ist bezeichnend. Tag der Einheit ohne Frieden, ist das des Volkes Wille, der Wunsch und Wille der friedlichen Revolution gewesen? Was ist Freiheit und Demokratie, wenn die Stimme und Wille von vielen Tausenden Menschen einfach ausgeblendet, nicht erwähnenswert ist, bewußt verschweigen wird? Warum gehören Einheit und Frieden nicht untrennbar zusammen? Was haben wir 1990 zum Thema an Lobeshymnen gehört? Alles vergessen, nie war es ernst gemeint! Machtanspruch, Krisen, Kriege, keine Meinungsfreiheit nichts davon sollte es mehr geben im vereinten Deutschland. Von alledem haben wir heute mehr als jemals und werden täglich in einen dritten Weltkrieg getrieben. Meinungsvielfalt, Pluralismus heißt heute Gleichschaltung und Verschweigen.
Roland Winkler
6. Leserbrief
Hallo Frau Gosch, geschätztes NDS-Team,
man stand an der Oberbaumbrücke und es flossen Tränen die Backen hinunter. Diese anrührende Gemütslage wandelte sich aber rasch in Zorn; denn dort standen auch Händler welche u. a. angegammelte Mandarinen für 2,- DM das kg verkauften, die frisch bei uns auf dem Markt in Friedenau 1,- DM gekostet hatten. “Freie Soziale Marktwirtschaft” ist bei dergl. wohl der terminus technicus. Als waschechter Berliner – beide Eltern müssen dazu auch geborene Berliner gewesen sein – hat man immer alles direkt vor Ort, vom Beginn des zweiten Weltkrieges an, hautnah miterleben können bzw. müssen; also nicht nur den Fall sondern auch den Bau der Mauer sowie alles was davor gewesen war. Aber es stört einen immer die irreführende Bezeichnung „Wiedervereinigung“; denn zutreffender wäre die zwar auch etwas euphorische Bezeichnung „Anschluß der DDR“, um den Begriff „feindliche Übernahme“ zu vermeiden. Denn schließlich war doch dies zusammen genommen einer der größten Raubzüge der Geschichte. Beruflich wie privat konnte man zusehen, wie da alles was dem Westen hätte konkurrenzfähig werden können platt gemacht wurde. Die kriminelle Organisation welche das Management drüber führte hieß bekanntlich „Treuhand“ mit einer Präsidentin, deren Name Igitt Gräuel oder so ähnlich war. Rohwedder, der da anders vorgehen wollte, war ja vorsorglich umgebracht worden (Täter unbekannt). Habe da schon vieles belegbare zum Thema zusammengeschrieben, was hier den Rahmen sprengen würde. Es fing doch schon damit an, dass der Auftrag des Grundgesetzes hinsichtlich einer Verfassung negiert wurde. Wir haben jedenfalls langjährig immer das Land zum „Tag der Deutschen Einheit“ verlassen, weil wir, so wie es real abgewickelt wurde, keinen triftigen Grund zum Feiern sehen konnten. Ist da doch so ziemlich alles was man falsch machen kann, auch falsch gemacht worden. Aber es mußte ja ein „Zipfel des Mantels der Geschichte“ ergriffen werden, wie der ehrenwerte Blühlandschaftsgärtner befand, woraufhin er ja auch wiedergewählt wurde. Diese sog. Wiedervereinigung hätte übrigens ohne die Billigung der Russen (Sowjets) unter der Federführung des von uns verraten und verkauften Gorbatschow*), die im Gegensatz zur USA alle Besatzungstruppen aus D abgezogen haben und nun, statt eines Dankes, aktuell „für immer zu unserem Feind“ erklärt wurden (what a fool!), nie stattfinden können!
Bester Gruß
H. Wohler
7. Leserbrief
Sehr geehrte Frau Maike Gosch,
ich bitte Sie um Kentnisnahme meiner Zeilen und etwas mehr…
Offene Mail, 3. Oktober 2025
„Wiedervereinigung“? – Eindeutig: Nein
Am 3. Oktober 1990 jubelten Hunderttausende vor dem Reichstag. „Wir sind ein Volk“, sangen sie, die Fernsehkameras hielten ein nationales Glücksversprechen fest. Politiker sprachen vom „großen Tag der Wiedervereinigung“. Doch was in der Euphorie kaum beachtet wurde: Juristisch hatte sich kein neuer Staat gegründet, sondern die DDR war schlicht der alten Bundesrepublik beigetreten. Diese Unterscheidung mag trocken wirken, doch sie prägt bis heute das Selbstverständnis des vereinigten Landes – und erklärt viele Brüche der vergangenen 35 Jahre.
These 1 – Der juristische Kern
Der Einigungsvertrag war kein Neubeginn, sondern ein Beitritt der DDR nach Artikel 23 GG (a.F.). Von einer gemeinsamen Verfassung nach Artikel 146 GG (a.F.) war nie die Rede. Juristisch handelte es sich um eine einseitige Übernahme, nicht um den Bund zweier Staaten. Der Bonner Verfassungsrechtler Roman Herzog formulierte es 1990 klar: „Es handelt sich um den Beitritt eines Staates zu einem bestehenden Staatswesen, nicht um eine neue Verfassung.“¹ Wer heute noch von „Wiedervereinigung“ spricht, verschleiert diese nüchterne Realität.
These 2 – Politische Sprachvernebelung
Während die Vertragstexte nüchtern von „Einheit“ und „Beitritt“ sprachen, inszenierten Politiker die Einheit als „Wiedervereinigung“. Helmut Kohl versprach im Juli 1990: „Durch die Einheit werden in kürzester Zeit blühende Landschaften entstehen.“² Richard von Weizsäcker sprach am 3. Oktober 1990 vom „großen Tag der Wiedervereinigung“.³ Die Politik entschied sich bewusst für das warme Wort, das Emotionen band, aber die kühle juristische Realität überdeckte.
Die Doppelstrategie war durchsichtig: Nach innen sollte die Rede von der „Wiedervereinigung“ Gefühle wecken – von Heimkehr und Neubeginn auf Augenhöhe. Nach außen, gegenüber den Siegermächten und Nachbarn, diente der nüchterne Vertragstext als Beruhigungssignal: kein neuer Staat, sondern ein erweiterter alter.
These 3 – Erwartung und Enttäuschung
Die Rede von der „Wiedervereinigung“ weckte im Osten die Erwartung einer Neugründung auf Augenhöhe. Die Realität war anders: Mit dem 3. Oktober 1990 hörte die DDR staatsrechtlich auf zu existieren. Ihre Länder wurden eingegliedert und ihre Institutionen aufgelöst. Der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, sagte 1991 rückblickend: „Wir wollten eine Vereinigung, gekommen ist ein Beitritt.“⁴ Für viele Ostdeutsche wurde daraus das Gefühl, nicht Teilhabe, sondern Übernahme erlebt zu haben.
These 4 – Ökonomische Folgen
Die ökonomische Realität der Einheit war ein Schock. Die Treuhandanstalt privatisierte oder liquidierte rund 14.000 Betriebe mit über 4 Millionen Beschäftigten. Ganze Branchen verschwanden. Birgit Breuel, die letzte Präsidentin der Treuhand, räumte 1998 ein: „Die Treuhand war die größte Zerschlagungsanstalt Europas.“⁵ Statt Aufschwung kam Massenarbeitslosigkeit – in Ostdeutschland lag die Quote Mitte der 1990er Jahre bei über 15 Prozent.
Hinzu kamen strukturelle Nachteile: Wer im Osten blieb, arbeitete oft für deutlich weniger Geld. Die Lohnlücke zwischen Ost und West beträgt auch 2025 noch rund 15 bis 17 Prozent.⁶ Besonders qualifizierte junge Menschen zogen fort: Zwischen 1990 und 2010 verlor Ostdeutschland etwa 2 Millionen Einwohner.⁷ Ganze Regionen verödeten, viele Städte kämpften mit Leerstand und Schrumpfung. Noch heute wird der Osten mit Milliarden-Transfers stabilisiert – ein Ungleichgewicht, das das Narrativ von den „blühenden Landschaften“ bis heute als gebrochen erscheinen lässt.
These 5 – Politische Schieflage
Auch in der politischen und gesellschaftlichen Repräsentation setzte sich die Asymmetrie fort. In den 1990er Jahren lag der Anteil Ostdeutscher in Führungspositionen bei unter 2 %. Heute, 35 Jahre nach der Einheit, liegt er zwar höher, aber noch immer deutlich unter dem Bevölkerungsanteil. Laut der sogenannten Middelhoff-Studie 2019 stammen nur rund 1,7 % der Eliten in Wirtschaft, Justiz, Verwaltung und Wissenschaft aus dem Osten.⁸ In den Vorständen der DAX-40-Unternehmen kommt kaum mehr als 3 % aus Ostdeutschland. Der Politikwissenschaftler Michael Edinger nennt dies eine „strukturelle Unterrepräsentation, die demokratiepolitisch hoch problematisch ist.“⁹
Dieses Gefälle hinterlässt Spuren: Viele Ostdeutsche erleben bis heute, dass ihre Biografien und Lebensleistungen geringgeschätzt werden. Politische Entfremdung und Misstrauen in „die da oben“ sind auch eine Folge dieser dauerhaften Unterrepräsentation.
These 6 – Gegenwartssprache
Offizielle Stellen meiden heute das Wort „Wiedervereinigung“. Die neue Ostbeauftragte Elisabeth Kaiser (SPD) der Bundesregierung spricht von „Deutscher Einheit“ oder vom „inneren Zusammenwachsen“.¹⁰ Medien dagegen halten am vertrauten Begriff fest, besonders zu Jubiläen. Die „Tagesschau“ titelte am 3. Oktober 2020 etwa schlicht: „30 Jahre Wiedervereinigung“.¹¹ Die alte Diskrepanz bleibt also: eine juristisch präzise Amtssprache auf der einen, eine emotional verklärte Öffentlichkeit auf der anderen Seite.
These 7 – Die Geschichte der Einheit ist eine Geschichte der Begriffsverwirrung.
Die Einheit war ökonomisch ein Umbruch mit hohen sozialen Kosten, politisch eine Übernahme mit bleibenden Machtasymmetrien. Nur wenn dieser Befund offen anerkannt wird, kann die Debatte über die Einheit ehrlich geführt werden.
Die deutsche Einheit ist kein abgeschlossenes Märchen, sondern eine unfertige Geschichte. Wer sie verstehen will, muss am Anfang anfangen – bei der Frage, warum „Wiedervereinigung“ bis heute gesagt, aber nie vollzogen wurde.
Quellen (Auswahl)
Für eine Rückmeldung bin ich dankbar, besonders aber für kritische Hinweise und Anmerkungen, die zur Schärfung der Argumentation beitragen können.
Einen schönen Feiertag,
Christian Josef Barthel
Anmerkung zur Korrespondenz mit den NachDenkSeiten
Die NachDenkSeiten freuen sich über Ihre Zuschriften, am besten in einer angemessenen Länge und mit einem eindeutigen Betreff.
Es gibt die folgenden E-Mail-Adressen:
Weitere Details zu diesem Thema finden Sie in unserer „Gebrauchsanleitung“.
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=140197