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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Bonsai Deutsche Bahn
Datum: 26. Oktober 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Ökonomie, Wettbewerbsfähigkeit
Verantwortlich: Redaktion
Warum die Sanierung der Bahn weit mehr als nur eine technische Angelegenheit ist – und wie sie zum emotionalen Wendepunkt inmitten der sogenannten Zeitenwende werden kann. Von Laurent Stein.
Bonsai-Bäume sind hochsensible Gebilde. Damit ein „Baum in der Schale“ – so die wörtliche Übersetzung aus dem Japanischen – wirklich gedeihen kann, bedarf es einer ausgetüftelten Pflege, die in Fernost längst zur Kunstform erhoben wurde. Jede Wurzel, jeder Ast und jedes Blatt sind Ausdruck von Achtsamkeit – eines gelingenden Balanceakts zwischen Know-how, Geduld und Sorgfalt. Dabei kann im Grunde genommen jeder beliebige Baum zu einem Bonsai geformt werden. Wichtig ist nur, das eigentliche Ziel der Bonsai-Kunst nicht aus den Augen zu verlieren: die Schaffung eines kleinen Baums, der die typischen Merkmale der ausgewachsenen Form in sich vereint – in idealisierter Gestalt.
Das Herstellen von Parallelen zwischen dieser hohen botanischen Kunst und der krisengebeutelten Deutsche Bahn erscheint auf den ersten Blick an den Haaren herbeigezogen. Vielleicht einmal abgesehen von der Tatsache, dass die Pflege eines Bonsais viel Geduld erfordert – also jener Tugend, die beim Warten auf die zuverlässig verspäteten Züge der Bahn durchaus von Vorteil ist. Doch um sich in Sarkasmus zu ergehen, braucht es dieser Tage keine weiteren Texte. Wir leben in Zeiten, in denen so manches Medienhaus aus dem Nähren des nationalen Pessimismus ein lukratives Geschäft gemacht hat. Dieser Text will anderes: Er ist ein Appell, die Bahn gleich einem Bonsai zu betrachten und ihre Sanierung im Geiste der Bonsai-Kunst anzugehen.
Warum? Nun, weil die Bahn einen Verdichtungspunkt identitätsbildender Elemente in Deutschland darstellt. Gemeint sind hier beispielsweise Tugenden wie Pünktlichkeit, Akribie und Qualität, die im Verbund dafür gesorgt haben, dass das Label „Made in Germany“ auf der ganzen Welt zum Inbegriff für Zuverlässigkeit werden konnte. Gerade weil diese Tugenden hierzulande seit Jahrzehnten so hoch gewichtet werden, wiegt der Niedergang der Bahn, der sinnbildlich für den wirtschaftlichen Zerfall im gesamten Land steht, besonders schwer. Die Bahn gleicht hier einem Spiegel, der der Bevölkerung auf täglicher Basis die immer größer werdende Lücke zwischen mentalem Selbstbild und Realität vor Augen hält.
In vielen Ländern dieser Welt würden verspätete Züge keine kollektive Hysterie auslösen. Doch hierzulande ist die Bahn mehr als einfach nur ein Transportunternehmen, mehr als bloß Eisenbahn. Sie ist eng verwoben mit dem nationalen Selbstbild, ja dem Selbstwertgefühl einer ganzen Nation. Das zeigt sich schon daran, dass sie von der Bevölkerung, unabhängig von politischer Couleur, als Projektionsfläche eines allgemeinen Unbehagens genutzt wird. Ihre prominente Stellung im öffentlichen Diskurs, ihre Rolle als Sündenbock – eines der wenigen verbleibenden Dinge, auf die sich selbst AfD- und Grünen-Wähler informell verständigen können – zeigt das enorme Potenzial der Bahn: im Guten wie im Schlechten. Ein Potenzial, das sich heute noch auf völlig destruktive Weise entlädt, von einer klugen politischen Führung jedoch in eine produktive, gemeinschaftsstiftende Kraft transformiert werden könnte.
Die Zukunft Deutschlands entscheidet sich auf der Schiene. Und dies nicht, weil ein Land ohne pünktliche Züge nicht irgendwie funktionieren kann, sondern weil kein anderes Großprojekt – keine Olympia-Bewerbung und auch keine Heim-EM – in sich jene Kräfte zu bündeln vermag, die notwendig sind, um das Land aus seiner Negativspirale zu führen.
Eine funktionierende Bahn würde der kollektiven Jammer-, Selbstmitleid- und Untergangsstimmung den Boden entziehen. Sie wäre ein dringend benötigtes Zeichen des Aufbruchs – jenseits intransparenter Sondervermögen und einer Zukunft, die am Horizont nicht viel mehr als Altersarmut, Umweltkatastrophen, Schuldenberge sowie Wehrpflicht und Krieg erkennen lässt. Es wäre ein Aufbruch zu neuem Selbstvertrauen, ein erstes Sich-Lösen aus der Angst vor dem Ende des Verbrennerzeitalters und ein erster Schritt für Deutschland, sich im 21. Jahrhundert auf produktive Weise neu zu erfinden. Denn wenn es „selbst bei der Bahn (!)“, diesem halbtoten Zombie-Unternehmen, wieder bergauf ginge, welche Ausreden blieben da noch für all die anderen Bereiche unserer Gesellschaft?
Die Bahn als Bonsai zu betrachten, hieße, sie zu pflegen. Also konkret: zu schützen, was sie heute schon ist, und sie zu düngen – mit Investitionen in Infrastruktur und Personal. Wie bei einem Baum wäre auch ein regelmäßiger Schnitt vonnöten, der sinnbildlich für den Abbau ineffizienter Strukturen, überbordender Bürokratie und maroder Altlasten steht. Zu guter Letzt wäre es ein Vorhaben, das Geduld und Einigkeit erfordert und somit die herkömmliche Logik des Politischen durchbrechen könnte: das Denken in Legislaturperioden statt in Generationen, in Lagern statt in Gemeinschaften. In einem solchen Projekt könnte sich das Land – wie ein Bonsai – in idealisierter Form selbst erkennen; und, vielleicht, neu erblühen.
Titelbild: Maria Sbytova/shutterstock.com
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