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Titel: Gegen die neoliberale Interpretation von Lohnerhöhungen

Datum: 4. Juli 2005 um 15:12 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Medienkritik, Wettbewerbsfähigkeit
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Manche Leser der Nachdenkseiten werden überrascht sein, in welch simpler Art die neoliberalen Herolde „ökonomischer Weisheit“ schlichte Fakten interpretieren, um eine Manipulation der Bürger zu erreichen. Von Karl Mai.

Die Ausgabe von „Focus –Money“ Nr. 26/2005 bietet unter der Überschrift „Lohn-Täuschung“ ein treffliches Beispiel hierfür. Dessen Autor Markus Voss scheint seine eigene Darstellung für logisch stichhaltig zu halten – aber er kann nicht verhindern, dass seine folgenden Angaben und Deutungen kritisch hinterfragt werden.

Zunächst zitiere ich seine dort angeführte Tabelle, die aus dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln stammt und daher für viele Leser des „Focus – Money“ unverdächtig erscheinen muss.

Was von 100 Euro Lohnerhöhung übrig bleibt Ein Familienvater, der 100 Euro mehr Lohn erhält, erhöht die Binnennachfrage gerade mal um 35 Euro. Den Arbeitgeber kostet die Gehaltserhöhung samt Sozialabgaben dagegen 121 Euro.”

  Verheiratet, 2 Kinder Single
Bruttolohnerhöhung 100,0 100,0
– Lohnsteuer, Kirchensteuer, Soli 20,0 32,9
Sozialbeiträge des Arbeitnehmers 21,0 21,0
=Nettlohnerhöhung 59,1 46,1
– Ersparnis 6,4 5,0
– Konsum von Importwaren 17,4 13,6
= Nachfrage nach inländischen Konsumgütern 35,2 27,5

Quelle: IW Köln – Angaben in Euro

Der suggestive Tenor dieser Tabelle besteht nun schlicht darin, das man wohl den Unternehmern kaum zumuten könne, 121 Euro für höhere Arbeitskosten oder 100 Euro für höhere Bruttolöhne zu zahlen, damit die Arbeitnehmer schließlich davon entweder 35,2 Euro oder sogar nur 27,5 Euro in der Hand behalten, um damit zusätzlich inländische Konsumgüter nachzufragen. Dieser geringe Nachfrageimpuls steht also in keinem Verhältnis zu den generell höheren Lohn- und Arbeitskosten, die Unternehmer dann aufbringen müssten. Da sollte man billiger Weise auf Forderungen zur Lohnerhöhung doch bitte von vornherein verzichten – besagt die betriebswirtschaftliche Logik.

Dieser Logik zufolge wäre also ein Weg, durch Lohnanhebungen zu einer höheren Binnennachfrage zu gelangen, für die Unternehmen unzumutbar belastend. Dagegen ist in volkswirtschaftlicher Sichtweise eine produktivitätsgerechte Lohnerhöhung die gerechte Aufteilung des angestiegenen Neuwerts aus produktiver Arbeit zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, die überhaupt nicht zur Veränderung der Verteilungsrelationen zwischen Arbeit und Kapital führt. Lohnerhöhungen dieser Art und Höhe sind daher nur insofern „belastend“ für das Kapital, als sie verhindern, dass der gesamte Produktivitätszuwachs durch das Kapital allein angeeignet wird. Genau darauf laufen jedoch die Intentionen der Neoliberalen hinaus: künftig sollte der Produktivitätszuwachs allein dem Kapital gehören, während die Arbeitnehmer sich ihre eigene Weiterbeschäftigung durch eine 20 %ige Stundenlohnsenkung erkaufen sollten.
Könnte dann aber überhaupt die Binnennachfrage expansiv beeinflusst werden? Der neoliberale Ratschlag hierfür lautet: Arbeitszeit je Woche ohne Lohnausgleich auf 42 Stunden erhöhen und so bis zu 20 % der Lohnkosten je Stunde absenken. Sinkende Stundenlöhne als Impuls zur Erweiterung der Beschäftigung im Niedriglohnbereich und letztlich zur Expansion des Binnenmarktes – dies ist die Logik von Prof. Sinn (ifo-München), die hier im „Focus –Money“ unkritisch dargeboten wird.

Doch nun zurück zu obigen Tabelle, die noch detaillierter zu kommentieren ist.

Erstens, die 121 Euro höhere Arbeitskosten oder 100 Euro höhere Bruttolöhne sind kein Geschenk der Unternehmer an die Arbeitnehmer, sofern und weil sie durch laufende Produktivitätserhöhung bereits im Neuwert der Produktion (Nettoprodukt) enthalten sind. Ihre Verteilung an die Arbeitnehmer verschlechtert nicht die primäre Verteilungsposition des Kapitals. Daraus folgt, dass sich auch die Lohnstückkosten hierdurch nicht effektiv erhöhen (weil ja die Produktivität gestiegen ist) und die Wettbewerbsposition der Unternehmen sich nicht verschlechtert.

Zweitens, die lohnsteuerlichen Abzüge und alle Sozialbeiträge gelangen zwar nicht in die Taschen der Arbeitnehmer, aber sie verschwinden damit überhaupt nicht aus der Binnennachfrage nach den Konsumgütern. In Form von konsumtiven Ausgaben der öffentlichen Kassen einschließlich der Sozialtransfers werden sie vielmehr ganz unmittelbar auf dem Binnenmarkt als reale Massenkaufkraft nachfragewirksam. Es ist ein Trick der Neoliberalen, die Taschen der einzelnen Arbeitnehmer mit den Taschen aller Bürger gleichzusetzen – die enormen konsumtiven Staats- und Sozialausgaben werden damit ausgeblendet.

Drittens, die „Ersparnis“ wird zwar vom Ersparnishalter zunächst aus der Konsumtion herausgehalten, ist aber damit längst nicht als Nachfragefaktor vom Binnenmarkt verschwunden: Ersparnisse gelangen über das Bankensystem in den monetären Kreislauf in Form von Kreditaktiva und bilden somit eine Finanzierungsquelle für Private und kreditwürdige Unternehmen auf dem Immobilien- und Gütermarkt.

Viertens, der „Konsum von Importwaren“ wird hier als Art Minderung von zusätzlicher kaufkräftiger Nachfrage auf dem Binnenmarkt suggeriert – weil der Erlös an die Erzeuger im Ausland abfließt und nicht direkt in die Hand deutscher Unternehmen gelangt. Dies ist aber ein typisch eindimensionaler Blickwinkel auf einen internationalen Kreislaufprozess der Güterwirtschaft! Hier wird einfach übersehen, dass aus den Erlösen für Importe die Chancen für zusätzliche deutsche Exporte entstehen, die so ausgleichend bezahlt werden können – Exporte, die ihrerseits die deutsche Wachstumsrate erhöhen und außerdem die erzielbaren Lohnsteigerungen im deutschen Exportsektor realisieren. Auch der Konsum von Importwaren bildet so ein wichtiges Glied aller Kaufkraftrealisationen auf dem Binnenmarkt, an denen direkt auch der gesamte Komplex des Importhandels und dessen Logistik profitieren.

Folgt man der volkswirtschaftlichen Kreislauftheorie, kann von einem kaufkraftseitigen „Verlust“ aus Lohnerhöhungen für die Binnenwirtschaft ursächlich und quantitativ gar keine Rede sein – alle Bruttolohnbestandteile sind letztlich im wirtschaftlichen Prozess des „Endverbrauches“ immer voll beteiligt und damit marktseitig – gleichgültig über welche Zwischenglieder – realisiert.

Die höheren Löhne realisieren immer auch die höheren Profite der Unternehmen im Kreislaufprozess des Kapitals – eine Einsicht, die eigentlich zu den makroökonomischen Elementarkenntnissen gehört. Wird dies neoliberal verhindert, entstehen permanente Friktionen des Binnenmarktes bei sprudelnden Exportüberschüssen auf den Außenmärkten sowie sinkende Reallöhne für die Arbeitnehmer.

Daher ist es jammervoll bei Markus Voss zu lesen, welche namhaften Wirtschaftsexperten aufgeboten werden, um jede angemessene und gerechte Lohnerhöhung im Zuge der Produktivitäts- und Profitsteigerung selbst dann noch zu verunglimpfen, wenn selbst aus der Bundesregierung heraus neuerdings davon abgeraten wird, weiteren Lohnverzicht in den Branchen mit hohen Gewinnen zu predigen.

Einsichtige Pragmatiker haben trotz ihrer neoliberalen Brille nunmehr durchschaut, welche negative Wirkung der jahrelange Lohnverzicht schließlich auf das Wirtschaftswachstum erzielte und damit genau das Gegenteil davon bewirkte, was die neoliberalen Propheten immer wieder verheißen hatten – das Paradies des immerwährenden Konjunkturaufschwungs für das Kapital. Der lässt sich auf einer permanenten Drosselung der realen Löhne einfach nicht mehr auf dem Binnenmarkt erreichen.

Insofern ist die neoliberale Missdeutung für die obige Tabelle nicht nur volkswirtschaftlich völlig abwegig, sondern mit großer Gewissheit einfach kontraproduktiv für die deutsche Wirtschaft.


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