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Titel: Gestatten, Stettmer! Ich will Ihre tolle Mindestlohn-Analyse praktisch umsetzen!

Datum: 4. März 2016 um 9:56 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Denkfehler Wirtschaftsdebatte
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Eine häufige Behauptung der Neoliberalen lautet: Mindestlöhne führen zu mehr Arbeitslosigkeit, weil Unternehmen jene Mitarbeiter entlassen müssen, die den Mindestlohn von 8,50 Euro nicht erwirtschaften. Schließlich machen sie mit diesen “unproduktiven” Beschäftigten ja Verluste. Was aber, wenn ein Unternehmer um Hilfe bittet beim Versuch, die Wirtschaftlichkeit bzw. Produktivität seiner Mitarbeiter zu berechnen? Dann sind fünf – teils prominente – Volkswirte und Institutionen mit ihrem Latein am Ende, wie unser Gastautor Thorsten Wolff als imaginärer Café-Betreiber Klaus Stettmer von ihnen erfahren musste.

Werfen wir einen Blick zurück in die Zeit vor der Einführung des Mindestlohns in Deutschland. Der Präsident des renommierten DIW, Professor Marcel Fratzscher, war sich damals sicher:

Und da ist durchaus die Gefahr, dass – wir haben berechnet, 5,6 Millionen Menschen, die unter 8,50 Euro verdienen, dass nicht alle 5,6 Millionen Menschen wirklich einen Wert von 8,50 für ihr Unternehmen erwirtschaften. Und dann ist in der Tat die Gefahr groß, dass Unternehmen sagen, nein, wir können die Menschen nicht weiter beschäftigen, und die Arbeitslosigkeit steigt.

Wir verzeihen ihm die holprige Sprache, die der Live-Situation im Radio geschuldet ist. Viel spannender: Er hat berechnet! Und zwar den Wert, den 5,6 Mio. Niedriglöhner für ihre Unternehmen erwirtschaften. Für uns Grund genug, Professor Fratzscher einmal mit der betrieblichen Realität eines Café-Besitzers zu konfrontieren und ihn zu fragen: Wie berechnet man denn nun eigentlich den Wert, den beispielsweise eine Reinigungskraft erwirtschaftet? Und wer macht eigentlich sauber, wenn die Reinigungskraft entlassen werden muss, weil sie 8,50 Euro nicht erwirtschaftet?

Einzig, Professor Fratzscher war mit seiner Feststellung nicht alleine. Die neoliberale “Stiftung Marktwirtschaft” hat zwar nicht berechnet, wusste aber dennoch zu verkünden:

Es liegt auf der Hand, dass Arbeitnehmer nicht auf Dauer in einem marktwirtschaftlich agierenden Unternehmen beschäftigt werden können, wenn sie das Unternehmen mehr kosten als sie erwirtschaften. Übersteigt der zu zahlende Lohn die Produktivität, entsteht folglich Arbeitslosigkeit.

Und ähnlich hieß es bei DEHOGA, dem Unternehmens-Verband der deutschen Hotels und Gaststätten:

Mindestlöhne, die über der Produktivität der Schwachen auf dem Arbeitsmarkt liegen, sind nicht nur ökonomisch unsinnig, sondern auch unsozial, weil sie manche Hilfskräfte dauerhaft aus der legalen Arbeit verdrängen.

Der Volkswirt Professor Norbert Berthold von der Uni Würzburg gab zum Besten:

Es gibt aber auch Dinge, die ändern sich nie. Dazu zählt in Marktwirtschaften, dass sich der Einsatz von Arbeit für private Unternehmen rechnen muss. Die Kosten der Beschäftigung dürfen deren Erträge nicht übersteigen. Mindestlöhne schaden der Beschäftigung, wenn sie höher sind als die Produktivität der eingesetzten Arbeitnehmer.

Und der wissenschaftliche Mitarbeiter am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim, Martin Zecher, schrieb auf dem Blog der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (damals noch als Student):

Ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde garantiert dem Arbeitnehmer diese Vergütung, selbst wenn seine Produktivität unter diesem Wert liegt. Dies führt dazu, dass solche Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr dem Wirtschaftlichkeitsprinzip entsprechen und somit kurz- bis mittelfristig beendet werden.

Diesen drei Volkswirtschafts-Experten und zwei Institutionen haben wir am 13. Februar je eine naiv formulierte, freundliche E-Mail gesendet. Verfasst angeblich vom verzweifelten Betreiber eines Mühlheimer Cafés: von einem Herrn mit geringen Sympathien für seine fünf Beschäftigten, dafür aber mit umso größerer Abneigung gegen den Mindestlohn. Sein angeblicher Name: Klaus Stettmer – ein Kleinunternehmer mit konkreten Fragen zur Umsetzung neoliberaler Mindestlohn-Analysen in seinem betrieblichen Alltag. Die insgesamt fünf E-Mails unterschieden sich nur insofern voneinander, als wir sie in minimalem Umfang an die oben zitierten fünf Textpassagen angepasst haben. Sie lauteten in etwa wie folgt:

Sehr geehrte … ,

ich habe ihren tollen Artikel gelesen. Ich finde gut das sie vor dem Mindestlohn gewarnt haben. Der ist eine Gefahr für uns Unternehmer.

Sie haben gesagt das ein Arbeitnehmer nicht mehr lohnt wenn seine Produktivität unter 8,50 liegt. Nämlich hier: (Link). Dann muss das Unternehmen ihn entlassen. Da haben sie Recht!

Ich habe ein Café mit Bar in Mühlheim/Ruhr und der Gewinn davon ist seit dem Mindestlohn fast jeden Monat zurückgegangen. Ich habe jetzt weniger zum Leben und muss meinen Arbeitnehmern mehr bezahlen. Preise kann ich nicht erhöhen, bin eh schon der teuerste hier. Die Putzfrau verdient jetzt 8,50 Euro also fast zwei Euro mehr als vorher und das obwohl ich glaube sie arbeitet nicht immer die Zeit die im Vertrag steht. Sie ist bestimmt nicht für 8,50 produktiv aber ich weiß nicht wie ich das berechnen soll. Können sie mir da helfen. Außerdem weiß ich nicht wer hier putzen soll wenn die Putzfrau sich für mich nicht mehr lohnt.

Ich habe in der Kasse eine Software die berechnet wieviel meine Bedienungen erwirtschaften. Die wissen das nicht aber das hat mich mal interessiert. Das sind viel mehr als 8,50 nämlich so 40 pro Stunde oder sogar mehr. Ich bezahle denen aber eh schon 9 Euro weil sie mehr haben sollen als die Putzfrau. Aber die erwirtschaften auch viel mehr als die 9 Euro. Soll ich denen jetzt noch mehr zahlen weil sie ja viel produktiver sind? Dann hab ich selber ja aber noch weniger zum leben. Oder soll ich nur der Martina mehr zahlen die am meisten erwirtschaftet?

Außerdem hab ich eine Küchenhilfe bei großen Feiern oder am Wochenende. Die schält Kartoffeln und Karotten und machmal auch Äpfel aber Kuchen machen wir nicht mehr so oft selber. Woher weiß ich ob die für 8,50 produktiv ist.

Vielleicht können sie mir helfen.

Mit freundlichen Grüßen,

Klaus Stettmer

Konnten die drei Wissenschaftler und die zwei volkswirtschaftlich beschlagenen Institutionen dem Gastwirt helfen? Natürlich nicht, denn

  • die individuelle Produktivität/Wirtschaftlichkeit einer Reinigungskraft oder einer Küchenhilfe lässt sich schlicht nicht berechnen.
  • mindestens die Reinigungskraft ist zwingend notwendig, er kann sie nicht entlassen, egal wieviel sie verdient.
  • wenn der Cafébesitzer die Umsätze der Bedienungen zur Richtgröße für seine Löhne machen würde, wäre er rasch pleite, denn von welchem Geld sollte er dann Miete, Materialkosten und die Löhne der Reinigungskraft und der Küchenhilfe bezahlen?

Wir stellen also fest: Letztlich funktioniert ein Unternehmen anders, als die drei Volkswirte und die beiden Institutionen suggerieren. Es hat Einnahmen und Ausgaben; Entlassungen können die Ausgaben senken – entlassen wird also (unter anderem) dann, wenn die Ausgaben höher sind als die Einnahmen. Und wenn die Ausgaben (dennoch) dauerhaft die Einnahmen übersteigen, wird das Unternehmen pleitegehen. Ein produktiveres Unternehmen nimmt dann seine Marktanteile ein (und schafft entsprechend neue Arbeitsplätze). Entscheidend sind also die Produktivität und Wirtschaftlichkeit des ganzen Unternehmens, nicht die einzelner Mitarbeiter. Eine Berechnung, wie sie in den fünf Zitaten unterstellt wird, ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht weder möglich noch sinnvoll.

Welche Rückmeldungen hat unser Herr Stettmer nun aber bekommen? Die Professoren Fratzscher und Berthold sowie der INSM-Autor Zecher sind ihm eine Antwort schuldig geblieben – sicherlich ein Schweigen, das mehr sagt als tausend Worte. Freundliche Antworten kamen hingegen von der Stiftung Marktwirtschaft sowie DEHOGA. Wobei “Antworten” den Sachverhalt nicht wirklich trifft: Herrn Stettmers Fragen konnten sie nicht beantworten.

  • Beide, DEHOGA und Stiftung Marktwirtschaft, bitten Herrn Stettmer um Verständnis, dass sie sich zu betriebswirtschaftlichen und unternehmensspezifischen Fragen sowie zur Frage individuell angemessener Löhne leider nicht äußern können. Sie erklären aber nicht, weshalb sie dennoch öffentlich betriebswirtschaftliche Behauptungen über individuelle Löhne aufstellen, um den Mindestlohn zu diskreditieren.
  • DEHOGA verweist Herrn Stettmer auf Tarifverträge, um eine angemessene Lohnhöhe zu bestimmen. Zu Recht – aber: Damit räumt der Verband indirekt ein, dass die individuelle Berechnung der Wirtschaftlichkeit/Produktivität eines Arbeitnehmers nicht möglich und nicht sinnvoll ist. Schließlich legen Tarifverträge (unter anderem aus genau diesem Grund) Löhne kollektiv für ganze Beschäftigtengruppen fest.
  • Die Stiftung Marktwirtschaft erläutert dem Herrn Stettmer, dass es letztlich für ein Unternehmen darauf ankomme, ausreichend Gewinne zu erwirtschaften. Und zwar für ein Unternehmen als Ganzes. So weit, so richtig – damit räumt auch die Stiftung Marktwirtschaft indirekt ein, dass die individuelle Berechnung der Wirtschaftlichkeit/Produktivität eines Arbeitnehmers nicht möglich und nicht sinnvoll ist.


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