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Titel: Griechenland: Ein Land ohne Perspektive

Datum: 15. August 2012 um 10:40 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Euro und Eurokrise, Europäische Union, Griechenland
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In seinem neuen Artikel schildert uns Niels Kadritzke die trostlose Situation, in der sich Griechenland momentan befindet, wirft einen Blick auf die sich verstärkende Emigration qualifizierter junger Menschen und beschäftigt sich ausgiebig mit der aktuellen Diskussion um die nächste Kredittranche durch den EFSF.

Am 10. August gab das Statistische Amt Griechenlands die neuesten Arbeitslosenzahlen bekannt. Im Mai 2012 ist die Arbeitslosenrate auf 23.1 Prozent gestiegen. Sie liegt damit um ein Drittel höher als ein Jahr zuvor und um nahezu das Dreifache höher als vor fünf Jahren. Das Wirtschaftsforschungsinstitut IOBE ergänzte diese Zahlen mit der Prognose, dass ab September dieses Jahres mit einer Arbeitslosenrate von über 24 Prozent zu rechnen sei. Noch pessimistischer ist Savas Robolis, Chef des Arbeitsforschungsinstituts der Gewerkschaften. Er geht davon aus, dass die Einsparungen in Höhe von 11,6 Milliarden Euro, die der Regierung von der Troika für die Haushaltsjahre 2012 und 2012 abverlangt werden, am Ende eine Arbeitslosenrate auf 28 bis 29 Prozent bedeuten (Interview mit dem Radiosender Skai am 10. August).

Noch trostloser sind die Aussichten für die Altersgruppe von 15 bis 24 Jahren: Hier liegt die Arbeitslosenrate inzwischen bei 54,9 Prozent. Diese Zahl markiert einen EU-Rekord und bedeutet, dass in Griechenland inzwischen mehr Arbeitslose im jugendlichen Alter registriert sind als in Spanien. Das gilt noch verstärkt für Universitäts-Absolventen, von denen allenfalls noch ein Drittel mit einer adäquaten Beschäftigung rechnen kann.

Solche Zahlen sind für die betroffenen Individuen deprimierend, aber darüber hinaus haben sie eine existenzielle Bedeutung für die Gesamtgesellschaft: Wenn die junge Generation keine Perspektive im eigenen Lande hat, geht sie weg. Für immer. Die Bereitschaft zur Auswanderung von jungen Griechinnen und Griechen ist in den letzten 12 Monaten rapide gestiegen. Inzwischen können sich – Umfragen zufolge – fast 40 Prozent der jungen Generation vorstellen, auf Dauer in ein anderes EU-Land abzuwandern. Wer heute eine Chance im Ausland sieht – und die nötigen Sprachkenntnisse hat – ist schon morgen weg.

Griechenlands Zukunft wandert ab

Was diese Abwanderung bedeutet, versteht man erst, wenn man über die reinen Zahlen hinaussieht und einen qualitativen Aspekt ins Auge fasst. Diesen Aspekt beleuchtet der Kommentator Giorgos Lakopoulos in der Zeitung Ta Nea vom 11. August: „Alle jungen Griechen, die im Ausland Arbeit finden oder suchen, haben eines gemeinsam: Sie sind die besten. Sie haben Talente und Fähigkeiten, und genau deshalb sind sie bei Unternehmen in den Ländern gefragt, wo die Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft groß und die Konkurrenz hart ist.“ Lakopoulos verweist darauf, dass dieser Verlust an Qualifikation für die griechische Gesellschaft schon der zweite „Aderlass“ ist: Der erste ist bei den jungen Griechen zu verzeichnen, die im Ausland studiert und noch bis vor kurzem nach ihrem Abschluss wertvolle Qualifikationen in ihr Land zurückgebracht haben. „Ein Großteil von ihnen, oder sogar die meisten, tun heute alles, um die Rückkehr zu vermeiden. Sie suchen Arbeit in den Ländern, in denen sie studiert haben, und die besten von ihnen finden sie auch.“ Damit wird eine Perspektive immer realistischer, die Lakopoulos so beschreibt: „Wenn die die Menschen mit akademischer Ausbildung, mit entwickelten Fähigkeiten und kreativen Ideen entweder weggehen oder nicht zurückkehren, stehen wir wahrhaftig vor einer nationalen Tragödie.“ Und dieser Verlust schwäche die griechische Gesellschaft genau in dem Moment, in der sie alle Talente und Fähigkeiten mobilisieren müsste, um, „ihren Platz in der europäischen Gemeinschaft, in der Eurozone und ganz allgemein im entwickelten Teil der Welt zu behaupten“.

An dieser Stelle muss ich zwei ergänzende Überlegungen einschieben. Die erste soll einen bösen, aber keineswegs abwegigen Verdacht schüren. Die „griechische Tragödie“ hat eine erfreuliche Kehrseite – für die Auswanderungsländer. Fragen wir uns also, wo die jungen griechischen Heimatvertriebenen am meisten willkommen sind. Das sind natürlich die Länder, in denen nach wie vor – trotz Euro-Krise – qualifizierte Fachkräfte gesucht werden. Junge Bauingenieure oder IT-Fachkräfte, die in Griechenland ausgebildet wurden – zu erheblichen Kosten sowohl der Gesellschaft als auch der Familien -, entsprechen derzeit aufs trefflichste dem Bedarf der deutschen Industrie. Genauso wie junge Mediziner und Fachärzte aus Griechenland (die als sehr gut ausgebildet gelten) in deutschen Krankenhäusern begehrt sind, die händeringend nach medizinischem Nachwuchs fahnden. Dieser Transfergewinn an qualifizierten und ambitionierten Arbeitskräften ist für die deutsche „Krisenbilanz“ auf mittlere Sicht vielleicht noch wichtiger als der Gewinn, der bereits aufgrund der verbilligten Finanzierungskonditionen der öffentlichen Hand angefallen ist (mit dem Verkauf von Bundesanleihen zum Nulltarif hat die Bundesrepublik bislang mindestens 60 Milliarden Euro eingespart). Es ist sicher richtig, dass die export-orientierten deutschen Unternehmen den Zerfall der Eurozone unbedingt verhindern wollen und im Hinblick auf diese Gefahr den Ausschluss Griechenlands noch als zu riskant einschätzen. Aber die Aussicht auf preisgünstige Fachkräfte könnte dazu beitragen, die „griechischen Tragödie“ für die deutsche Industrie und ihre Gewinn- und Verlustrechnung erträglicher zu machen.

Eine zweite Ergänzung: Die akute Gefahr, dass die Zukunft Griechenlands emigriert, wird durch die Drohung mit der Vertreibung aus der Eurozone erheblich verstärkt. Da die Konsequenzen aus dem Verlust des Euro unklar sind – und selbst das Ausscheiden Griechenlandes aus der EU nicht auszuschließen ist – fürchten viele jungen Griechen, ein Recht zu verlieren, das ihnen derzeit besonders viel bedeutet: das Recht auf Freizügigkeit und freie Berufsausübung innerhalb der Europäischen Union. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht die panische Reaktion der griechischen Öffentlichkeit auf eine Äußerung des britischen Premierministers, die in Berlin und Paris kaum registriert wurde. David Cameron hat am 2. Juli vor einem Ausschuss des britischen Unterhauses seine Entschlossenheit bekundet, im Falle des Ausscheidens Griechenlands aus der Eurozone, für griechische Staatsbürger strikte Grenzkontrollen einzuführen – entgegen der Verpflichtungen Großbritanniens aus den EU-Verträgen. Camerons Antwort auf die Frage eines Labour-Abgeordneten, ob er im Ernstfall die Freizügigkeit griechischer Bürger einschränken wolle, lautete wörtlich: „Ich hoffe, dass es nicht so weit kommt. Aber nach meinem Verständnis ist die rechtliche Ermächtigung gegeben, falls es zu außergewöhnlichen Spannungen und Belastungen kommt. Man muss … Pläne für den Notfall haben, man muss auf alles vorbereitet sein – angesichts so vieler Ungewissheiten in der Welt.“ (zitiert nach: www.guardian.co.uk)

Angesichts dieser Drohung wird sich ein junger griechischer EU-Bürger, dessen persönliche „Ungewissheit“ darin besteht, dass seine Chancen auf einen Job im eigenen Land bei 45 Prozent liegen, doppelt schnell um einen Job im EU-Ausland bemühen. Hier haben wir ein weiteres Beispiel dafür, dass die bloße Ungewissheit in der „D-Frage“ (Drachme oder Euro) für Griechenland fast ebenso verhängnisvoll ist wie das ökonomische Desaster, das dem Land bei der Rückkehr zur Drachme droht (weitere Beispiele habe ich bereits in meinem Beitrag vom 15. Juni auf den NachdenkSeiten dargestellt).

Zurück zu den neuen griechischen Arbeitslosenzahlen. Mindestens ebenso deprimierend wie diese Zahlen ist aus griechischer Sicht die Reaktion, die sie in Brüssel ausgelöst haben. Der Sprecher der EU-Kommission erklärte zwar, die EU-Partner seien über diese Entwicklung zutiefst besorgt. Aber auf die Frage eines griechischen Journalisten, ob nicht das von der Troika (EU, EZB, IWF) verordnete Sparprogramm zum Anwachsen der Arbeitslosigkeit beigetragen habe, antwortete Olivier Bailly, diese Vermutung entspreche „schlicht nicht der Wahrheit“ (Ta Nea vom 10. August). Die weitere Frage, ob die Troika angesichts der neuen Zahlen bereit sei, das griechische Sparprogramm „neu auszutarieren“, wollte Bailly nicht beantworten. Auf offizieller Ebene wird in Brüssel also immer noch geleugnet, was inzwischen alle seriösen Ökonomen wissen und was sich selbst bis zum Wall Street Journal herumgesprochen hat: Durch die ständig verschärften Sparauflagen der Troika wird Griechenland immer tiefer in die Rezession getrieben, was die Schuldenkrise vollends unlösbar macht. Das Ergebnis ist nicht nur die wachsende Arbeitslosigkeit, wie der oben zitierte Arbeitsmarktforscher Robolis betont, sondern auch abnehmende Investitionen (auch bei noch gesunden Unternehmen), Kapitalflucht (auch von ausländischen Unternehmen) und wachsende Lücken bei der technologischen Basis der Industrie.

Ein Aufschub mit Konsequenzen

Nirgends in Europa hat es in der neueren Geschichte ein Land gegeben, „dessen Schicksal dermaßen von Entscheidungen abhängig war, die jenseits der eigenen Grenzen getroffen werden“, schrieb Nick Malkoutzis kürzlich in der Kathimerini. In dem Sinne ist das Land schon lange nicht mehr „souverän“, sondern kann nur versuchen, sich schlecht und recht gegenüber äußeren Mächten zu behaupten. Für die Griechen hat die „Schicksalsfrage“ deshalb drei Facetten. Sie hängt davon ab,

  • welche Strategie ihre EU- und Eurozonen-Partner (Kommission und EZB) verfolgen, und zwar im Verein mit dem IWF oder auch nicht;
  • wie diese Partner den Fall Griechenland mit den anderen Problemfällen (vor allem Spanien und Italien) verknüpft sehen, und welcher Spielraum in ihrer Strategie für Griechenland vorgesehen ist;
  • mit welcher Taktik die neue Athener Regierung die entscheidenden Verhandlungen mit der Troika angeht.

Ich werde auf diese drei Fragen in Artikeln eingehen, die ich ab heute in lockerer Folge aus Griechenland schicken werde. Zunächst will ich darzustellen versuchen, an welchem Punkt die griechische Frage auf europäischer Ebene angelangt ist – soweit das überhaupt möglich ist angesichts der gesamteuropäischen Kakophonie, der offensichtlich keine einheitliche Partitur zugrunde liegt. Der aktuelle Stand der Dinge gleicht eher einem Kaleidoskop, das von Tag zu Tag eine neue Konstellation der politischen Meinungen und Kräfte abbildet. Eindeutig ist derzeit nur, dass die Entscheidung über den „Sonderfall“, als der Griechenland zunehmend dargestellt wird, erst einmal auf Mitte September vertagt wurde. Bis dahin bleibt die Zukunft des Landes in der Eurozone – die ihr ökonomische Laiendarsteller wie Wirtschaftsminister Rösler und Bayerns Dampfplauderer Markus Söder verwehren wollen – weiterhin in der Schwebe. Die Inspektoren der EU-Kommission, der EZB und des IWF haben nach ihrem letzten Blick in den Abgrund der griechischen Staatsfinanzen einen Rückstand gegenüber den von ihnen diktierten Sparauflagen entdeckt, der noch größer ist als zunächst vermutet. Sie wollen Anfang September wiederkommen und dann innerhalb von zwei Wochen ihren Bericht abgeschlossen haben, von dem die Auszahlung der nächsten Kredit-Tranche aus dem Stabilitätsprogramm der Eurozone, dem EFSF abhängt. Diese Tranche von 31,2 Mrd. Euro sollte ursprünglich schon im August überwiesen werden, nach dem neuesten Stand werden die Euro-Finanzminister erst am 8. Oktober über die Auszahlung befinden.

Die Verzögerung kann man als „gelbe Karte“, das heißt als letzte pädagogische Mahnung sehen, wie es die Athener Regierung interpretiert. Sie kann aber auch die rote Karte bedeuten, sprich den bevorstehenden Rausschmiss Griechenlands aus der Eurozone signalisieren. Jedenfalls sehen alle Beteiligten die wenigen Wochen bis September als eine Frist, in der sich das Schicksal Griechenlands so oder so entscheidet. Dabei haben mittlerweile selbst diejenigen Koryphäen der Eurozone, die in Athen als potentielle „Philhellenen“ gesehen werden (von Juncker über Hollande bis zu Monti), ihre offizielle Linie gegenüber Griechenland verschärft. Auch sie bestehen darauf, das die Regierung Samaras

  • den Staatshaushalt für die nächsten zwei Jahre noch einmal um 11,6 Milliarden Euro kürzt, um die von der Troika bis Ende 2013 geforderten Sparziele zu erreichen;
  • eine Liste von Forderungen abarbeitet, die von den Troika-Inspektoren bei ihrer Abreise hinterlassen wurde, und die sich auf die wichtigsten der seit langem von Athen zugesagten Reformen und Sparmaßnahmen bezieht: Einsparungen und Erhöhung der Effizienz im öffentlichen Dienst, Öffnung bestimmter Berufsgruppen, Privatisierungen.

Die Erfüllung dieser beiden Bedingungen wird in Athen wie in Brüssel als notwendige Voraussetzung für einen „positiven“ oder wenigstens nicht negativen September-Bericht gesehen. Dabei fordert die EU-Kommission (laut Kathimerini vom 12. August), dass das neue Sparpaket nicht nur von der Regierung beschlossen, sondern auch vom Parlament verabschiedet sein muss, ehe die nächste EFSF-Tranche ausgezahlt werden kann. Damit droht aber noch vor dem Herbst in Athen eine Regierungskrise, deren erste Vorboten schon in den koalitionsinternen Verhandlungen zwischen ND, Pasok und Dimar über die Gewichtung der Sparmaßnahmen sichtbar wurden (dazu mehr in meinem nächsten Bericht). Aber nicht nur der Zusammenhalt dieser Koalition ist gefährdet, sondern vor allem ihre gesellschaftliche Legitimation. Schließlich hatten alle drei Parteien vor den Wahlen vom 17. Juni versprochen, umfassende Neuverhandlungen mit der Troika über das Sparprogramm anzustreben (siehe dazu meinen Vorwahlbereicht vom 15. Juni). Dieses Ziel – und vor allem die Forderung nach einer Verlängerung des Zeitraums für das Sparziel von 11,6 Milliarden Euro – steht auch im „Koalitionsvertrag“ der Samaras-Regierung. Aber in diesem Punkt steckte die griechische Troika sofort zurück, als die Gläubiger-Troika beinhart auf der punktgenauen Erfüllung des Programms bestand. So warnte EU-Kommissionspräsident Barroso bei seinem Besuch in Athen am 26. Juli, die anti-griechische Stimmung in wichtigen Hauptstädten der Eurozone sei so kritisch, dass „die Position des Landes in der Eurozone“ gefährdet sei. Nach einem Bericht der Athener Kathimerini erklärte Barroso dem griechischen Regierungschef, auf Neuverhandlungen mit der Troika könne er erst dann hoffen, wenn innerhalb der EU ein für Griechenland „positiveres Klima“ entstanden sei.

Würde die Erfüllung der Troika-Forderungen den Verbleib Griechenlands in der Eurozone auf absehbare Zeit sichern? Das ist keineswegs gewiss. Ob die Griechen schon im Herbst über die Klinge springen müssen, hängt auch in starkem Maße von den politischen Entwicklungen innerhalb der wichtigsten Euro-Länder ab. Es ist kein Zufall, dass der Vorlage des Troika-Berichts erst nach drei wichtigen Entscheidungen erfolgen wird: nach den Parlamentswahlen in den Niederlanden, nach der Entscheidung, ob Spanien ebenfalls den „Rettungsfonds“ EFSF in Anspruch nehmen muss, und nach der Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts über die Mindestrolle des Bundestags bei den Entscheidungen über finanziell relevante Themen in der EU und in der Eurozone.

Ungeachtet dieser Unwägbarkeiten hat die Verzögerung des Troika-Urteils und der Entscheidung über die nächste EFSF-Tranche für Griechenland gravierende Folgen:

  1. Die am 20. August fällige Zahlung von 3,2 Milliarden Euro (für auslaufende Bonds, die fast ausschließlich bei der EZB liegen) wird nicht aus dem ESFS bestritten und auch nicht durch einen Überbrückungskredit finanziert, auf den man in Athen gehofft hatte. Stattdessen sollen am 14. August staatliche Geldmarktpapiere (T-Bonds) mit einer Laufzeit von 13 Wochen ausgegeben werden. Die einzigen denkbaren Abnehmer für diese T-Bonds sind griechische Banken. Da diese aber dafür gar nicht das Geld haben, werden sie sich von der griechischen Zentralbank „Notkredite“ besorgen müssen, für die sie die zu erwerbenden T-Bonds als Sicherheit hinterlegen dürfen. Das Ganze läuft auf eine akrobatische „Kreditschöpfung“ hinaus, die im Grunde anzeigt, dass nicht nur der griechische Staat, sondern auch die Banken längst insolvent sind.
  2. Griechenland lebt nach Auskunft von Vize-Finanzminister Staikouras (der für das Budget zuständig ist) von der Hand in den Mund. Das heißt, die akute Kassenlage ist so prekär, dass eine akute Zahlungsunfähigkeit der öffentlichen Hand noch vor Ende September eintreten kann. Das würde bedeuten, dass keine Gehälter mehr an die staatlichen Bediensteten ausgezahlt werden können und auch die Auszahlung der Renten nicht mehr in voller Höhe garantiert ist, weil der Staat kein Geld mehr für die Subventionen an die Sozialkassen hat. In diesem Fall würde sich für die Euro-Partner sofort die Frage stellen, ob man Griechenland fallen lässt oder nicht.
  3. Bis Mitte September werden die Spekulationen über einen endgültigen griechischen Staatsbankrott und die Rückkehr des Landes zur Drachme – die nach Einschätzung der meisten Ökonomen das „Todesurteil“ für die griechische Volkswirtschaft bedeutet – auf jeden Fall ungehemmt weiter gehen. Genau diese Spekulationen sind es aber, die jeden Versuch, die griechische Wirtschaft auf einen Wachstumspfad zurückzubringen, zum Scheitern verurteilen.

Der Aufschub aller Entscheidungen bis September mit dem Ziel, der griechischen Regierung das nunmehr dritte Sparprogramm aufzuzwingen, gilt derzeit als das wahrscheinlichste Szenario. Aber im Hintergrund zeichnet sich seit einigen Wochen ein radikales Alternativszenario ab, das nüchterne Ökonomen inzwischen für realistischer halten. Diese Realisten gehen davon aus, dass die Athener Regierung angesichts der sich weiter vertiefenden Rezession die nochmaligen Einsparungen in Höhe von 11,6 Milliarden Euro nicht beschließen, oder jedenfalls nicht durchsetzen kann. Diese realistischen Griechenland-Analysten, die insbesondere beim IWF und bei der OECD, aber auch in Brüssel verortet werden, gehen weiter davon aus, dass auch die von Athen angestrebte Erweiterung des zeitlichen Rahmens für das Sparprogramm nicht ausreichen dürfte. Deshalb hat bereits die Diskussion über einen weiteren Schuldenschnitt begonnen, der unter verschiedenen Bezeichnungen läuft (in der Welt vom 26. Juli war von einem „Plan D“ die Rede). Die bislang konkretesten Darstellung war in einem Reuters-Bericht nachzulesen, der auch der Meldung der Süddeutschen Zeitung vom 27. Juli zugrunde liegt.

Ein neuer Schuldenschnitt zu Lasten der EZB?

Was in diesen Berichten als „letzte Hoffnung“ auf die Abwendung eines griechischen Abschieds aus der Eurozone dargestellt wird, ist das Szenario eines OSI, sprich eines Official Sector Involvement. Beim OSI handelt es sich um die logische Fortsetzung des PSI (Private Sector Involvement) das im März dieses Jahres die griechische Schuldengesamtlast um über 100 Mrd. Euro reduziert hat. Ein neuer Haircut von ca. 30 Prozent bei den vom nicht-privaten Finanzsektor gehaltenen griechischen Schuldtiteln (in Höhe von ca. 220 Mrd. Euro), würde die Schuldenlast Athens um 70 bis 100 Milliarden Euro reduzieren. Verkraften müssten den Schuldenschnitt vor allem die EZB und diejenigen nationalen Zentralbanken der Euroländer, die auf griechischen Bonds sitzen (geblieben sind). Die Hauptlast würde dabei der EZB zufallen, die sich noch im Frühjahr – wie die nationalen Zentralbanken – entschieden gegen jede Beteiligung am griechischen Haircut gewehrt hat. Vor fünf Monaten war eine Beteiligung der EZB oder der nationalen Zentralbanken vor allem in Berlin ein völliges Tabuthema, weshalb niemand es auf die Tagesordnung zu setzen wagte. Ein anonymer Eurozonen-Vertreter, der von Reuters zitiert wird, bewertet dies im Rückblick als verpasste Gelegenheit und als „großen Fehler“, der „really, really stupid“ gewesen sei. Die Chance, dass dieser Fehler nicht wiederholt wird, beziffert ein weiterer von Reuters zitierter Euro-Ökonomen auf 70 Prozent.

Ein neuer Schuldenschnitt – als einzige Alternative zu Staatsbankrott und Euro-Ausschluss – erscheint den Realisten auch deshalb als unvermeidlich, weil sich die griechische Rezession weiter verschärft. Nach dem Minuswachstum von 6,9 Prozent im Jahr 2011 hatten die Experten von IWF und OECD für 2012 ein langsameres Schrumpfen des BIP erwartet (die Schätzungen lagen zwischen 3 und 4,5 Prozent). Jetzt geht das kompetenteste griechische Wirtschaftsforschungsinstitut IOBE in seinem neuesten Bericht auch für 2012 von minus 6,9 Prozent aus. Wenn die Abwärtsspirale des Sparprogramms nicht gestoppt wird, ist ein noch stärkerer Konjunktureinbruch von mehr als zehn Prozent nicht ausgeschlossen. Die Rating-Agentur Standard & Poor prognostiziert bereits heute einen Rückgang des griechischen BIP von 11 bis 12 Prozent nicht nur für 2012, sondern auch für das Jahr 2013 (womit sich die Depression nicht nur vertiefen, sondern auf eine „Laufzeit“ von mindestens sechs Jahren verlängern würde).

Die große Frage ist allerdings, wie realistisch das Szenario der Realisten im Sinne seiner politischen Durchsetzbarkeit ist, vor allem auf der Ebene der einzelnen Euro-Staaten. Auf diese und andere Fragen geht die Analyse von Vassilis Ziras ein, die in der Sonntagsausgabe der Athener Kathimerini (12. August) erschienen ist. Darin erörtert der Autor insbesondere die Differenzen zwischen der Euro-Zone und dem IWF, aber auch die Risiken, die das alternative Szenario für Griechenland beinhaltet. Der Text bietet eine differenzierte und detailreiche Darstellung der aktuellen Situation und wird deshalb fast vollständig wiedergegeben.

Dazu:

Das Drängen des IWF und die ungewisse Zukunft

Von Vassilis Ziras

Mit dem Drängen des Internationalen Währungsfonds auf eine „endgültige Lösung“ des griechischen Problems und der Zuspitzung der Schuldenkrise in der Eurozone ist für Griechenland ein absolut ungewisses Umfeld entstanden, in dem sich das Land und die Regierung in den kommenden Wochen bewegen müssen.

Der IWF drängt die Eurozone in Richtung einer radikalen Antwort auf die Schuldenkrise Griechenlands. Beim IWF geht man davon aus, dass die weiter vertiefte Rezession, die Misserfolge bei der Umsetzung des (Spar)Programms, aber auch der unzureichende erste Schuldenschnitt bei den griechischen Bonds (also das PSI) gezeigt haben, dass die Schuldenlast nicht zu tragen ist. Daher sei ein neuer Haircut erforderlich, um die Gesamtverschuldung bis 2010 auf 100 Prozent des BIP zurückzuführen. Dabei würde die Belastung dieses Mal entweder auf die EZB und die nationalen Notenbanken der Eurozone zukommen, oder aber auf die (Haushalte der) Mitgliedsstaaten selbst, oder auf beide.

Solche Szenarien wurden in letzter Zeit über wichtige internationale Medien wie die Agentur Reuters oder das Wall Street Journal verbreitet. In Brüssel gibt es nicht den geringsten Zweifel über die Quelle der durchgesickerten Szenarien. Schließlich hatte der IWF bereits anlässlich des PSI-Programms vorgeschlagen, die von der EZB gehaltenen (griechischen) Staatspapiere in den haircut einzubeziehen. Die EZB, die ohnehin gegen das PSI-Programm war, hatte dies damals bis zum Schluss kategorisch abgelehnt. Sie hatte sich lediglich bereit
gefunden, die Gewinne, die sie mit den griechischen Bonds gemacht hatte, an Griechenland abzuführen.

Die Europäische Kommission hat auf die Veröffentlichungen durch den Mund ihres Sprechers reagiert. Ihre Botschaft lautet, dass das Programm wie seine Ziele erst im vergangenen März (2012) beschlossen wurden, und zwar mit Zustimmung des IWF. Im Übrigen wäre ein „haircut“ bei den Bonds der EZB – und erst recht bei den bilateralen Krediten, die im Rahmen des ersten Memorandums zwischen den Mitgliedsstaaten und Griechenland vereinbart wurden – eine unpopuläre Maßnahme. In der Tat liegt es auf der Hand, dass ein solcher Schritt in vielen Ländern intensive Reaktionen der öffentlichen Meinung und in den Parlamenten auslösen würde, etwa in Deutschland, in Holland, in Finnland, wo die Haltung zu den Rettungsprogrammen ohnehin negativ ist. Manche Beobachter in Athen, in Europa und auch in den USA sind der Meinung, dass die Haltung des IWF in der griechischen Frage, als Vorwand dienen könnte, um Griechenland aus dem Euro hinaus zu komplimentieren. Ein griechischer Regierungsvertreter, der die Entwicklung der Rettungsprogramme von Anfang an aus nächster Nähe verfolgt hat, äußert sich wie folgt: „Diejenigen Kräfte, die uns für einen ‚hoffnungslosen Fall’, für ein Fass ohne Boden halten, werden den ‚haircut’ (also das OPI) nur akzeptieren, wenn das Land zugleich aus der Eurozone ausscheidet. Sie können gegenüber der öffentlichen Meinung sagen, dass sie auf diese Weise, wenn auch mit gewissen Kosten, die gemeinsame Währung endgültig vom Problem Griechenland entlastet haben.“

Nach dieser Interpretation werden die genannten Kräfte (die den Rausschmiss Griechenlands betreiben, NK) darüber hinaus auch anderen gefährdeten Euro- Ländern wie Portugal, Irland, Spanien, Zypern die mahnende Botschaft zukommen lassen, auf keinen Fall der Versuchung zu erliegen, ebenfalls einen Schuldenschnitt zu fordern – weil dies eben schmerzhafte Folgen haben würde. Nach diesem Szenario soll Griechenland geopfert, sprich zum Austritt aus dem Euro gezwungen werden, damit die öffentliche Meinung und die Parlamente der Mitgliedsländer dem teureren Rettungsprogramm für Spanien und Italien leichter zustimmen können.

Wenn der IWF die Eurozone zu dieser endgültigen Lösung zwingen will, könnte er als Mittel dazu den Bericht über die Realisierbarkeit einer Rückzahlung der (griechischen) Schulden nutzen. Während des letzten Besuchs der Troika- Delegation in Athen haben die IWF-Vertreter ihre Einschätzung vorgelegt, denen zufolge sich die Rezession in Griechenland bis 2015 hinziehen wird. Das aber wäre ein Indiz dafür, dass eine Rückzahlung der Schulden überhaupt nicht realisierbar ist. Da der IWF jedoch gemäß seinem eigenen Statuts keine Staaten mit nicht mehr tragfähigen Schuldenstand finanzieren darf, kann er mit dem Rückzug aus dem Programm drohen. Die IWF-Einschätzungen wurden von den Vertretern der EU-Kommission angezweifelt, die auf ihre eigene Prognosen verwiesen, wonach die griechische Volkswirtschaft ab 2014 wieder zum Wachstum zurückkehren wird.

Die große Frage ist, ob der IWF im Oktober, also nach dem Abschluss des Troika-Berichts, auf einer umfassenden Überprüfung des griechischen Programms bestehen wird. Von entscheidender Bedeutung wird dabei die Rolle der USA ein. Die Regierung in Washington will – zumindest bis zu den Präsidentenwahlen im November – um jeden Preis verhindern, dass die Krise in der Eurozone sich zuspitzt und damit auch die Entwicklung in den USA beeinflusst. Deshalb dürfte sie darauf dringen, über die endgültige Lösung nicht schon im Herbst zu diskutieren, sondern erst gegen Ende dieses oder am Anfang des kommenden Jahres…“

Wie aus den dargestellten Szenarien hervorgeht, könnten die Differenzen zwischen IWF und EU bzw. Euro-Block für Griechenland eine Chance wie auch eine Gefahr bedeuten. Wie die Athener Regierung angesichts ihrer prekären Lage reagiert, werde ich in meinem nächsten Beitrag schildern. Hier sei nur auf die neueste Meldung verwiesen: Nach einem Bericht vom 13. August in Ta Nea wird Ministerpräsident Antonis Samaras bei seiner bevorstehenden Reise nach Berlin und Paris (am 24. und 25. August) sowohl bei Frau Merkel als auch bei Monsieur Hollande darauf dringen, den Griechen zwei Jahre länger Zeit für die Umsetzung des Kürzungsprogramms zu geben. Wie eine anonyme Regierungsquelle verlauten lies, werde Samaras das Thema der Fristverlängerung „nicht als Forderung, sondern als Notwendigkeit“ präsentieren. Auf die Reaktion der Gesprächspartner darf man gespannt sein.


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