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Titel: Gegenrede zum Aufsatz „Was ist Journalismus?“ von Klaus Meier

Datum: 11. Oktober 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Medien und Medienanalyse, Medienkritik
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In der Zeitschrift JRP Journal für Rechtspolitik, Band 33, Juni 2025, Heft 1 legt der Journalismus-Professor Klaus Meier eine definitorische Skizze vor unter dem Titel „Was ist Journalismus? – Standards und Strukturen als Abgrenzungskriterien“. Darin beschreibt er Kriterien wie Gegenwartsbezug, Faktizität und strukturelle Unabhängigkeit – und sieht neue Akteure wie Blogger, Podcaster oder Influencer mit erheblicher Skepsis. Eine Gegenrede von Klemens Reif.

Sein Text wird in Fachkreisen sicher Beachtung finden, gerade weil er beansprucht, grundlegende Maßstäbe für den Journalismus der Gegenwart zu setzen. Umso wichtiger ist es, genauer hinzuschauen: Viele seiner Prämissen sind weniger neutrale Definitionen als Verteidigungsstrategien zugunsten klassischer Medienhäuser. Sie sichern etablierten Institutionen Deutungshoheit – und drängen alternative Stimmen in eine Grauzone.

Ich habe mich intensiv mit Meiers Text auseinandergesetzt und möchte im Folgenden eine Gegenrede liefern: nicht aus Ressentiment, sondern aus dem Anspruch, Journalismus in einer demokratischen Gesellschaft wirklich zu hinterfragen. Der Hauptfehler von Meiers Ausführungen liegt nicht in der formalen Definition, sondern im eingeschränkten Blick: Die Rolle westlicher Desinformation, die Eigeninteressen großer Medien und die Mündigkeit der Leser werden kaum thematisiert.

Einseitige Desinformationsdiagnose

Schon in der Einleitung greift Meier zwei Beispiele auf: die angeblich 30.573 Lügen Donald Trumps und die russischen Trollfabriken, die er als Ursprung moderner Desinformation beschreibt. Damit setzt er den Rahmen: Desinformation kommt von „außen“ – durch autoritäre Staaten und Populisten.

Beispiele westlicher Desinformation

Diese Sicht ist jedoch einseitig. Auch westliche Regierungen und Medien haben Falschinformationen verbreitet oder weitergetragen. Historische Fälle sind gut dokumentiert:

  • Die Brutkastenlüge 1990: Vor dem ersten Irakkrieg berichtete die Tochter des kuwaitischen Botschafters unter Tränen, irakische Soldaten hätten Babys aus Brutkästen gerissen – eine PR-Inszenierung, die weltweit von Leitmedien übernommen wurde. Später stellte sich heraus: Die Geschichte war frei erfunden.
  • Der Tonkin-Zwischenfall 1964: Angebliche Angriffe nordvietnamesischer Boote auf US-Zerstörer dienten als Kriegsbegründung – ein Ereignis, das so nie stattgefunden hat.
  • Irak 2003, „Weapons of Mass Destruction“: Die Behauptung, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, war zentral für die Kriegsentscheidung. Leitmedien griffen sie auf – Belege gab es nie.

Auch in jüngerer Zeit finden sich Beispiele:

  • Flüchtlingskrise 2015: Die Otto-Brenner-Stiftung dokumentierte, dass große Teile der deutschen Journalisten ihre kritische Beobachterrolle vernachlässigten und stattdessen Regierungspositionen übernahmen. Mehr als die Hälfte der Deutschen hielt die Medienberichterstattung über Alter, Geschlecht und Zahl der Geflüchteten für unzutreffend.
  • Corona-Berichterstattung: Bemerkenswert ist der Widerspruch zwischen Meiers theoretischen Ausführungen und seiner eigenen Forschung. Gemeinsam mit Vinzenz Wyss legte er 2020 eine Analyse der Corona-Berichterstattung vor, in der er massive Defizite dokumentierte: eine einseitige Fixierung auf Virologen, das Ausblenden anderer Disziplinen sowie die kaum erkennbare Darstellung von Unsicherheit. Mit anderen Worten: Gerade in einer der größten gesellschaftlichen Krisen haben deutsche Leitmedien zentrale Ansprüche des Journalismus verfehlt. Und nun präsentiert Meier dieselben Institutionen als Garanten von Faktizität und Vielfalt.
  • Ukraine ab 2022: Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur deutschen Ukraine-Berichterstattung dokumentiert, dass die meisten Leitmedien in den ersten drei Monaten überwiegend für schwere Waffenlieferungen plädierten und diplomatische Verhandlungen als deutlich weniger sinnvoll charakterisierten. Die Studie belegt eine einseitige Präferenz für militärische statt diplomatische Lösungsansätze.
  • Joe Biden: Das TV-Duell im Juni 2024 offenbarte Bidens kognitive Schwächen vor einem Millionenpublikum. CNN-Umfragen sahen Trump mit 67 Prozent als klaren Gewinner, europäische Medien sprachen von einer „schwachen und beunruhigenden“ Performance. Dennoch verharmlosten viele deutsche und US-amerikanische Medien wochenlang die offensichtlichen Probleme, bis Biden schließlich Ende Juli aus dem Rennen genommen wurde. Selbst nach diesem eindeutigen Scheitern wurde das Ausmaß seiner kognitiven Einschränkungen in der Berichterstattung lange kleingeredet.
  • Charles „Charlie“ James Kirk 2025: Nach seiner Ermordung sagte ZDF-Korrespondent Elmar Theveßen wörtlich: „Kirk hat gesagt beispielsweise, dass Homosexuelle gesteinigt werden müssen …“ Tatsächlich hatte Kirk jedoch eine problematische Bibelstelle zitiert, um zu erklären, dass man sie nicht wörtlich nehmen dürfe – weil das sonst zur Steinigung führen würde. Theveßen verkehrte Kirks Aussage damit ins Gegenteil. Das ZDF räumte später lediglich ein, „dieser Zusammenhang hätte deutlicher gemacht werden müssen“.

Diese Beispiele zeigen: Desinformation ist kein exklusives Werkzeug autoritärer Staaten, sondern auch Teil westlicher Mediengeschichte.

Verlagshäuser als Garanten

Meier verweist auf große Verlagshäuser und öffentlich-rechtliche Anstalten, die durch Kodizes, Presserat oder Redaktionsstatuten Qualitätsstandards sichern sollen. Doch die Realität ist ambivalenter:

  • Springer-Presse (BILD, Welt) betrieb nachweislich Kampagnenjournalismus – etwa gegen Jörg Kachelmann oder Bundespräsident Wulff.
  • Der Spiegel musste den Relotius-Skandal einräumen: erfundene Reportagen, die redaktionsintern niemand hinterfragte.
  • Der Stern veröffentlichte 1983 die gefälschten Hitler-Tagebücher.
  • Öffentlich-rechtliche Sender gerieten durch den RBB-Skandal und die politische Besetzung ihrer Gremien in massive Kritik.

Das zeigt: Auch große Häuser haben Interessen, Linien und Fehler – sie sind keineswegs automatisch Garanten für Wahrheit.

Zur Definition des Journalismus

Meier nennt fünf Kriterien für Journalismus: Gegenwartsbezug/Periodizität, Faktizität, Vielfalt/Distanz, strukturelle Unabhängigkeit und Professionalität.

  • Gegenwartsbezug und Periodizität
    Laut Meier müsse Journalismus regelmäßig und mit aktuellem Bezug berichten. Doch „Gegenwartsbezug“ ist tautologisch: Ein Ereignis wird automatisch zum „Zeitgespräch“, wenn darüber berichtet wird. Periodizität bevorzugt Quantität über Qualität.
  • Faktizität
    In der Theorie selbstverständlich. In der Praxis jedoch haben gerade Leitmedien wiederholt Falschinformationen verbreitet. Faktentreue ist kein Monopol institutioneller Medien.
  • Vielfalt und Distanz
    Meier fordert Ausgewogenheit. Doch viele Leitmedien bilden eher die Narrative politischer und wirtschaftlicher Eliten ab.
  • Strukturelle Unabhängigkeit
    Meier verweist auf die „Mauer“ zwischen Redaktion und Verlag. In der Realität sind politische und wirtschaftliche Einflüsse allgegenwärtig. Correctiv, welches er als positives Beispiel nennt, erhält unter anderem Gelder von staatlichen Stellen, der EU und stiftungsnahen Organisationen. Das wirft Fragen auf, ob es tatsächlich als Musterbeispiel für Unabhängigkeit gelten kann.
  • Professionalität
    Meier argumentiert, Journalismus müsse als Profession mit Ausbildung, Ethos und Kodizes verstanden werden. Kritisch betrachtet wirkt das wie eine Zugangskontrolle. Wer keinen Presseausweis hat, soll weniger „Journalismus“ sein? In einer Demokratie darf Öffentlichkeit nicht an institutionelle Weihen gebunden sein.

Damit wird deutlich: Meiers Definition privilegiert institutionelle Medien und drängt alternative Stimmen ins Abseits.

Neue Formen des Journalismus

Besonders kritisch äußert sich Meier über neue Akteure wie Blogger, Podcaster oder Influencer. Er spricht von einer „Grauzone“ und fordert, dass auch sie sich Standards wie Moralkodizes und Qualitätsmanagement unterwerfen sollen.

Zwischen den Zeilen entsteht der Eindruck: Diese neuen Stimmen sind für ihn eine Bedrohung. Reichweite gewinnen diese neuen Stimmen jedoch nicht, weil Leser „naiv“ wären, sondern weil viele Menschen das Vertrauen in die etablierten Medien verloren haben. Wer zu oft einseitig informiert wurde, sucht nach Alternativen.

Dass Meier Correctiv lobt, während er Einzeljournalisten mit Skepsis betrachtet, verstärkt diesen Eindruck. Correctiv ist keineswegs frei von Abhängigkeiten. Einzelne Journalisten hingegen sind oft unbequemer und unabhängiger, gerade weil sie nicht in große Strukturen eingebunden sind.

Abwertung des Publikums

Meier verweist auf den Digital News Report 2024, wonach 39 Prozent der Österreicher, 42 Prozent der Deutschen und 72 Prozent der US-Amerikaner angeben, sie könnten Online-Nachrichten nicht mehr klar von Falschmeldungen unterscheiden.

Für ihn ist das ein Zeichen von Überforderung: Wer akzeptiere, dass die meisten Menschen Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheiden können, brauche keinen Journalismus mehr.

Doch diese Zahlen lassen sich auch positiv deuten: Sie zeigen nicht Dummheit, sondern Skepsis. Viele Menschen glauben den Medien nicht mehr blind. Sie prüfen, vergleichen, zweifeln – genau das ist Ausdruck von Mündigkeit.

Während Meier daraus eine Defiziterzählung macht, lässt sich derselbe Befund auch als Fortschritt deuten: Bürger lassen sich nicht mehr alles aufs Auge drücken. Sie haben gelernt, kritisch zu sein – und das ist nicht das Ende, sondern die eigentliche Stärke der Demokratie.

Schluss

Meiers Aufsatz bietet keine neutrale Definition von Journalismus, sondern liest sich eher wie eine Verteidigungsschrift für die institutionellen Medien. Er verschweigt die Rolle westlicher Desinformation, verklärt Verlagshäuser und Anstalten zu Wahrheitsgaranten und behandelt alternative Stimmen sowie ihr Publikum mit Skepsis.

Echter Journalismus ist unbequem. Er stellt auch die eigenen Narrative infrage und deckt Manipulation dort auf, wo sie am meisten wehtut – in den Machtzentren der eigenen Gesellschaft. Wer diese Aufgabe vergisst und die Fehler nur bei „den anderen“ sucht, macht sich selbst zum Teil jener Desinformationsspirale, die er zu bekämpfen vorgibt.

Titelbild: Tero Vesalainen/shutterstock.com


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