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Titel: Auswüchse des Kasinokapitalismus – Nicht-Eigentum verkaufen oder versichern und von sinkenden Kursen profitieren

Datum: 4. Februar 2014 um 13:35 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Euro und Eurokrise
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Am 22. Januar hat der Europäische Gerichtshof in Luxemburg ein Urteil zu den EU-Regeln bei ungedeckten Leerverkäufen und Credit Default Swaps gefällt. Das von der EU-Börsenaufsicht ESMA 2012 erlassene europaweite Verbot dieser Geschäfte ist rechtswirksam. Pech für die britische Regierung – sie hatte nämlich gegen die entsprechende Regelung geklagt. Wer jedoch glaubt, durch das Urteil werde dem spekulationsfixierten Treiben auf den Finanzmärkten ernsthaft Einhalt geboten, irrt sich gewaltig. Von Günther Wierichs[1].

Die EU-Verordnung erlaubt es der ESMA, ungedeckte Leerverkäufe in europäischen Aktien und öffentlichen EU-Schuldtiteln (z.B. Staatsanleihen) sowie ungedeckte Credit Default Swaps (CDS) auf öffentliche Schuldtitel in Krisenzeiten zu untersagen. Ungedeckte Leerverkäufe und CDS sind ganz besonders exklusive Instrumente aus dem Spekulations-Baukasten der Finanzbranche, und zwar aus zwei Gründen: Man verkauft oder versichert etwas, das man nicht besitzt, und man profitiert von sinkenden Kursen bzw. schlechten Nachrichten.

Ein ungedeckter Leerverkauf funktioniert im Prinzip folgendermaßen: Wenn ein Spekulant der Auffassung ist, die X-Aktie sei zurzeit überbewertet, verkauft er sie zum aktuellen (seiner Meinung nach zu hohen) Kurs gegen spätere Lieferung. Das Kaufvertragsrecht verpflichtet ihn zur Lieferung, nirgendwo steht jedoch, dass er die Aktie zum Zeitpunkt des Deals auch in seinem Bestand haben muss. Trifft seine Annahme nun zu, macht er ein lukratives Geschäft, indem er sich die Aktie bei Eintreten der Lieferverpflichtung zum gesunkenen Preis beschafft und liefert. Damit hat er seine Verpflichtung erfüllt und kassiert nebenbei die Differenz zwischen den beiden Kursen.

Bei CDS geht es um eine Art Versicherung gegen einen Forderungsausfall. Wer eine Forderung an ein Unternehmen oder einen Staat erwirbt (zum Beispiel durch den Kauf einer Unternehmensanleihe oder einer Staatsanleihe), kann von dem Versicherer, also demjenigen, der den CDS herausgibt, gegen Zahlung einer Prämie verlangen, dass dieser im Falle einer Insolvenz des Schuldners für den damit verbundenen Forderungsausfall eintritt. Je höher die Wahrscheinlichkeit eines Ausfalls, desto saftiger fällt die Versicherungsprämie aus. Eine Prämie für fünfjährige Schuldtitel der Bundesrepublik Deutschland kostet zurzeit etwa 0,23 % pro Jahr. Wer also beispielsweise den Erwerb von 10 Millionen Euro einer Bundesanleihe absichern möchte, zahlt 23.000 Euro pro Jahr. Die Absicherung italienischer Staatsanleihen ist da mit etwa 1,67 % schon ein wenig kostspieliger. Für ein Jahr sind hier 167.000 Euro zu zahlen. Noch teurer sind – mit einer Jahresprämie von 555.000 Euro – CDS auf Griechenland-Bonds.

Meistens geht es jedoch nicht um die Absicherung einer bestehenden Forderungsposition. CDS-Spekulanten sind nicht an Forderungstitel interessiert, ebenso wenig, wie es dem „ungedeckten“ Aktienleerverkäufer um den Aktienbestand selber geht. Daher gibt es auch ungedeckte („nackte“) CDS, mit deren Hilfe man über die Versicherungsprämie Kasse macht. Wer also auf die nächste Regierungskrise in Italien setzt, kann, um im obigen Beispiel zu bleiben, CDS auf italienische Schuldtitel im Volumen von 10 Millionen Euro zum aktuellen Preis von 1,67 % (entsprechend 167.000 Euro) erwerben. Wenn die Regierungskrise dann eintritt (oder auch nur herbeigeredet wird), wird die Prämie steigen. Für jeden Prozentpunkt würden dann pro Jahr 100.000 Euro mehr an Absicherungskosten anfallen. Und der „Markt“ gibt das locker her. Interessenten, welche bereit sind, die dann gestiegenen Prämien auch zu zahlen (und die damit dem CDS-Spekulanten einen Gewinn bescheren), sind Inhaber von Forderungstiteln oder andere Spekulanten, die zulangen, weil sie zukünftig mit noch höheren Prämien rechnen.

Nicht-Eigentum oder (Nicht-Besitz[2]) verkaufen bzw. versichern. Der Leerverkauf ist nichts anderes als Vertrag über eine Sache, in dem festgehalten wird, dass diese später beschafft und geliefert wird. Ein „nackter“ CDS gleicht einer Elementarschadenversicherung gegen Feuer, Wasser und Sturm auf das Haus eines Nachbarn. Kasse gemacht wird in beiden Fällen, wenn ein „negatives Ereignis“ eintritt, ein Preisverfall der Sache oder ein heranziehender Orkan, der das Haus des Nachbarn bedroht.

Hintergrund der eingangs erwähnten EU-Verordnung: Das „Ungedeckte“ soll weg. Nur diejenigen, die eine Aktie besitzen bzw. einen Forderungstitel haben, sollen als Verkäufer oder versicherte Person auftreten. Leider ist die Verordnung – wie alles, was aus der Abteilung Finanzmarktregulierung kommt – ein halbherziges Regelwerk im Patchwork-Stil. Denn erstens umfasst sie mit der Beschränkung auf europäische Aktien und öffentliche Schuldtitel nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum der Kapitalanlagen. Alle übrigen Wertpapiere und auch Devisen bleiben schließlich außen vor. Zweitens enthält die Verordnung eine Fülle von Ausnahmeregelungen. Drittens sind andere Spekulationsinstrumente aus der Derivate-Giftküche nach wie vor beliebig verfügbar. Und selbst über eine solche kastrierte Verordnung regen sich britische Regierungsvertreter und die Gentlemen aus der City of London, also diejenigen, die den Regierungsmitgliedern sagen, was sie zu tun haben, noch auf! Die EU Verordnung[3] wirkt – im übertragenen Sinne gesprochen – so, als würde man in einer Gesellschaft, in der körperliche Züchtigung von Kindern mit allen erdenklichen Mitteln (Ohrfeigen, Weidenruten, biegsame Stöcke etc.) erlaubt ist, einschränkende Regelungen für bestimmte Züchtigungsmaßnahmen erlassen (z.B. das Verbot der Benutzung zu harter Stöcke oder das Prügeln mit mehr als zehn Hieben).

Der Grund für die Halbherzigkeit des Gesetzgebers in Sachen Finanzmarktregulierung ist sattsam bekannt. Die Beharrungskräfte der Branche sowie ihr Einfluss sind einfach zu groß. Kein Wunder, es geht um sehr, sehr viel Geld, denn immerhin sind weltweit mehr 200 Billionen US-Dollar an renditehungrigem Finanzvermögen unterwegs. Da muss man zwangsläufig einen Großteil der Rendite über Spekulationsgeschäfte „erwirtschaften“.

Die Verteidigungslinie der Hardliner in Sachen Finanzkapitalismus und ungezügelten Markthandelns ist jedenfalls eindeutig. Zur Rechtfertigung von ungedeckten Leerverkäufen und „nackten“ CDS wird wieder einmal das Märchen von der Effizienz der Kapitalmärkte verbreitet. Das ist Manipulation vom Feinsten. So heißt es beispielsweise in einer Stellungnahme des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln aus dem Jahr 2010, als die Bundesrepublik im Vorgriff auf die EU-Verordnung erstmalig einen Gesetzentwurf zum Verbot der genannten Geschäfte vorlegte:

„Leerverkäufe, auch ungedeckte, sind nämlich ein wichtiges Instrument zur korrekten Preisbildung an den Finanzmärkten. Die Pessimisten auf den Märkten, die ansonsten durch ihren jeweiligen Bestand an Wertpapieren in ihren Verkaufsabsichten begrenzt werden, erhalten durch Leerverkäufe zusätzliche Optionen. Der Markt wird dann nicht durch die Optimisten – die Käufer – dominiert, was die Volatilität (Schwankungsintensität – G.W.) der Preise reduziert und die Gefahr von Preisblasen mindert.“

Quelle: deutschland-check

Dann soll also das eine Lager der Spekulanten diejenigen Fehlsteuerungen korrigieren, die das andere Lager verursacht – oder wie ist das jetzt zu verstehen? Oder, um wieder im Bild von der Züchtigung von Kindern zu bleiben: Wir benötigen zwei Klassen von Erziehern (wobei der einzelne Erzieher mühelos und schnell von der einen Klasse in die andere Klasse, je nach Bedarf und Stimmung, wechseln kann). In der einen Klasse werden die Erzieher mit Ruten und Schlagstöcken ausgestattet, in der anderen mit Wundsalben und Verbänden. Damit die Auswirkungen der Prügel-Klasse nicht zu krass ausfallen, muss die Klasse der Wundheiler korrigierend eingreifen.

Richtig wäre es dafür zu sorgen, dass weder die Prügelnden noch die Wundheiler zum Einsatz kommen.


[«1] Günter Wierichs (* 1955) studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und promovierte zum Dr. rer. pol. Er arbeitet als Fachleiter am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Düsseldorf und ist Autor mehrerer Lehrbücher, eines Bank- und Börsenlexikons sowie zahlreicher Aufsätze zu wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Themen. Ende August 2013 erschien im Westend-Verlag sein Buch: „Das kritische Finanzlexikon“.

[«2] Der rechtliche Unterschied zwischen Eigentum und Besitz besteht darin, dass Eigentum die rechtliche Herrschaft, Besitz hingegen die tatsächliche Herrschaft über eine Sache mit sich bringt. Häufig fällt beides zusammen. Der Eigentümer und Besitzer einer CD kann damit machen, was er will; er kann sie in einen CD-Player legen und sich an der Musik erfreuen, sie in einem Kunstwerk verarbeiten – oder sie, wenn er möchte, vernichten. Er kann auch rechtlich beliebig über sie verfügen und sie beispielsweise verschenken oder verleihen. Der Entleiher wäre im letzteren Fall lediglich Besitzer und ist in seinen Möglichkeiten begrenzt. Die Vernichtung entfällt dann zum Beispiel. Bei Leerverkäufen spielt das Entleihen im Übrigen eine große Rolle, und zwar immer dann, wenn ein Leerverkäufer mit der Beschaffung der Wertpapiere noch warten möchte, gleichzeitig jedoch schon liefern muss. Dann leiht er sich die Wertpapiere von einem Dritten und liefert sie an den Leerverkaufspartner. Dem Verleiher gibt er dann später die von ihm gekauften Wertpapiere zurück. Diese Variante des so genannten „gedeckten“ Leerverkaufs ist nach wie vor ohne Einschränkungen erlaubt.

[«3] Wer nachts wach liegt und etwas zum Einschlafen benötigt, dem sei die Lektüre der Verordnung empfohlen, abrufbar hier [PDF – 1 MB]


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