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Titel: Ein Leserbrief von Dominik Weiß

Datum: 25. Februar 2015 um 14:16 Uhr
Rubrik: Leserbriefe
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Hans-Jürgen Mülln zeigt in seinem Leserbrief an die Nachdenkseiten, dass er selbst wenig nachdenklich immer wieder kolportierten Klischees über Religion anhängt. Täglich bemühen sich die Nachdenkseiten verdienstvoll darum, kruden Vereinfachungen die differenzierte Wirklichkeit gegenüberzustellen. Das sollte auch gegenüber populären, aber platten Darstellungen religiöser Traditionen geschehen.

Eigentlich bräuchte man gar nicht tiefer in die historischen Verdrehungen und Halbwahrheiten dieses Leserbriefs hinabtauchen, denn schon in seinem zweiten Absatz lässt Mülln seine eigene Beschwörung der „europäisch-aufklärerischen Traditionen“ in fragwürdigem Licht erscheinen. „Warum soll ich jemanden respektieren, der die Evolution leugnet, Homosexuelle am liebsten in Umerziehungslager stecken möchte, die Frau zum Menschen zweiter Klasse degradiert?“, so fragt Mülln.

Erstes Problem: Die drei von ihm aufgeführten Anklagen scheint Mülln – wer wollte es schon zu genau nehmen? – allen Anhängern „archaische[r] Weltanschauungen wie Religionen“ unterschieben zu wollen. Belege bleibt er schuldig. Die dürften auch schwerlich zu beschaffen sein. Weder der Islam noch die katholische Kirche noch die Mehrheit der protestantischen Christenheit leugnen die Evolution, was man schon bei oberflächlicher Beschäftigung mit der Materie schnell herausfinden könnte. Was religiöse Menschen mit Homosexuellen „am liebsten tun würden“, scheint Mülln genau zu wissen. Aber auch hier wird seine Phantasie der Realität wenig gerecht. Dazu der Katechismus der Katholischen Kirche: „Eine nicht geringe Anzahl von Männern und Frauen sind homosexuell veranlagt. Sie haben diese Veranlagung nicht selbst gewählt (…). Man hüte sich, sie in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen.“

Zweites und schwerwiegenderes Problem: Mülln fragt, warum man „jemanden“ respektieren solle, der die genannten Auffassungen teilt bzw. religiösen Überzeugungen anhängt. Nota bene: Die von Mülln selbst gewählte Formulierung spricht nicht vom Respekt gegenüber Überzeugungen, sondern gegenüber Menschen, die bestimmte Überzeugungen teilen. „Ich achte lieber die Würde des Menschen“, schreibt Mülln unter Berufung auf die Aufklärung. Nun dachte ich eigentlich, dass das Konzept der Menschenwürde sich genau dadurch auszeichnet, dass sie Respekt gegenüber jedem Menschen vorschreibt, auch gegenüber dem Andersdenkenden, selbst auch noch gegenüber dem schwer straffällig Gewordenen. Eine Grenze der Achtung vor dem Menschen scheint Mülln aber da ziehen zu wollen, wo es sich um religiöse Menschen handelt. Weltweit würde damit nach wie vor die große Mehrheit der Menschheit vom Recht auf respektvollen Umgang ausgenommen – Menschenwürde also nur noch für (überwiegend west- und mitteleuropäische) Atheisten und Agnostiker.

Von den zahllosen Halb- und Gar-nicht-Wahrheiten, die dieser Leserbrief auf kleinem Raum enthält, seien nur noch wenige kurz angerissen. So zeigt ein Blick in die Geschichte, dass es erst der Aufstieg des Christentums war, das sich angeblich „um das menschliche Wohlergehen ein Dreck“ schert, das in Europa eine systematische Armen- und Krankenfürsorge eingeführt hat. Im Römischen Reich hieß es da zuvor schlichtweg „Pech gehabt!“ Und was die die „jahrhundertelangen im Namen der Religionen begangenen Verfolgungen und Ermordungen von Freigeistern, Humanisten, Aufklärern, Intellektuellen, Wissenschaftlern und eben auch Satirikern“ angeht, auch da würde man sich doch ein paar Belege wünschen, die über die vage Berufung auf Karlheinz Deschner hinausgehen, dessen Werke bei (säkularen!) Fachhistorikern vorwiegend nicht als seriöse Geschichtsschreibung gelten. Um nur für das Christentum zu sprechen: Ideologisch motivierte Morde an Christen sind auch heute noch in vielen Weltgegenden an der Tagesordnung (sie waren es übrigens auch beispielsweise während der Französischen Revolution), nach religiös motivierten Morden von Christen wird man in der jüngeren Geschichte lange suchen können. Sie waren übrigens auch in der Vergangenheit weit seltener, als man das landläufig annimmt (vgl. dazu z.B. Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert).

Abschließend sei Müllns offensichtlich uninformiertem Gerede von erwachsenen Menschen, die „religiösen Märchen“ anhängen, ein Zitat eines anderen, eines nachdenklicheren Atheisten gegenübergestellt. Der renommierte serbisch-amerikanische Philosoph Thomas Nagel schreibt: „Ich will, dass der Atheismus recht hat. Und es verunsichert mich, dass einige der intelligentesten und gebildetsten Menschen, die ich kenne, gläubige Menschen sind.“ Auf dieser Grundlage ist ein Gespräch zwischen glaubenden und nichtglaubenden Menschen in gegenseitigem Respekt und Achtung der beiderseitigen Würde möglich. Denn auch darin darf ich Herrn Mülln beruhigen: „Wer Andersgläubige als Gottlose diffamiert und stigmatisiert“, brächte sich damit in eindeutigen Gegensatz zur Lehre zumindest der katholischen Kirche, denn Christen sollten in der Regel wissen, dass auch der Andersgläubige ohne Einschränkung Abbild Gottes ist.

Dominik Weiß, Diplom-Theologe


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