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Titel: Konkrete Anregungen für Betriebsräte und Gewerkschafter

Datum: 24. November 2006 um 13:03 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Gewerkschaften, Rente
Verantwortlich:

  1. Die DGB-Region Westpfalz sammelt wie viele Regionen Unterschriften gegen die Rente mit 67. Auf den Link weisen wir beispielhaft hin.
  2. Der Betriebsratsvorsitzende eines Unternehmens in Werther, Westfalen schickt uns einen Protestbrief, den er in Vertretung der Kolleginnen und Kollegen an die Bundestagsabgeordneten der Regierungsparteien geschickt hat. Nachahmenswert.


Hier der Text des Briefes, der übertragbar auf andere Betriebe sein dürfte:

Manfred Steingrube
Betriebratsvorsitzender
Poppe & Potthoff GmbH
Engerstraße 35 – 37
33824 Werther / Westfalen
Werther, den 19.November 2006

An die Bundestagsabgeordnete
Frau Lena Strothmann, CDU

An den Bundestagsabgeordneten
Herrn Rainer Wend, SPD

Regierungspläne

Sehr geehrte Bundestagsabgeordnete Frau Lena Strothmann,
sehr geehrter Bundestagsabgeordneter Herr Rainer Wend,

im Namen der von uns zu vertretenden 200 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter protestieren wir gegen die Regierungspläne der Großen Koalition. Besonders im Vordergrund unseres Protestes stehen die Pläne

  1. die Altersteilzeitregelung Ende 2009 auslaufen zu lassen,
  2. die schrittweise Rentenaltersgrenze auf 67 bis 2012 zu erhöhen,
  3. die Arbeitslosenpunkte abzusenken und
  4. die arbeitgeberfinanzierte Altervorsorge durch Steuern und Sozialabgaben zu belasten.

Zu Punkt 1:
In den letzten Jahren haben viele KollegInnen nach reiflicher Überlegung Altersteilzeit in Anspruch genommen, weitere werden folgen. Sie alle haben sich unter Abwägung der finanziellen Vor- und Nachteile aus unterschiedlichen Gründen für die Altersteilzeitregelung entschieden, insbesondere weil der Arbeitsdruck ständig wächst, die Hektik immer größer wird und die körperlichen und psychischen Belastungen im Alter zunehmen.

Von der Inanspruchnahme wiederum haben andere KollegInnen profitiert, die in den Unternehmen übernommen werden konnten und nicht entlassen werden mussten. Die Betriebsräte haben sie also vor der Arbeitslosigkeit auf Grund der Altersteilzeitregelung bewahren können. Ein einziger Arbeitnehmer, der allein auf Grund dieser Regelung übernommen werden konnte, war ein Erfolg, wenn auch nur ein bescheidener Erfolg.

Zukünftig will die Große Koalition den Unternehmen und Betriebsräten diese Möglichkeiten von innerbetrieblichen Übernahmen nehmen, indem sie die Altersteilzeitregelung Ende 2009 auslaufen lassen will. Wir halten dies für eine gesundheitspolitische und arbeitsmarkt-politische Fehlentscheidung. Die Älteren müssen bis zum Umfallen malochen, während die Jüngeren keinen Job bekommen.

Deshalb erwarten die ArbeitnehmerInnen von den Volksvertreterinnen und Volksvertretern, dass die Altersteilzeitregelung beibehalten oder verlängert wird.

Zu Punkt 2:
Am 23. Oktober hat sich die Koalitionsarbeitsgruppe Rente auf folgende Eckpunkte festgelegt: Kernprojekt der Reform soll die Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre sein: Dazu soll ab 2012 das Renteneintrittsalter zwölf Jahre lang um einen Monat nach hinten verschoben werden. Ab 2023 sind es dann sechs Jahre lang jeweils zwei Monate. Von der Anhebung der Altersgrenze sind alle Jahrgänge ab 1947 und jünger betroffen. Ab Jahrgang 1964 wird der Rentenbeginn (2029) mit 67 Realität.

Schon heute beschäftigt ein Großteil der Unternehmen keine Arbeitnehmer über 55 Jahre. Die Arbeitslosen-Jahrgänge ab 1956 sind inzwischen auf 1,6 Millionen angewachsen. Diese Jahrgänge finden heute so gut wie keinen neuen Job – wie jeder Interessierte Jahr für Jahr und Monat für Monat den Statistiken entnehmen kann.

Die Erhöhung des Renteneintrittsalters halten wir deshalb ebenfalls für eine gesundheitspolitische und arbeitsmarktpolitische Fehlentscheidung. Auch hier gilt wie schon unter der Altersteilzeitregelung: Die Älteren müssen bis zum Umfallen malochen.

Deshalb wird es auch in Zukunft gute Gründe dafür geben, mit 65 Jahren oder sogar früher in den Ruhestand zu treten. Doch statt Vorschläge zu machen, wie die gesetzliche Rentenversicherung gestärkt werden kann, wälzt die Große Koalition die Probleme auf die ArbeitnemerInnen ab.
Mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters kommt es faktisch zu einer Rentenkürzung: Wer weiterhin mit 65 Jahren in Rente geht, muss Abschläge in Höhe von 7,2 Prozent hinnehmen.
Nach den bisher geltenden Regelungen eines Durchschnittverdieners (1.061,00 € West / 935,00 € Ost) nach 45 Versicherungsjahren geht die Bundesregierung auch für das Jahr 2007 von einer weiteren Rentenkürzung aus (Berliner Zeitung vom 16.11.06).
Schon seit Jahren ist das Rentenniveau gesunken. Schwarz-Rot setzt die Politik der Vorgängerregierung fort und verschärft sie noch: Durch einen „Nachholfaktor“, den die Große Koalition ab 2011 einführen will, stagniert die Rente weiter. Die Altersarmut wird weiter wachsen.
Wer in Zukunft seinen Lebensstandard aus der Zeit der Berufstätigkeit halten wolle, müsse eine zusätzliche Altersvorsorge aufbauen (Berliner Zeitung vom 16.11.06).
Deshalb erwarten die ArbeitnehmerInnen auch in diesem Punkt von ihren Volksvertreterinnen und Volksvertretern, dass sie sich dafür einsetzen, die Regelung, mit 65 Jahren in den Ruhestand zu gehen, mindestens beizubehalten.

Zu Punkt 3:
Eine Reduzierung der Arbeitslosenversicherung um zwei Prozentpunkte (oder darüber hinaus) halten wir nach wie vor für einen falschen Weg. In einem Brief vom 7.August 2006 an die Bundeskanzlerin, den Sie hier nachlesen können, bringen wir dies zum Ausdruck.
Anzumerken wäre in diesem Zusammenhang, dass unsere damaligen Vermutungen inzwischen bestätigt wurden. Eine Absenkung der Beitragspunkte wird zu Lasten der ArbeitnehmerInnen und Arbeitslosen gehen: Aufteilung der Arbeitslosen in Marktkunden, Beratungskunden und Betreuungskunden!

Die Bundesagentur für Arbeit investiert so gut wie nichts mehr für Arbeitslose über 50 Jahre, dafür um so mehr in Unternehmensberater, die sich “dumm und dämlich” verdienen, weil verantwortliche Politiker offensichtlich nicht in der Lage sind, nachhaltig die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und damit für sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu sorgen.

Stattdessen werden die Sozialsysteme und Deutschland als Standort systematisch von einigen Abgeordneten des Bundestages und von einer Heerschar von Lobbyisten fast jeden Sonntagabend um 21.45 Uhr und fast jeden Donnerstagabend um 22.15 Uhr schlecht geredet.

Damit nicht genug, neuerdings zieren sogar Porträts der Bundeskanzlerin und des SPD Vorsitzenden die Internetseiten der Tarnorganisation der Arbeitgeber „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Deutlicher kann sich die Politik den Arbeitgebern nicht an den Hals werfen und einseitig Partei ergreifen und sich gegen ArbeitnehmerInnen, Arbeitslose und Rentner stellen. Bei dieser „Anbiederung“ ist es einfach nicht verwunderlich, dass die Menschen immer mehr den „Volksparteien“ den Rücken kehren und darüber klagen, dass die Demokratie nicht funktioniert. Wo sind die kritischen Stimmen, wo sind die Journalisten, die so etwas recherchieren und öffentlich machen!?

Nicht unsere Sozialsicherungssysteme sind das Problem, wie so gerne von der Politik behauptet wird. Die Menschen haben Probleme mit der in Berlin geführten Politik und mit Politikern, die nicht begreifen wollen oder können, dass Deutschland nach wie vor eine sehr hohe Arbeitslosigkeit hat und an einer nach wie vor schwachen Binnenkonjunktur leidet, die hausgemacht ist, weil den Menschen die Kaufkraft genommen wird.

Daran wird auch die Entlastung der Unternehmen von 5 Milliarden Euro pro Jahr nicht viel ändern. Die Hauptlast werden die Menschen tragen müssen, die diese „finanzielle Entlastung der Arbeitgeber“ durch die Mehrwertsteuererhöhung letztendlich bezahlen. Besonders hart wird es für Arbeitslose, StudentInnen, RentnerInnen und ArbeitnehmerInnen, die gezwungen sind, ihr verfügbares Einkommen ganz oder zum größten Teil auszugeben.

Die ArbeitnehmerInnen haben nicht vergessen, dass viele “Steuerreformen” beschlossen und umgesetzt wurden. Trotz der zahlreichen Reduzierungs- und Streichorgien von Steuern (Vermögenssteuer, Gewerbekapitalsteuer, Körperschaftssteuer, Steuerbefreiung der so genannten Heuschrecken, Spitzensteuersatz, Amnestie für Steuersünder) haben Arbeitgeber nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen. Ganz im Gegenteil: Es wurden massiv Arbeitsplätze vernichtet oder verlagert. Mancher Arbeitgeber hat auch nicht davor zurück geschreckt, Arbeitnehmer und Öffentlichkeit hinters Licht zu führen durch windige Geschäftspolitik zu Gunsten von Aktionären (siehe BenQ).

Schaut man sich die zugänglichen Arbeitslosen-Statistiken einmal näher an, fällt schnell auf, dass sich allein der überwiegende Teil der neuen Arbeitsplätze in den Bereichen der sogen. „Arbeitsgelegenheiten nach § 16 Abs. 3 SGB II“ – mit 314.348 Pers. in 1 Euro-Jobs befinden. Hinzu kommen unzählige Mini-, Midi- oder Teilzeitjobs sowie befristete Arbeitsverhältnisse.

Des Weiteren befinden sich Arbeitslose in vorruhestandsähnliche Regelungen des § 428 SGB III mit 255.574 Personen, ABM-Maßnahmen mit 51.069 Personen oder arbeitsunfähig erkrankte Arbeitslose sowie die von Sperrzeiten betroffenen ArbeitnehmerInnen, die nicht mehr in die Arbeitslosenstatistiken einfließen. Weiterhin fließt das Millionen-Heer der „stillen Reserve“ nicht mit in die Statistiken ein.

Die betroffenen Menschen in Deutschland fragen: Wo sind die vollwertigen Arbeitsplätze?

Wenn man diese Bilanz betrachtet, muss man eigentlich ernüchtert feststellen, dass absolut kein Grund besteht, in „Jubelstürme“ auszubrechen (Bundeswirtschaftsminister Glos: „Unser realistischer Optimismus hat sich bestätigt. Der kraftvolle Aufschwung setzt sich fort.“ / Der Bundesarbeitsminister Müntefering: „Wichtiger Etappensieg – wir sind auf gutem Weg“).

Im Interesse der ArbeitnehmerInnen und Arbeitslosen kann es deshalb nur sein, die gegenwärtigen Arbeitslosenbeitragspunkte beizubehalten und nicht zu reduzieren, wie es von der Großen Koalition geplant ist.

Von den Volksvertreterinnen und Volksvertreter erwarten die betroffenen Menschen, dass keine Korrektur vorgenommen wird.

Zu Punkt 4:
Dem Ganzen wird noch die Krone dadurch aufgesetzt, dass ArbeitnehmerInnen politisch gezwungen werden, Altersvorsorge zu betreiben. Wohl nur wenige ahnen, dass sie mit dem Renteneintrittsalter eine böse Überraschung erleben. Sie werden kräftig zur Kasse gebeten.

Beispiel:
Am 1.10.06 wurde der neue Tarifvertrag der Metall NRW, Verband der Metall- und Elektroindustrie Nordrhein-Westfalen und der Industriegewerkschaft Metall (Tairfvertrag über altersvorsorgewirksame Leistungen, kurz: TV AVWL) rechtsgültig. Nach diesem Tarifvertrag erbringt der Arbeitgeber altersvorsorgewirksame Leistungen, die je nach Fallkonstellation individuell durch die ArbeitnehmerInnen aufgestockt werden können.

Viele ArbeitnehmerInnen sind nahezu ahnungslos, dass die Auszahlung im Rentenalter mit Steuern sowie mit Krankenkassenbeiträgen in voller Höhe belastet werden, d.h. zum Zeitpunkt des Rentenanspruchs kommt die nachgelagerte Besteuerung zum Zuge. Das kann im Einzelfall mehrere Tausend Euro allein für den in voller Höhe zu tragenden Krankenkassenbeitrag neben Steuern bedeuten.

ArbeitnehmerInnen, Arbeitslose und Rentner werden weiter extrem belastet mit der Kappung der Pendlerpauschale, des Sparerfreibetrags, der Eigenheimzulage, der Erhöhung der Mehrwertsteuer, den Rentenkürzungen (Rente mit 67), Nullrunden bei Rentnern und einer Anhebung der Kranken- und Rentenversicherungspunkte.

Die Wählerinnen und Wähler werden sich bei ihren „VolksvertreterInnen“ dafür bedanken, wenn sie erst einmal im Ganzen verstanden haben, was ihnen die Politik alles Zug um Zug verschleiert aufgebürdet hat.

Mit freundlichem Gruß

Manfred Steingrube
Betriebsratsvorsitzender


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