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Titel: Hinweise des Tages

Datum: 8. Januar 2015 um 8:52 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
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Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (RS/WL)

Hier die Übersicht. Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert.

  1. Anschlag in Paris
  2. Blut auf die Mühlen
  3. Bedrängtes Abendland
  4. Interview zu Islamophobie
  5. Alfons geht kämpfen
  6. Ägypten: Ein Land des Schweigens und der Angst
  7. Wer ist das Volk?
  8. Europa rutscht erstmals seit der Finanzkrise in die Deflation
  9. IMK: Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2015 – Wirtschaftspolitik unter Zwängen
  10. Europoly: Privatisierung unter der Troika
  11. „Deutlich weniger radikal“
  12. Spätes Weihnachtsgeschenk für Berlusconi
  13. Michail Gorbatschow: „Es fällt schwer, nicht schwarz zu sehen“
  14. Abgehängt und alleingelassen
  15. Der Pillendreh – Im Innern des Pharmakonzerns Sanofi
  16. Verheerendes Wachstum – Asien braucht ein ganz anderes Wirtschaftsmodell
  17. Community statt Kommunismus – Wie die französische KP versucht, in der Gegenwart anzukommen
  18. Fukushima: Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle steigt weiter an
  19. Das Letzte

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Anschlag in Paris
    1. „Wir sind Charlie“


      Quelle: Chip
    2. Zehntausende gedenken der Opfer
      Obwohl in Paris weiter die höchste Terrorwarnstufe gilt, lassen sich die Menschen nicht davon abhalten, ihre Bestürzung über den Terroranschlag auf “Charlie Hebdo” zu artikulieren.
      Stifte und Schilder sind der Ausdruck der Trauer und des Entsetzens über den Terroranschlag in Paris. In ganz Europa verwendeten bei spontanen oder kurzfristig organisierten Kundgebungen Demonstranten diese Utensilien.
      Die Welle der Solidarität begann sich schon tagsüber aufzubauen. In sozialen Medien wie Facebook verbreitete sich der Slogan “Je suis Charlie”. In der Realität gingen in ganz Frankreich in dutzenden Städten die Menschen auf die Straßen und Plätze.
      Quelle: derstandard.at

      Anmerkung WL: Egal ob die Mörder religiöse Motive, wie offenbar in Paris, oder ob sie rassisch-religiöse Wahnvorstellungen vorschieben, wie der NSU: Mörder sind Mörder. Und solchen Terroristen geht es nur darum noch mehr Angst und noch mehr Hass zu schüren.

      Anmerkung JB: Der Schock und die Ratlosigkeit sitzen einen Tag nach diesem unglaublichen Verbrechen tief. Es bleibt abzuwarten, welche Folgen der Anschlag auf die französische Gesellschaft haben wird. Hier ist auch Francois Hollande gefragt. 2011 hat der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg nach dem Anschlag von Utøya den bemerkenswerten Satz gesagt: “Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit“. Hoffen wir, dass die französischen Verantwortlichen ähnlich offen und besonnen reagieren. Großer Nutznießer dieses Anschlags sind bereits jetzt die „Kulturkämpfer“ auf beiden Seiten – sowohl die Rechtspopulisten der Front National, als auch die Islamisten, die ihrerseits den Konflikt zwischen Muslimen und Nichtmuslimen schüren wollen und ihr Selbstverständnis auch daraus beziehen, dass die Muslime in Frankreich vom Rest der Gesellschaft angefeindet werden. Beide Seiten nähren sich vom Hass. Um so wichtiger ist es, ruhig zu bleiben und Vorverurteilungen zu vermeiden.

    3. Anschlag auf Charlie Hebdo ganz großartig für Islamisten und Islamhasser
      Islamisten und Islamhasser auf der ganzen Welt fühlen sich derzeit angesichts eines furchtbaren Anschlags auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo mit mindestens 12 Toten einmal mehr in ihrem Weltbild bestätigt. Während Islamisten vor allem stolz darauf sind, erneut Angst und Schrecken verbreitet zu haben, genießen Islamhasser den perfekten Moment, um in den sozialen Netzwerken gegen Minderheiten und Zuwanderung zu hetzen. Beide Seiten dürfen sich auf regen Zulauf freuen.
      “Allah ist groß!”, ruft ein IS-Sympathisant (24) aus Bochum, der die Nachricht gerade im Internet gelesen hat und es nicht verstörend findet, dass die Attentäter seinem Gott bei Karikaturen das rachsüchtige Gemüt eines jähzornigen Dreijährigen unterstellen. “Diese Tat wird noch viele weitere Märtyrer ermutigen und den Ungläubigen zeigen, was wir von ihren westlichen Werten halten.”
      Ähnlich zufrieden sind Islamhasser und Rechtspopulisten: “Da sehen diese Gutmenschen endlich, dass der Islam Europa überrollt!”, erklärt etwa ein leidenschaftlicher PEGIDA-Demonstrant (33) aus Dresden. “Und dann werde ich auch noch als Nazi beschimpft! Am Montag werden wir jetzt bestimmt noch mehr sein.”
      Einen weniger guten Tag hatte heute die überwältigende Mehrheit derjenigen Menschen, die einfach in Frieden leben und nichts mit derartigen Extrempositionen zu tun haben wollen – darunter Muslime, Christen, Anhänger anderer Religionen, Agnostiker und Atheisten.
      Quelle: Der Postillion

      Anmerkung WL: AfD-Vize Gauland sieht Pegida durch Anschlag von Paris bestätigt:
      Die Warnungen vor den Gefahren des Islamismus seien berechtigt. Die etablierten Parteien sollten sich gut überlegen, ob sie bei ihrer Haltung, “die Menschen von Pegida weiter zu diffamieren”, bleiben wollten.

      Anmerkung: Der Postilion ist eine Satireseite und der verlinkte Beitrag ist ebenfalls Satire.

  2. Blut auf die Mühlen
    In den westlichen Demokratien müssen die Extremisten und Volksverhetzer jeder Couleur von der Nachschubverbindung aus dem politisch gemäßigten Lager abgeschnitten werden. Unbändigen Hass auf die „Lügenpresse“ gibt es auch in Deutschland.
    Der Anschlag trifft eine kleine Zeitung, er gilt aber der ganzen freien Presse. Mehr noch, er stellt eine Kriegserklärung an die ganze freie Welt dar. Die Pressefreiheit ist, wie es das Bundesverfassungsgericht schon vor einem halben Jahrhundert ausdrückte, „schlechthin konstitutiv“ für den demokratischen Rechtsstaat. Er kann es nicht zulassen, dass Männer mit Kalaschnikows und Panzerfäusten bestimmen, was man sagen, schreiben, zeichnen und auch nur denken darf.
    Und auch hier, im Abendland, ist Hass anzutreffen, der in Gewaltphantasien mündet, auch in Bezug auf die „Lügenmedien“, gegen die auf den Demonstrationen der Pegida gehetzt wird.
    Im Vorwurf „Lügenpresse“ steckt auch der Versuch, im Namen der Meinungsfreiheit die Meinungsfreiheit eines pluralistischen Pressewesens zu beschneiden, das, obwohl auch seine Angehörigen nicht unfehlbar sind, in der Welt keinen Vergleich zu scheuen braucht. Hinter der Tat von Paris steht keine andere Absicht, nur ihre Mittel waren extremer. Aber auch von einem solchen Blutbad dürfen sich die freie Welt und ihre Presse nicht einschüchtern lassen.
    Quelle: faz.net

    Anmerkung JK: Dieses Maß an Heuchelei versschlägt mir einfach die Sprache. Jeder, also auch die NDS, der die Mainstreammedien kritisiert ist nun ein Terrorist, mindestens Pegida-Anhänger. Jeder der einseitige Berichterstattung kritisiert ist also gegen die Meinungsfreiheit. Was für eine groteske Verdrehung der Tatsachen. Wo finden wir den Pluralismus in den “Qualitätsmedien”? Erst am Montag haben wir die Pressestimmen zu den Neuwahlen in Griechenland dokumentiert: 36 Pressemeldungen aus den verschiedensten Medien und alle mit einem fast identischen Tenor.

  3. Bedrängtes Abendland
    Schwarzer Hellseher: Der CDU-Querdenker Kurt Biedenkopf hatte schon 1990 Schreckensträume vom Ansturm andersgläubiger Armer
    »Wir wohnten in unserem Haus am Chiemsee; der Garten war ähnlich wie in Wirklichkeit, aber weitläufiger. Am hinteren Gartentor standen einige Menschen brauner Hautfarbe. Sie hatten das Tor geöffnet, zögerten aber, in den Garten einzudringen. Plötzlich kamen weitere Menschen in weißen Gewändern, zum Teil mit Turbanen und weißen Kopfbedeckungen. Sie warfen Abfall in den Garten, zum Teil in zerbeulten Behältnissen. Eines dieser Behältnisse flog in die Nähe des Hauses und begann zu brennen. Die Menschen fingen an, in den Garten einzudringen. Ihnen voran kam ein kräftig gewachsener großer Mann mit weißem Turban und weißem Gewand auf mich zu. Er hielt einen schweren Gegenstand in der Hand, mit dem er mich angreifen wollte.« Das trug am 12. September 1990 ein gewisser Kurt Biedenkopf in sein Tagebuch ein. Was er da aufschrieb, hatte er geträumt. »Gegen Morgen hatte ich einen merkwürdigen Traum«, notierte er, als er aufgewacht war, und schrieb ihn dann auf.
    Wer ist dieser Kurt Biedenkopf? Und warum und wo träumte er damals so etwas? Und was lag ihm so besonders daran, es zehn Jahre später in »1989–1990. Ein deutsches Tagebuch« (Siedler Verlag in der Verlagsgruppe Bertelsmann, Berlin 2000) zu veröffentlichen? Wir müssen etwas ausholen, denn vieles, was heute hochkommt, hat eine Vorgeschichte, die viele Jüngere nicht kennen und Ältere vielleicht vergessen haben.
    Quelle: junge Welt
  4. Interview zu Islamophobie
    PEGIDA ist das Symptom eines größeren Problems
    Die Muslimfeindlichkeit in Deutschland ist deutlich älter als beispielsweise der so genannte “Islamische Staat”, sagt die Islamwissenschaftlerin Sabine Schiffer in einem Interview mit der Webseite “NachDenkSeiten”. Unsere Redaktion fand das so interessant, dass wir es an dieser Stelle mit freundlicher Genehmigung von “NachDenkSeiten” publizieren.
    Quelle: MDR

    Kommentar AM: Der MDR übernimmt und verlinkt zu den NachDenkSeiten. Respekt. Auch für den NDS-Autor Jens Wernicke.
    So vernünftig und produktiv könnte das Verhältnis von „etablierten“ Medien und den Blogs sein: Man kritisiert sich, und man zitiert sich.

  5. Alfons geht kämpfen
    Alfons Rosenbruch ist 18 Jahre alt, als er die Ausbildung in Hamburg abbricht. Er geht nach Syrien und schließt sich dem “Islamischen Staat” an. Alles chillig hier, schreibt er einem Freund. Dann wird er erschossen. Geschichten wie die von Rosenbruchs Reise in den Dschihad stehen zurzeit häufig in den Zeitungen. Etwa 550 Männer und Frauen aus Deutschland sollen sich bereits dem Dschihad des IS angeschlossen haben, allein aus Hamburg sind laut Verfassungsschutz 50 ausgereist. Soziologen und Pädagogen versuchen, die Lebensläufe dieser Leute zu erklären. Schlechter familiärer Hintergrund, Chancenlosigkeit, Sinnsuche und als Folge Radikalisierung, solche Begriffe fallen meist. Irgendwann sind junge Männer von deutschen Schulen dann bereit, für den Islam zu töten.
    So war es auch bei Alfons Rosenbruch, glaubt man den Berichten: Ein Junge ohne Perspektive konvertiert mit 17 zum Islam. Er gerät in die Fänge salafistischer Prediger, reist über die Türkei nach Syrien und schließt sich dem IS an. Dann stirbt er. Aziz jedoch protestiert gegen diese Geschichte. Zu einfach, zu viel Klischee. “Sinnsuche, so ein Schwachsinn.” Sein Kumpel hatte alles, sagt er. Genug Geld, eine gute Familie, eine Ausbildung, Freunde. Er hat sich halt mit dem Koran befasst. “Haben Sie sich schon mal in eine Religion vertieft?” Danach würden viele die Welt mit anderen Augen sehen. “Alfons wollte keine Menschen töten, dafür hatte er zu viel Liebe in sich.”
    Quelle: taz

    Anmerkung Orlando Pascheit: Wann bemüht die Regierung endlich die besten Köpfe des Landes zu diesem Problem?

  6. Ägypten: Ein Land des Schweigens und der Angst
    Man sollte nicht übersehen, dass die Regierung Sisi, obwohl sie sich einer nachgerade sensationellen Zustimmung aus dem Volk erfreut, es bis dato nicht fertiggebracht hat, das Land mittels dieser breiten Unterstützung aus der derzeitigen Sackgasse zu führen. Vielmehr wird die Krise genutzt, um die Diktatur zu festigen: So wurde das von der Verfassung garantierte Demonstrationsrecht kassiert, politische Aktivisten und Oppositionelle werden verfolgt. Sogar aus den Kreisen, die von der jetzigen Regierung profitierten, wird allmählich Kritik an diesem Kurs laut, insbesondere seit dem Freispruch für Mubarak. …. Ein grosser Teil der Bevölkerung fürchtet, dass der Staat kollabieren und Ägypten im totalen Chaos versinken könnte; eine Angst, die noch verschärft wird durch die Möglichkeit, dass die bewaffneten radikalislamistischen Gruppierungen neue Protestbewegungen für ihre Zwecke instrumentalisieren und am Ende einen ähnlichen Weg einschlagen könnten wie ihre Brüder im Geiste in Syrien und im Irak. Leider gibt es zudem im politischen Lager der Säkularisten derzeit niemanden, dem die Ägypter die Fähigkeit zutrauen würden, die Ziele der Revolution endlich um- und durchzusetzen; auch dieser Faktor trägt dazu bei, dass sogar viele von denjenigen, die mit Sisis Politik eigentlich nicht einverstanden sind, sich für ihn aussprechen.

    Wir leben also unter einer Regierung, die sich von den Ängsten der Menschen nährt und diese Ängste weiter alimentiert, um an der Macht zu bleiben und ihren autoritären Kurs fortzusetzen. Das ist ein riskantes Spiel, denn irgendwann wird der Druck so gross, dass er eine gewaltige Explosion zeitigt. Revolutionen und Aufstände, einmal entfacht, pflegen sich nicht ans Mass des Wünschenswerten zu halten, und wo die Geschichte ihren Lauf nimmt, geht sie über Ängste und Sorgen hinweg. Kommt der Sturm, wird er alles und alle hinwegfegen – und der Sturm wird dieses Mal eher ein Schrei der Verzweiflung als einer der Hoffnung sein.
    Quelle: NZZ

    Anmerkung Orlando Pascheit: Deutschland schreibt eine ein wenig von Pegida getrübte schwarze Null, die Angst vor Ebola ist abgeflaut, in der Ukraine sind keine weiteren Abschüsse von Passagierflugzeugen zu vermelden, der IS erleidet seine ersten Niederlagen, Erdogan genehmigt den ersten Neubau einer christliche Kirche, usw. Wie schön, dass auch in Ägypten, im bevölkerungsreichsten Land des Nahen Ostens, Ruhe herrscht. “Die Ruhe eines Kirchhofs! …. Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten. Des langen Schlummers Bande wird er brechen. Und wiederfordern sein geheiligt Recht”, hätte Schiller dem neuen Herscher Ägyptens entgegengehalten (Don Carlos, III/10). Europa, der Westen, die so viel gelobte Wertegemeinschaft, schweigt. Und viele sind sicherlich der Meinung, dass Friedhofsruhe besser als Bürgerkrieg, als Chaos ist – siehe Syrien oder Libyen. Haben sie recht?
    Was die Schriftstellerin, Mansura Eseddin, nicht so sehr im Blick hat, aber wohl ausschlaggebend für den nächsten “Sturm” sein wird, ist eine anhaltende hohe Armutsquote (40 % der Ägypter leben von unter zwei US-Dollar am Tag), der ungeheure Gegensatz zwischen Arm und Reich, aber auch zwischen Stadt und Land. Die Arbeitslosenquote von etwa 13% und die Jugendarbeitslosenquote (15-24 Jahre) von 35% spiegeln kaum die Realität wieder. Die Veränderung des realen BIP % zum Vorjahr 5,4% (2000); 4,5% (2005); 5,1% (2010); 2,2% (2012); 2,1% (2013) ist für ein aufholendes Entwicklungsland eine Katastrophe. Selbst wenn z.B. Germany Trade & Invest für 2015 optimistisch ein BIP-Wachstum von 4,1% prognostiziert ist das für ein Land viel zu wenig, das jedes Jahr um die sechs Prozent wachsen müsste, nur um die Arbeitslosigkeit konstant zu halten. Friedhofsruhe wird mit Bajonetten sicherlich eine Weile herzustellen sein, findet aber langfristig im materiellen und sozialen Elend der Mehrheit der Bevölkerung ihre Grenzen.

  7. Wer ist das Volk?
    Wer oder was ist eigentlich das Volk, auf das sich alle berufen? Egal ob rechts oder links. Kontext-Autorin Annette Ohme-Reinicke klärt auf: Der Begriff hat nichts mit Freiheit zu tun, sondern mit Ausgrenzung. Und deshalb ist er bei der Pegida am rechten Fleck.
    “Wir sind das Volk!” behaupten die Pegida-Demonstranten. “Nein, ihr seid nicht das Volk!”, entgegnet Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) auf der jüngsten Kundgebung auf dem Schloßplatz. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sagt, die islamfeindlichen Demonstranten nennen sich zwar “das Volk”, meinen aber: “Ihr gehört nicht dazu.” Und der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer empört sich, ein “Freiheitsruf” der DDR-Bürgerrechtsbewegung werde jetzt schamlos missbraucht. Wer hat nun Recht?
    Quelle: Kontext:Wochenzeitung

    Hinweis: Auch diese Woche wieder eine Reihe interessanter Artikel in Kontext:Wochenzeitung u.a.:

    • Isolierte S-21-Gegner: Peter Conradi ist seit vielen Jahren ein führender Kopf im Widerstand gegen das Projekt S 21. In seinem Beitrag für Kontext kritisiert er nicht nur die Bahn, sondern auch die eigenen Mitstreiter. Viele würden sich “selbst isolieren” anstatt andere zu überzeugen.
    • Blaues Wunder: So oft ist die Historie bemüht worden an Dreikönig, wenn sich die FDP in Stuttgart selber feiert. Diesmal wird wirklich Geschichte geschrieben: Noch nie war die Partei dem Abgrund so nah. Überleben wollen die Liberalen ausgerechnet mit neuen Farben. Und alten Sprüchen.
    • Der schwarze Guerillero: Die CDU hat eine neue Lichtgestalt: Guido Wolf, 53, Blutreiter aus dem oberschwäbischen Weingarten und Landrat aus Tuttlingen. Er präsentiert sich heute schon als Ober-Ministerpräsident, und keiner fragt, was er eigentlich vorher geleistet hat. Im Bermuda-Dreieck von Erwin Teufel und Volker Kauder verfliegt der Zauber schnell.
    • Den eigenen Tod überlebt: Bondu aus Sierra Leone ist eine von tausenden traumatisierten Flüchtlingen in Baden-Württemberg. Die 48-Jährige wurde in ihrer Heimat beschnitten und vergewaltigt. Mit Hilfe einer psychologischen Beratungsstelle für Flüchtlinge in Stuttgart arbeitet sie ihre Erlebnisse auf.
    • Top 5 im Dezember: Vor allem der Wasserwerferprozess am Landgericht hat die Kontext-Leser interessiert. Thematischer Ausreißer: Die scharfe Kritik des SPD-Politikers Dieter Spöri an der Ukraine-Politik der eigenen Partei.
    • Stuttgart hält Pegida klein: Die Entrüstung über “Pegida” hat auf dem Schlossplatz zusammengeführt, was im Talkessel keineswegs immer zusammengehört: Stuttgart-21-Gegner und Grüne, SPDler, GewerkschafterInnen und Linke, Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte, sehr viele Junge und viele Ältere. Unsere Schaubühne.

    Kontext:Wochenzeitung erscheint mittwochs online auf kontextwochenzeitung.de und samstags als Beilage zur taz.

  8. Europa rutscht erstmals seit der Finanzkrise in die Deflation
    Im Dezember 2014 ging das allgemeine Preisniveau im Vergleich zum Dezember 2013 um 0,2 Prozent zurück, schätzte das europäische Statistikamt Eurostat am Mittwoch. Ökonomen und Politiker streiten nun darüber, ob diese leichte Deflation gut oder schlecht ist.
    Der Rückgang beruht laut Eurostat vor allem auf den niedrigen Energiepreisen. Diese sind im Jahresvergleich um 6,3 Prozent gefallen…
    Die gegenwärtige leichte Deflation hält Ökonom Christoph Weil von der Commerzbank dagegen für völlig ungefährlich. Im Gegenteil: „Die niedrigeren Energiepreise sind ein Segen für die lahmende Konjunktur“…
    Die Gegenposition vertritt unter anderem Silke Tober vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie (IMK). Sie hält die „sinkende Inflationserwartung“ für problematisch. Begründung: In der Annahme, dass die Preise längere Zeit nicht steigen, könnten Unternehmen Investitionen aufschieben. Das führe zum Abbau von Arbeitsplätzen.
    Quelle 1: Der Westen
    Quelle 2: Eurostat: Euro area annual inflation down to -0.2% [PDF – 35 KB]

    Anmerkung WL: Bundesregierung und Europäische Kommission seien kein Grund zur Besorgnis. Die Kapelle auf der Titanic spielt munter weiter.

  9. IMK: Wirtschaftspolitische Herausforderungen 2015 – Wirtschaftspolitik unter Zwängen
    • Die größte wirtschaftspolitische Herausforderung wird 2015 die Überwindung der Krise des Euroraums sein. Diese manifestiert sich seit längerem in einer hartnäckigen Tendenz zur Deflation. Damit verliert die Geldpolitik, die den Euroraum bislang entscheidend stabilisiert hat, an Wirksamkeit. Sie bedarf dringend der Flankierung durch die Finanzpolitik, die mittels höherer Investitionen die Wirtschaft im Euroraum stimulieren und so die Deflations- und Stagnationsgefahr bannen kann.
    • Anhand von Modellrechnungen lassen sich hohe Wachstumseffekte eines solchen Vorgehens aufzeigen. Eine Ausdehnung der öffentlichen Investitionen um 1 % des BIP für die Dauer von drei Jahren würde das Euroraum-BIP im selben Zeitraum durchschnittlich um 1,6% steigern.
    • Es deutet sich denn auch bereits ein Wechsel des finanzpolitischen Kurses an. Damit ist die bisherige Strategie, die den Euroraum durch einen harten Sparkurs aus der Krise führen sollte, gescheitert. Nunmehr werden vielfach Konzepte entwickelt, die die Investitionstätigkeit beleben sollen. Sie sind jedoch quantitativ und konzeptionell bislang unzureichend.

    Quelle: IMK Report 102 Januar 2015-01-07 [PDF – 1.2 MB]

  10. Europoly: Privatisierung unter der Troika
    Milliarden-Immobilien werden verschleudert, Wasserwerke gegen den Willen der Bevölkerung an Konzerne vertickt, ganze Banken gehen zum Billigpreis an dubiose Käufer – in den Krisenländern Europas steht das öffentliche Eigentum zum Verkauf. Oligarchen und Finanzinvestoren spielen ein gigantisches Monopoly. Die Gläubiger haben die Regeln zu Gunsten der Zocker geändert: Im Europoly stehen die Verlierer von Beginn an fest. Eine Anleitung in drei Kapiteln…
    Wer Geld verleiht, diktiert die Regeln. Wer welches leiht, muss sich an die Regeln halten. Vor der Euro-Krise haben vor allem Entwicklungsländer diese Erfahrung mit internationalen Geldgebern gemacht, doch nun trifft es auch Europa. Die “Troika” verlangt als Bedingung für ihre Notkredite großflächige Privatisierungen. Unter den Hammer kommt in den Krisenländern unter hohem Zeitdruck alles, was der Staatsbesitz so hergibt: Wasserwerke, Banken, Strände, Flughäfen, Stromnetze, Häfen, Paläste und sogar Heilquellen. Die Bank in diesem Spiel will schnell Geld eintreiben. Für Investoren ist der Einsatz niedrig, die Gewinnchancen sind hoch. Das erste Kapitel stellt die Geldgeber, Mitspieler und Spielregeln vor…
    Quelle: Europoly Tagesspiegel
  11. „Deutlich weniger radikal“
    Christos Katsioulis in Athen über das Schreckgespenst SYRIZA und den Tiefpunkt der PASOK.
    Am 25. Januar wird in Griechenland gewählt. SYRIZA geht mit Forderungen nach einem Ende des Sparkurses, einem Schuldenschnitt und einem umfassenden Sozialprogramm als Favorit in die Wahl. Welche Bedeutung hätte ein Sieg der SYRIZA?
    Für Griechenland hätte das historische Bedeutung, weil erstmals eine Partei der kommunistischen Linken an der Macht wäre. Zudem würde erstmals seit der Diktatur eine andere Partei an die Macht kommen, als die konservative Nea Dimokratia und die sozialistische PASOK. Das wäre für einen Bruch mit vielen klientelistischen Praktiken sicherlich hilfreich. Was die Forderungen der Partei betrifft, so muss man jedoch ein wenig Wasser in den Wein gießen. Denn SYRIZA fordert zwar einen Schuldenschnitt, das hat die aktuelle Regierung bis vor kurzem aber auch getan…
    Die Wählerinnen und Wähler sind der Schreckensszenarien müde und von der Regierung frustriert. Nach drei Jahren Sparpolitik, massiver Schrumpfung der Wirtschaft und einer Arbeitslosigkeit von 26 Prozent ist die Bereitschaft hoch, es mal mit einer Variante zu versuchen, die zwar riskanter wirkt, dafür jedoch Hoffnung verspricht. Und Hoffnung war in den letzten Jahren in Griechenland ein rares Gut.
    Quelle: Internationale Politik und Gesellschaft IPG
  12. Spätes Weihnachtsgeschenk für Berlusconi
    An Heiligabend trat Renzis Kabinett zusammen, um auf die Schnelle – und wohl auch dank des Weihnachtstrubels unbemerkt – die Durchführungsverordnungen für die Neufassung von Finanz- und Steuerdelikten zu beschließen. In den Verordnungen fand sich ein Weihnachtsgeschenk für Berlusconi: In Zukunft soll Steuerbetrug nur noch strafrechtlich verfolgt werden, wenn die hinterzogene Summe mehr als 3 Prozent des Firmenumsatzes beträgt. Die Norm gilt aber nach italienischer Rechtsprechung auch für die Vergangenheit – Angeklagte und in letzter Instanz Verurteilte haben das Recht, nach der neuen Norm beurteilt zu werden, wenn diese für sie günstiger ist. Das ist fein für Berlusconi: Er war im August 2013 wegen Steuerbetrug zu einer Haftstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Davon musste er wegen eines allgemeinen Strafnachlasses nur ein Jahr abbüßen.
    Weit härter traf ihn die Tatsache, dass er aufgrund der Vorstrafe seinen Sitz im Senat einbüßte – und dass er auf sechs Jahre nicht mehr bei Wahlen antreten kann. Doch die hinterzogene Summe betrug “nur” knapp acht Millionen Euro in zwei Jahren, jeweils 1,2 und 0,7 Prozent des Umsatzes seiner TV-Holding Mediaset, wie Experten ausrechneten. Hunderte weitere hinterzogene Millionen waren wegen Verjährung unter den Tisch gefallen – auch, weil Berlusconi in seiner Zeit als Regierungschef die Verjährungsfristen verkürzt hatte. Mit Renzis neuem Dekret könnte jedoch das Urteil gegen Berlusconi aus dem Jahr 2013 komplett kippen – und damit auch das Verbot, bei den nächsten Wahlen wieder anzutreten. Es ist kein Geheimnis, dass der von der gemäßigt linken Partito Democratico (PD) kommende junge Regierungschef gut kann mit dem alten Frontmann der Rechten. Im Februar 2014 hatte Renzi einen Pakt mit Berlusconi geschlossen. Die beiden vereinbarten, bei der Wahlrechts- und Verfassungsreform im Parlament zusammenzuarbeiten. Renzi bestritt jedoch stets, jener Pakt enthalte weitere Klauseln. Eben dieser Verdacht drängt sich jetzt jedoch auf, und er wird verstärkt durch den Umstand, dass die für Berlusconi strafbefreiende Norm offenbar in letzter Minute im Amt des Ministerpräsidenten in die Durchführungsverordnung hineingeschmuggelt worden war.
    Quelle: taz

    Anmerkung Orlando Pascheit: Es wäre verführerisch sich vorzustellen, dass Matteo Renzi auf diesen Kuhhandel eingegangen sei, weil er eine sichere Mehrheit sichern wollte, um die einst drittgrößte Wirtschaftsmacht der EU wieder auf Vordermann zu bringen. Aber selbst wenn dies so wäre – leider spricht die jüngste Arbeitsmarktpolitik nicht dafür – wäre der Preis dafür zu hoch. Das Jahrzehnt verlor Italien unter Berlusconi vor allem dadurch, dass dieser das Recht an seinen persönlichen Interessen ausrichtete. Und Renzi setzt diese Praxis als gelehriger Schüler fort. Berlusconi hat damit Italien ein furchtbares Erbe hinterlassen. Wir wissen jetzt, wie moderne Form des ‘duce’ aussieht. Und Europa kann genauso wie bei Viktor Orbán nur zuschauen.

  13. Michail Gorbatschow: „Es fällt schwer, nicht schwarz zu sehen“
    Mit dem Ende des Jahres 2014 wird deutlich, dass die seit 1989 vorhandenen europäischen und internationalen politischen Strukturen ihre Bewährungsprobe nicht bestanden haben. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Welt kein derart angespanntes und schwieriges Umfeld mehr erlebt, in dem vor dem Hintergrund eines Abbruchs des Dialogs zwischen Großmächten in Europa und im Nahen Osten Blut vergossen wird. Die Welt scheint sich an der Schwelle eines neuen Kalten Krieges zu befinden. Manche behaupten sogar, er habe bereits begonnen.
    Unterdessen spielt das wichtigste internationale Gremium der Welt – der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen – kaum eine Rolle oder ergreift konkrete Maßnahmen, um die Brandherde einzudämmen und das Morden zu beenden. Warum hat er nicht entschlossen gehandelt und eine Beurteilung der Lage vorgenommen, um  einen gemeinsamen Aktionsplan zu entwickeln?
    Ich glaube ein wesentlicher Grund ist der Zusammenbruch des Vertrauens, das durch harte Arbeit und die gemeinsame Bemühung geschaffen wurde, den Kalten Krieg zu beenden. Ohne  dieses Vertrauen sind friedliche internationale Beziehungen in der globalisierten Welt von heute undenkbar.
    Quelle: Internationale Politik und Gesellschaft IPG
  14. Abgehängt und alleingelassen
    • Viele Ziele des Bildungsgipfels aus dem Jahr 2008 werden verfehlt, das zeigt eine Studie, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt.
    • Es gibt noch immer zu viele Schulabgänger ohne Abschluss, zu viele junge Erwachsene ohne Ausbildung und eine soziale Chancenungleichheit bei Studienanfängern.
    • Der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert einen neuen Bildungsgipfel in diesem Jahr…

    Anders als in Dresden vorgesehen, wird es nicht gelingen, die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss bis Ende des Jahres zu halbieren. 2013 verließen 5,7 Prozent der Jugendlichen allgemeinbildende Schulen ohne irgendeinen Abschluss…
    In Bayern hört nicht einmal jeder 20. Schüler ohne Zertifikat mit der Schule auf, in Mecklenburg-Vorpommern trifft dies auf gut jeden zehnten zu. Ähnliche Differenzen gibt es bei den sogenannten Mindeststandards in Mathematik: In Bremen scheitern daran 11,5 Prozent der Neuntklässler, in Sachsen nur 1,3 Prozent.
    Weiterhin hoch ist die Zahl der jungen Erwachsenen ohne Ausbildung: 2013 hatten 1,4 Millionen im Alter von 20 bis 29 Jahren weder eine abgeschlossene Berufsausbildung noch waren sie dabei, eine solche zu erwerben. Das entspricht einem Anteil von 13,8 Prozent in dieser Altersgruppe. Das Ziel des Bildungsgipfels, den Wert von 17 auf 8,5 Prozent zu halbieren, sei damit “bis 2015 völlig ausgeschlossen”…
    Quelle 1: SZ
    Quelle 2: DGB Bildungsgipfel-Bilanz 2014, DGB [PDF – 440 KB]

  15. Der Pillendreh – Im Innern des Pharmakonzerns Sanofi
    Bis ich herausgefunden habe, dass ich überwacht werde und dass die genau wissen, was ich verschreibe!”, empört sich eine Ärztin aus einem schicken Pariser Stadtteil. “Eine Pharmavertreterin sagte irgendwann zu mir: ,Sie verordnen nicht gerade viel!’ Da hab ich mich gefragt: Woher weiß die das? Ich war ja komplett ahnungslos.”
    Wie viele ihrer Kollegen ist sie schockiert über die Kontrolle, hinter der die Marketingabteilungen von Pharmakonzernen stecken. Und die strotzen nur so vor Einfallsreichtum, wenn es darum geht, Marktanteile zu steigern. Dazu gehört auch, die Anwendungsgebiete von Arzneimitteln zu verändern, um neue Kunden zu gewinnen. So geschehen bei Sanofi, dem viertgrößten Pharmakonzern der Welt (33 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2013) und Frankreichs höchstbewertetem Unternehmen.
    Pyostacine(1) aus dem Hause Sanofi, das manche Ärzte auch als den “Rolls Royce unter den Hautantibiotika” bezeichnen, wurde lange nur gegen dermatologische Erkrankungen eingesetzt, bevor es in ein Medikament für die Atemwege umgewandelt wurde. Seither wird das Antibiotikum bei Bronchitis und Lungenentzündungen verabreicht.
    Quelle: Le Monde diplomatique
  16. Verheerendes Wachstum – Asien braucht ein ganz anderes Wirtschaftsmodell
    Das westliche Wirtschaftsmodell hat sich zwar weltweit durchgesetzt, ist aber nicht imstande, für seine eigenen Bürger angemessen zu sorgen. In den USA hat die Ungleichheit das höchste Niveau seit hundert Jahren erreicht. Seit dem Ende der Rezession Mitte 2009 entfielen 95 Prozent der Einkommenszuwächse auf das eine Prozent der Topverdiener. Dagegen liegt das Medianeinkommen der Einzelhaushalte (ohne die Rentner) heute 12 Prozent unter dem des Jahres 2000. Mittlerweile rechnen sich 40 Prozent der US-Bürger der Unter- oder der unteren Mittelschicht zu. Und 40 Millionen Menschen dort sind auf staatliche Lebensmittelgutscheine angewiesen.
    In Europa sieht es kaum besser aus. In Spanien und in Griechenland sind über 50 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. Die Staatsverschuldung liegt selbst in Ländern wie Frankreich und Großbritannien inzwischen bei 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Und die Bilanz wäre noch schlimmer ohne die von der EZB gestützte Politik des „billigen Geldes“, die aber nicht ewig durchzuhalten ist, und ohne die dadurch fehlgelenkten Investitionen, die nur weitere spekulative Blasen wie die von 2008/2009 hervorbringen werden.
    Machen wir uns nichts vor: Wenn das, was wir derzeit in Europa erleben, in Asien oder in Afrika passieren würde, würde man es schlichtweg als ein Desaster bezeichnen – und das Ergebnis einer verfehlten Wirtschaftspolitik. Aber weil sich der Westen über die letzten hundert Jahre als intellektuelle Supermacht aufgespielt und die globale Wirtschafts- und Finanzpolitik bestimmt hat, können seine Regierungen dem Rest der Welt immer noch weismachen, Wohlstand lasse sich einzig und allein über Liberalisierung, Nachahmung des westlichen Modells und konsumgetriebenes Wachstum erreichen.
    Quelle: Le Monde diplomatique
  17. Community statt Kommunismus – Wie die französische KP versucht, in der Gegenwart anzukommen
    Die KPF versuchte den französischen Kommunismus durch einen Wandel in der inneren Organisation ihrer Partei zu erneuern. Angesichts sinkender Mitgliederzahlen wurde das Prinzip, vor allem Arbeiter zu Kadern auszubilden, in den 1990er und 2000er Jahren aufgegeben und die autoritären Praktiken des demokratischen Zentralismus infrage gestellt. Die Parteischulen verschwanden oder verloren ihre Doppelfunktion als Bildungseinrichtungen. Nun ging es vor allem darum, junge Leute und Frauen für die Partei zu gewinnen. Die explizite Förderung von Arbeiter-Aktivisten stand fortan nicht mehr auf der Tagesordnung.
    Auf die früher in den Parteischulen ausgebildeten Arbeiterkader folgten Funktionäre, deren schulische, berufliche und parteipolitische Laufbahn eng mit der Kommune verbunden ist. Der französische Kommunismus überlebt heute im Dunstkreis lokaler Behörden und stützt sich nicht mehr wie früher auf gewerkschaftliche Netzwerke. 2013 erklärten 75 Prozent der Mitglieder, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, davon 23 Prozent in der kommunalen Verwaltung. Das gilt auch für die Spitze des Parteiapparats. Der letzte Generalsekretär, der aus der Gewerkschaft CGT kam, war Georges Marchais. Der gelernte Schlosser war Gewerkschaftssekretär, ehe er von 1970 bis 1994 an der Parteispitze stand.
    Danach kamen lauter Notabeln: Marchais’ Nachfolger, Robert Hue, war Bürgermeister von Montigny-lès-Cormeilles, Abgeordneter des Departements und der Region und Präsident der Nationalen Vereinigung der kommunistischen und republikanischen Abgeordneten. Marie-George Buffet, die Hue 2001 ablöste, war Angestellte im Rathaus von Plessis-Robinson, bevor sie Stadträtin einer anderen Gemeinde wurde und schließlich in den Regionalrat der Île-de-France gewählt wurde.
    Quelle: Le Monde diplomatique

    Hinweis: In der Januar-Ausgabe von Le Monde diplomatique wieder eine Reihe interessanter Beiträge, u.a.:

    • Das Land der Paschtunen
    • Im Land der begrenzten Gleichheit
    • Der Fall Mansir, Ein fehlgeschlagenes Attentat, ein Sündenbock und der Stand der Demokratie in Nigeria
    • Der Terror erreicht Kamerun, Boko Haram im nördlichen Grenzgebiet zu Nigeria
    • Sanktionen gegen einen Toten, Im sudanesischen Bürgerkrieg ergreift die UNO sinnlose Maßnahmen
    • Von wegen Naturprodukt, Genbaumwolle als globale Massenware
    • Eine pazifische Affäre
    • Willkommen in Japan
    • Die Paten von Rom, Korrupte Geschäfte mit der Versorgung von Flüchtlingen

    Le Monde diplomatique ab Donnerstag im Kiosk am Freitag als Beilage zur taz.

  18. Fukushima: Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle steigt weiter an
    In Fukushima wurden die neuesten Daten der Schilddrüsen-Reihenuntersuchungen veröffentlicht. Sie deuten erstmals auf einen Anstieg der Neuerkrankungen von Schilddrüsenkrebs bei japanischen Kindern hin. Im Rahmen des ersten “Screenings” wurde bereits bei 84 Kindern Schilddrüsenkrebs festgestellt, der zum Teil bereits Metastasen gebildet hatte. Bei ihnen mussten daraufhin Teile der Schilddrüsen operativ entfernt werden. Bei 24 weiteren Kindern liegen ebenfalls krebsverdächtige Biopsie-Befunde vor. All diese Fälle wurden von den Behörden in Japan bislang auf den sogenannten “Screeningeffekt”geschoben. Damit bezeichnet man die Beobachtung, dass bei Reihenuntersuchungen Krankheitsfälle gefunden werden, die klinisch noch keine Symptome gezeigt haben und erst zu einem späteren Zeitpunkt aufgefallen wären.
    Jetzt liegen allerdings die ersten Zahlen der Nachuntersuchung von Kindern vor, die bereits im ersten Screening erfasst worden waren. Bislang wurden 60.505 Kinder nachuntersucht und bei 57,8% Knoten oder Zysten gefunden. Im Erst-Screening lag diese Rate noch bei 48,5%. In konkreten Zahlen bedeutet das, dass bei 12.967 Kindern, bei denen im ersten Screening noch keine Anomalien gefunden wurden, nun Zysten oder Knoten festgestellt – bei 127 von ihnen sogar so große, dass eine weitere Abklärung dringend notwendig wurde.
    Quelle: IPPNW
  19. Das Letzte
    Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich zuversichtlich geäußert, dass Griechenland auch nach der vorgezogenen Parlamentswahl Ende Januar in der Eurozone bleibt. Sie habe ihr Handeln immer darauf ausgerichtet, sagte Merkel nach einem Treffen mit Großbritanniens Premierminister David Cameron in London. Merkel richtete ihre Botschaft explizit “an die Menschen und die Teilnehmer an den Märkten” – die auf das Aufkommen der Spekulationen am Samstag nervös reagiert hatten.
    Quelle: tagesschau.de

    Anmerkung WL: Es gibt eben zwei Klassen in der Demokratie: Die Menschen und die Teilnehmer an den Märkten. Und Letzteren hat man bei seiner Wahlentscheidung zu folgen – meint Merkel als Verfechterin der „markkonformen“ Demokratie.


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