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Titel: Hinweise des Tages

Datum: 18. Juli 2016 um 8:31 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
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Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (CR/JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Türkei
  2. Nizza
  3. Zu viel der Freizügigkeit
  4. Billionaires bought Brexit – they are controlling our venal political system
  5. Ein vielbemühtes Monster
  6. CETA
  7. Was ist bloß mit Europas Banken los?
  8. Faule Kredite in Italiens Banken
  9. Goldman Sachs’ Verflechtung mit der Politik: Alles zum Wohl des Geldes
  10. Gabriel und die Merkwürdigkeiten
  11. Automatisch arbeitslos
  12. S21-Gegner präsentieren Alternativvorschlag
  13. Geld von Pharmakonzernen: Warum Ärzte schweigen
  14. Gerüchte über Flüchtlinge
  15. Überbürokratisiertes Monster
  16. Propaganda gegen RT Deutsch: Bundeszentrale für politische Bildung lässt ihrer Phantasie freien Lauf
  17. Wenn ARD und ZDF so arbeiten, werden sie nicht mehr gebraucht
  18. Love and Peace and Heuchelei

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Türkei
    1. Ein Putschversuch für Erdogan
      Der autoritäre türkische Präsident wird den Aufstandsversuch von Teilen des Militärs für eine Radikalisierung seines Kurses nutzen. Die demokratische Opposition ist der eigentliche Verlierer.
      Er führt Bürgerkrieg gegen die Kurden, er unterdrückt die Opposition und die freie Presse, er hat die Türkei auf einen Weg der Islamisierung gezwungen, er will die Verfassung in ein Instrument seiner Herrschaft verwandeln – es gibt nicht den geringsten Grund, in irgendeiner Weise den autoritären Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan politisch in Schutz zu nehmen.
      Der Aufstandsversuch von Teilen des Militärs allerdings wird ebensowenig etwas an der sich beschleunigenden Entwicklung des Landes in Richtung Autokratie ändern. Im Gegenteil: Unter dem Strich wird es ein Putschversuch nicht gegen, sondern für Erdogan gewesen sein.
      Natürlich: Wer nur mit ein bisschen Empathie in die Südosttürkei blickt, wer nur ein bisschen Verständnis für die verfolgten Journalisten und Politiker hat, wer nur ein bisschen mitfühlt mit den vielen, die mit ihrem Land auf der schiefen Ebene in den autoritären Maßnahmenstaat rutschen, der mag sogar in diesen dramatischen Stunden kurz daran gedacht haben, ob in dem Aufstand der Militärs die Möglichkeit einer Wende zum Besseren liegen könnte.
      Der Punkt aber ist: Eine Kursänderung in der Türkei ist nicht mit denselben Mitteln zu erreichen, die Erdogan gegen Demokratie und Öffentlichkeit in Stellung bringt. Ein Wandel, der kein demokratischer ist, wird keiner sein.
      Quelle: Tom Stohschneider im Neuen Deutschland
    2. “Der eigentliche Putsch beginnt jetzt erst”
      Ein Land in Angst und Schrecken. Erdogan gibt den Imperator. Ein dilettantischer Putsch. Was am Ende einer der blutigsten Nächte in der Geschichte der Türkei bleibt, ist ein übler Verdacht.
      Quelle: WELT
    3. Erfahrungsbericht aus Istanbul “Das war gewissermaßen Erdogans Reichstagsbrand”
      Der Berliner SPD-Abgeordnete Erol Özkaraca flog am Freitagabend mit seiner Familie nach Istanbul.(…)
      Die Menschen seien in Panik geraten. Von weitem habe er laute “Allahu Akbar”-Rufe gehört. “Allah ist groß.” “Die Frauen im Flughafen bekamen Angst und verhüllten ihre Körper.” (…)
      Zu den Gerüchten, wonach der türkische Präsident Erdogan den inzwischen niedergeschlagenen Putsch inszeniert habe, kann Özkaraca nichts sagen. “Aber das ist alles sehr merkwürdig. Aus der Historie betrachtet, wäre das Militär nicht so dilettantisch vorgegangen.” Diese Aktion, die eine
      relativ kleine Gruppe angezettelt habe, habe keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Auch habe der Geheimdienst von nichts gewusst. Für den 52-jährigen Politiker ist klar: “Für Erdogan ist die Wirkung positiv. Das war gewissermaßen sein Reichstagsbrand, der seine Macht stärkt.” Dem Ziel
      eines Präsidialsystems sei er näher gekommen. (…)
      Diese Enwicklung muss auch Konsequenzen für das Zusammenleben mit Muslimen in Berlin haben, fordert der SPD-Politiker, der seinen Wahlkreis in Neukölln hat. “In Berlin wird die Macht des politischen Islam unterschätzt”, sagt er. “Der gemäßigte Islam zeigt sich bei den Muslimen, die sich am wenigsten in Vereinen organisieren.” Statt mit solchen Vereinen Staatsverträge abzuschließen, wie es Pläne der SPD vorsehen, müssten Gesetze erlassen werden.
      Quelle: Berliner Zeitung

      Anmerkung Jens Berger: Der Vergleich zum Reichtagsbrand zwingt sich förmlich auf. Ob Erdogan den Putsch nun inszeniert oder “nur” clever ausgenutzt hat, wird die Zukunft zeigen. Erdogan ist auf jeden Fall der große Sieger dieses Wochenendes, die Demokratie in der Türkei ist der Verlierer.

      Ergänzende Anmerkung Christian Reimann: Der Eindruck, Präsident Erdogan könnte zumindest auf eine günstige Gelegenheit gewartet haben, drängt sich auf. Denn: Es werden nicht lediglich putschende Militärs, sondern auch recht schnell – am Samstagvormittag – etwa 3000 Militärangehörige und etwa ebenso viele Personen aus dem Justizwesen verhaftet. Ebenfalls rasch wurde mit dem in den USA lebenden Prediger Gülen ein Hauptverantwortlicher präsentiert.

      Dazu: Erdogan muss bereits eine “schwarze Liste” gehabt haben
      Die türkische Regierung beschuldigt die Gülen-Bewegung, hinter dem Putschversuch zu stecken. Und zieht Konsequenzen. 2745 Richter wurden vom Dienst suspendiert. Wie konnte das so schnell gehen?
      Quelle: Die Welt

    4. Droht jetzt die totale Erdogan-Diktatur?
      Während alle Welt das Scheitern des Putsches in der Türkei feiert, muss man sich um die Opposition im Land noch mehr Sorgen machen. War vielleicht alles eine Inszenierung, um die letzten Hürden für den Erdogan-Staat zu beseitigen?
      Die letzten Stunden zeigten, wie viele Fans der türkische Präsident Erdogan überall auf der Welt hat. Kaum war der dilettantisch geplante Putschversuch am Bosporus bekannt geworden, der bereits verloren war, als es Erdogan gelungen war, aus seinen Urlaub in die türkische Metropole zurückzukehren, lief die internationale Solidarität mit Erdogan an. Von der Nato über die USA bis zur EU stellten sich alle zentralen Organisationen bedingungslos hinter die türkische Regierung und feierten die Niederlage des Putsches als Sieg der Demokratie in der Türkei.
      Hat man nicht in den letzten Monaten ganz andere Töne aus der sogenannten westlichen Welt gehört? Da waren die gemäßigten Einschätzungen noch, dass sich unter Erdogan eine autoritäre Herrschaft herausgebildet hat. Zunehmend aber wurde auch von einem faschistischen Regime unter Erdogan gesprochen. Schließlich hat der Präsident immer wieder die eigene Verfassung gebrochen, ein Wahlergebnis, bei der seine AKP verloren hatte, nicht anerkannt, Neuwahlen erzwungen und dann einen Krieg gegen die kurdische Nationalbewegung und die gesamte demokratische Opposition begonnen.
      So hat er wieder eine Mehrheit im Parlament bekommen, um den Krieg gegen alle oppositionellen Kräfte fortzusetzen. Die Berichte über verhaftete Journalisten gingen um die Welt. Und nun, wo dieses Regime durch einen Militärputsch herausgefordert worden war, soll das alles vergessen sein?
      Quelle: Peter Nowak auf Telepolis
  2. Nizza
    1. Der sinnlose Tod: 14 juillet 2016 à Nice
      Der 14. Juli ist der Tag der Bastille. Es ist der Tag, an dem Frankreich feiert, dass das französische Volk sich 1789 von einem Willkür-Regime befreit und die ersten Schritte hin zu einer Republik gemacht hat. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit waren die Schlachtrufe dieser Revolution, die zum ersten Mal in der Geschichte dem Geist der Aufklärung ein politisches Mandat gab. Zwar wurden Liberté, Egalité, und Fraternité erst im Jahr 1848 von der sogenannten Zweiten Republik offiziell zum Wertekanon einer französischen Republik erklärt, aber der 14. Juli steht dafür wie kein anderer Tag.
      So war es sicher kein Zufall, dass der Attentäter von Nizza auf diesen Tag gewartet
      Genau deswegen sollten wir in einem solchen Moment innehalten. Wir müssen uns fragen, was wir selbst aus den Werten der Aufklärung gemacht haben. Die Freiheit, keine Frage, haben wir in den Himmel gehoben. Die Freiheit ist jedoch zum Fetisch einer Gesellschaft geworden, die der Gleichheit und der Brüderlichkeit endgültig abgeschworen hat. Weil sie das insgeheim spürt, besingt sie die vermeintliche Freiheit umso lauter. Nach einem solchen Attentat kann kein Politiker an einem Mikrophon vorbeigehen, ohne zu sagen, wie wichtig die „freiheitliche Gesellschaftsordnung“ ist und dass wir sie mit Zähnen und Klauen und offenem Krieg gegen den Terror verteidigen werden. Wann wird der erste sagen, dass wir auch die Gesellschaft der Gleichen verteidigen wollen oder dass uns die Brüderlichkeit ganz besonders am Herzen liegt?
      Keine Frage, die freiheitliche Gesellschaft in Europa, in Amerika und in den meisten Entwicklungsländern ist zu einer Gesellschaft der Ungleichheit und der Unbrüderlichkeit verkommen. Es interessiert diese Gesellschaft nicht, wie viele Menschen zu Hause und in der Welt auf Dauer bettelarm sind und jede Lebensperspektive verlieren. Es interessiert diese Gesellschaft nicht, wenn im Mittelmeer hunderte von Menschen ertrinken, die nichts anderes wollen, als der Perspektivlosigkeit ihrer Heimatländer zu entfliehen. Es interessiert diese Gesellschaft nicht, dass die Kontraste vor der eigenen Haustür von Tag zu Tag größer werden, wo die einen alles dürfen und können und die anderen nichts.
      Quelle: Heiner Flassbeck auf Makroskop
    2. Eine Frage zu Nizza
      Wenn der Täter keine Verbindung zu irgendeiner terroristischen Organisation hat. Wenn er kein Bekennerschreiben hinterlassen hat. Wenn er nicht einmal irgendwelche Parolen gerufen hat. Und das wissen wir – also ich jedenfalls – im Moment alles nicht. Was macht ihn dann zum Terroristen? Oder andersherum: Wo ist der Unterschied zum Amoklauf? Das Wort vom Terror ist ein politischer Begriff. Amok eher ein psychiatrischer.
      Wenn der Täter kein Muslim gewesen wäre, alle Welt würde von einem Amoklauf ausgehen. So wie er sich auch an deutschen Schulen schon ereignet hat.
      Nun war der Mann Muslim. Das Wort Terror ist sogleich in aller Munde.
      Selbst wenn es zuträfe: eine solche Tat ist, das leuchtet auf Anhieb ein, durch äussere Maßnahmen nicht zu verhindern. Keine Sicherheitsgesetze, keine Maßnahmen, keine Vorsorge kann verhindern, dass Einzelne mit Alltagsgegenständen andere Menschen töten.
      Wenn man aber eine solche Tat nicht verhindern kann, muss man ihrem Entstehen vorbeugen, Während des sogenannten “Malayischen Notfalls”, ein Fernost-Konflikt der 50er Jahre, sagte ein amerikanischer General, der Sieg werde nicht dadurch errungen, dass man mehr und mehr Soldaten in den Dschungel schicke, sondern indem man die Köpfe und die Herzen der Menschen erobere – hearts and minds, das wurde zum stehenden Begriff.
      Im sogenannten “Krieg gegen den Terror” wird bislang vor allem auf die Soldaten gesetzt. Frankreich hat unmittelbar nach Nizza angekündigt, seine Engagement im Nahen Osten zu verstärken. Das ist so vergeblich.
      Wann fängt der Westen an, den Kampf um die hearts and minds der Muslime zu führen?
      Quelle: Jakob Augstein via Facebook
  3. Zu viel der Freizügigkeit
    Merkel, Schulz und Juncker wurden zu Hassfiguren in Großbritannien, denn vieles roch nach deutschem Diktat. Die Lösung liegt nun in den Händen der schuldigen Kanzlerin, so Tom Bower
    Bei der Suche nach den Schuldigen für den Brexit nennen die meisten derjenigen Briten, die für den EU-Verbleib stimmten, die Namen Martin Schulz, Jean-Claude Juncker und vor allem Angela Merkel. Die EU-Befürworter sind davon überzeugt, dass das Votum gänzlich anders ausgefallen wäre, wenn diese drei nur ein Fünkchen echtes Verständnis für David Camerons dringenden Wunsch aufgebracht hätten, den britischen Wählern einen Reformvertrag vorzulegen, der diese Bezeichnung verdient. Das geschah aber nicht. So schuf das starrsinnige Trio leichtfertig die Voraussetzung für die britische Abkehr von der EU. Jetzt ist das Parlament in Aufruhr.
    Dieses Beben ist kein Symptom dafür, dass die altbekannte “englische Krankheit” wieder ausgebrochen wäre. Nein, es ist der unübersehbare Ausdruck dessen, dass eine Kombination aus britischer Arbeiterschicht und den Mittelschichten außerhalb Londons das Demokratiedefizit in Brüssel nicht mehr länger hinnimmt. Dieses Defizit hat durch Schulz’ befremdlich bombastisches Auftreten gegenüber England und Junckers angesäuselte Verachtung für Camerons Wählerschaft ein Gesicht bekommen. “Wir wollen unser Land zurück” sagten die, die für den Austritt gestimmt haben. Siebzehn Millionen Briten waren es satt, vom nicht gewählten Herrn Juncker gesagt zu bekommen, man habe gefälligst das Luxemburger Diktat über ihr Leben widerspruchslos zu akzeptieren. Sie waren der Tiraden des publicitysüchtigen Schulz überdrüssig, der in seinem schweren deutschen Akzent den Briten nahelegte, sich entweder klaglos in ihr Schicksal zu fügen oder zu gehen. Die Mehrheit jenseits von London macht sich Sorgen über die Einwanderung und fand einfach unerhört, wie Schulz und Juncker diese Sorgen beiseitewischten. Sie wollten nur noch raus, unbeschadet aller angedrohten finanziellen Folgen.
    Quelle: Tom Bower in der WELT
  4. Billionaires bought Brexit – they are controlling our venal political system
    Is this a democracy or is it a plutocracy? Between people and power is a filter through which decisions are made, a filter made of money. In the European referendum, remain won 46% of the money given and lent to the two sides (£20.4m) and 48% of the vote; leave won 54% of the money and 52% of the vote. This fearful symmetry should worry anyone who values democracy. Did the vote follow the money? Had the spending been the other way round, would the result have reflected that? These should not be questions you need to ask in a democracy.
    If spending has no impact, no one told the people running the campaigns: both sides worked furiously at raising funds, sometimes from gruesome people. The top donor was the stockbroker Peter Hargreaves, who gave £3.2m to Leave.eu. He explained his enthusiasm for leaving the EU thus: “It would be the biggest stimulus to get our butts in gear that we have ever had … We will get out there and we will be become incredibly successful because we will be insecure again. And insecurity is fantastic.”
    No one voted for such people, yet they are granted power over our lives. It is partly because the political system is widely perceived to be on sale that people have become so alienated. Paradoxically, political alienation appears to have boosted the leave vote. The leave campaign thrived on the public disgust generated by the system that helped it to win.
    If politics in Britain no longer serves the people, our funding system has a lot to do with it. While in most other European nations, political parties and campaigns are largely financed by the state, in Britain they are largely funded by millionaires, corporations and trade unions. Most people are not fools, and they rightly perceive that meaningful choices are being made in private, without democratic consent. Where there is meaning, there is no choice; where there is choice, there is no meaning.
    Politicians insist that donors have no influence on policy, but you would have to be daft to believe it. The fear of losing money is a constant anxiety, and consciously or subconsciously people with an instinct for self-preservation will adapt their policies to suit those most likely to fund them. Nor does it matter whether policies follow the money or money follows the policies: those whose proposals appeal to the purse-holders will find it easier to raise funds.
    Quelle: George Monbiot im Guardian
  5. Ein vielbemühtes Monster
    Die EU wird gern als undemokratisches Regime dargestellt. Der Brexit zeigt, welche Folgen solche Denkbilder haben können.
    Bei einer Debatte über die EU kommt immer dann die Stunde der Wahrheit, wenn die Diskutanten vom individuellen Thema – aktuell Brexit – zum Deutungsrahmen kommen, vor dessen Hintergrund sie ein Ereignis einordnen. Sahra Wagenknecht und Fabio de Masi schrieben kürzlich in einem Gastbeitrag für Zeit Online : „Der Brexit war kein Votum gegen Europa, sondern ein Votum gegen einen Brüsseler Club, der sich der Demokratie entzieht.“
    Das nennt sich „Framing“, also aktive Besetzung und Beeinflussung des Deutungsrahmens. Wer den Brexit verstehen möchte, muss sich anschauen, was es bedeutet, wenn sich fragwürdige Deutungsrahmen in einer Gesellschaft durchsetzen.
    Erstes Bild: Die EU und ihre „Eliten“ sind nicht Europa. Im zitierten Zeit-Online-Artikel wird gar im Titel behauptet, die real existierende EU zerstöre die „europäische Idee“. Im Vereinigten Königreich war dies während der Kampagne Standard: Boris Johnson hat ernsthaft argumentiert, ein echter Europäer müsse gegen diese EU sein. Dahinter lauert der Gedanke: Wenn nötig, müssen wir die falsche Juncker-EU erst mal eindampfen, um das echte Europa im eigenen Sinne zu verwirklichen. Soll heißen: je nach Ideologie sozialstaatlich (Wagenknechts Programm) oder eben als Paradies von Freihandel und nationaler Souveränität (Johnson). In jedem Fall sollen Volksentscheide „EU-Eliten“ entmachten.
    Das Gegenbild dazu unterschreiben hoffentlich noch viele Europäer: Diese EU und die Zähmung des Nationalismus sind eine einzigartige historische Leistung parlamentarischer Demokratien. Weder Wagenknecht noch Johnson haben eine zweite EU im Kofferraum. Und der positive Einfluss von Volksentscheiden ist beim Wiederaufbau höchst ungewiss.
    Quelle: taz

    Anmerkung unseres Lesers J.A.: Richtig ist natürlich, daß jede Gruppe – Neoliberale, Sozialstaatsverfechter, Demokraten – den Brexit in ihrem Sinne deuten und oftmals über- oder fehlinterpretieren. Und richig ist auch, daß viele der schlimmen Entwicklungen in Großbritannien Ergebnis der furchtbaren nationalen Politik sind, Stichwort Thatcherismus. Leider verweigert der Autor (Martin Unfried) selber einige grundlegende Einsichten vor allem in den mangelhaften demokratischen Status der EU. Die Kommission ist gleichzeitig Legislative und Exekutive, da fehlt eindeutig die Gewaltenteilung. Das EU-Parlament heißt zwar so, ist aber in Wahrheit kein Parlament, weil es kein gemeinsames europäisches Wahlvolk gibt, die Stimmengewichte krass verzerrt sind und das sogenannte Parlament kein Initiativrecht hat. Die Entscheidungen im EU-Ministerrat wiederum werden von der Exekutive und nicht von den demokratisch gewählten Parlamenten, der Nationalstaaten getroffen. Und die grundlegend neoliberale Einstellung der EU spätestens mit dem Vertrag von Maastricht, die schon alle toxischen Ingredienzien beinhaltet. den gnadenlosen Wettbewerb der Nationen, die Angebotspolitik mit radikalen Steuersenkungen für das Kapital, und die gewollte Massenarbeitslosigkeit, wird mal eben unterschlagen. Eine sehr einseitige Betrachtungsweise, mit der die katastrophalen Fehlentwicklungen und -entscheidungen auf EU-Ebene mal eben unter den Tisch gekehrt werden.

  6. CETA
    1. Bernd Lange zum Freihandel: Was CETA von TTIP unterscheidet
      Für TTIP sieht er wenig Chancen, doch bei CETA sollten alle mal in die Details schauen, wünscht sich Bernd Lange, Vorsitzender des EU-Handelsausschusses. Für ihn sind Arbeitnehmerrechte die Basis eines guten Freihandelsabkommens. (…)
      Bei Kanada ist es anders. Kanada ist deutlich anders aufgestellt als die USA und hat andere Interessen, die unseren Werten und Orientierungen entgegenkommen. Da liegt jetzt ein Text vor und in vielen Bereichen sind Dinge formuliert, die bei dem US-Abkommen wünschenswert wären, die die Amerikaner aber wahrscheinlich nicht unterschreiben würden.
      Zum Beispiel?
      Der faire Zugang für öffentliche Beschaffung (Einkäufe oder Beauftragung von Dienstleistungen durch öffentliche Auftraggeber, Anm. der Redaktion) auf beiden Seiten des Atlantiks ist ein Beispiel. Aber auch die Sicherung des geistigen Eigentums und der Verwertungsrechte von Künstlern. Ebenso die Anerkennung von geographischen Herkunftsbezeichnungen, da geht es etwa um den Champagner oder die Nürnberger Rostbratwürstchen. Oder der umfassende Ausnahmekatalog und Schutz der kulturellen Vielfalt, wie auch das klare Verbot des Handels mit Fleisch, das mit künstlichen Hormonen erzeugt worden ist. Alles das sind Dinge, die in unserem Sinne festgehalten wurden.
      An welchen Punkten machen Sie ein gutes, gelungenes Abkommen fest?
      Ganz wichtig sind für mich Arbeitnehmerrechte. Wenn wir Handel verstärken und regeln, setzen wir damit auch Zeichen für weitere Abkommen für den globalen Markt und für die Globalisierung insgesamt. Deshalb gehören fundamentale Arbeitnehmerrechte unmittelbar dazu, damit es eben keine unlauteren Wettbewerbsvorteile gibt und kein Sozialdumping Einzug halten kann.
      Das universelle Arbeitnehmergrundgesetz – die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO – gehört dazu. Dessen vernünftige Umsetzung ist für mich Hauptbestandteil eines guten Handelsabkommens.
      Kanada hat sich gesprächsbereit gezeigt und gerade eine weitere Kernarbeitsnorm ratifiziert.
      Genau, die Kernarbeitsnorm Nummer 138, die das Mindestalter für den Eintritt in das Erwerbsleben regelt. Und jetzt geht es um Nummer 98, kollektive Verhandlungen. Das steht noch aus, aber das EP wird CETA sicher nicht ratifizieren, bevor das nicht eingetütet ist.
      Quelle: vorwärts

      Anmerkung Christian Reimann: Ist das noch Naivität oder doch schon das „Sand in die Augen streuen“ bei Delegiertinnen und Delegierten des Parteikonvents am 19. September 2016 in Wolfsburg?

    2. Bayerische SPD-Mitglieder fordern: CETA stoppen!
      Lieber Sigmar,
      liebe Bundesvorstandsmitglieder der SPD,
      Juli 2016. Jetzt liegen die CETA-Texte ausformuliert auf dem Tisch.
      CETA hat nun Gestalt angenommen. CETA ist ein ausverhandeltes Freihandelsabkommen zwischen Europa und Kanada, das die maximale Liberalisierung der Märkte bei gleichzeitigem besonderen Schutz der Investoren bietet. CETA wird das Kräfteverhältnis auf beiden Seiten des Atlantiks zugunsten globaler Konzerne verschieben. Noch nie hat die Europäische Union solch ein umfassendes Handelsabkommen verhandelt. Der Mehrwert für die Gesellschaft, die Bürgerinnen und Bürger, ist fraglich, die Gefahren für die Demokratie hingegen sind groß. Für uns als Basis der SPD ist das Abkommen ein weiterer Schritt in die falsche Richtung.
      Aus unserer Perspektive bleiben daher vier mögliche Zeitfenster, um dieses Abkommen doch noch zu stoppen. Dabei zählen wir ganz besonders auf unseren Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel.
      Quelle: Klartext
  7. Was ist bloß mit Europas Banken los?
    Europas Grossbanken bereiten den Finanzmärkten Sorgen. Wieder einmal.
    Gegenwärtig sind es besonders die Banken in Italien, die – wie an dieser Stelle vor einer Woche im Detail beleuchtet – im Fokus stehen. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht neue Meldungen einer staatlich orchestrierten Hilfsaktion oder einer milliardenschweren Kapitalerhöhung von Instituten wie Unicredit oder Banca Monte dei Paschi kursieren.
    Doch es wäre falsch, das Thema bloss auf Italien einzugrenzen. Das gesamte Bankensystem in Europa wankt.
    Die Aktienkurse von Instituten wie der Deutschen Bank, den beiden französischen Grossbanken BNP Paribas und Société Générale, Spaniens Kolossen BBVA und Santander und auch von den Schweizer Vertreterinnen Credit Suisse und UBS haben im Verlauf der vergangenen Wochen und Monate enorme Verluste erlitten. Gleichzeitig sind die Preise für Kreditausfallversicherungen, sogenannter Credit Default Swaps, für diese Banken in die Höhe geschossen.
    Es ist, wie der frühere Präsident der Schweizerischen Nationalbank, Philipp Hildebrand, in diesem Interview gesagt hat: Europas Bankensystem steht unter grossem Stress. (…)
    Kein Geringerer als David Folkerts-Landau, Chefökonom der Deutschen Bank, forderte vor wenigen Tagen, dass Europas Grossbanken mit 150 Milliarden Euro an staatlichen Mitteln aufkapitalisiert werden müssten.
    Er hat recht. Ironisch ist an der Sache bloss, dass Folkerts-Landaus Arbeitgeberin selbst zu den global am schwächsten kapitalisierten Banken gehört. Der Internationale Währungsfonds hat die Deutsche Bank unlängst sogar zur riskantesten Bank der Welt gekürt.
    Wie kann es sein, dass Europas Grossbanken heute noch, mehr als sieben Jahre nach der schlimmsten Finanzkrise seit den 1930er-Jahren, unterkapitalisiert sind?
    Die Antwort liegt erstens in der Politik. Und zweitens im Verhalten der Banken. (…)
    Während all dieser Jahre verschlossen die Politiker in Europa die Augen vor der Tatsache, dass ihre eigenen Grossbanken zu schwach kapitalisiert sind und damit ein permanentes Systemrisiko darstellen.
    Die Manager dieser Banken standen kaum unter Druck, ihre Bilanzen proaktiv zu stärken – im Gegenteil: Sie haben zwischen 2010 und 2015 mehrere Hundert Milliarden Euro in Form von Dividenden an ihre Aktionäre ausgeschüttet.
    Quelle: Finanz und Wirtschaft

    Anmerkung unserer Leserin H.K.: Das permanente Systemrisiko stellt eine permanente Gefahr für Staaten, Volkswirtschaften, Bürger, Steuerzahler und Bankkunden dar. Diese vor allem – außer den „Finanzmärkten“ – fürchten sich vor einem wankenden, weil – nach der erst politisch losgetretenen Deregulierungswelle – viel zu schwach regulierten Finanz- und Bankensektor. Was sollen Bürger vom Gros der politischen Entscheidungsträger halten, die offenbar nicht mehr bereit sind, ihre ordnungspolitische Schutzfunktion gegenüber dem allgemeinen Wohl wirkungsvoll wahrzunehmen? Die Antwort liegt auf der Hand. Wenn Staaten und Demokratie in omnipotente „Märkte“ eingebettet sind statt umgekehrt, wird Demokratie vom Kapitalismus bestimmt und sukzessive ausgehöhlt. Die Plutonomy ist die überall sichtbare destruktive Machenschaft der neoliberalen Revolte. Die entfesselte Freiheit der „Märkte“ und des Kapitals führt zum Gegenteil dessen, was der „Neoliberalismus“ suggeriert: zur Erosion von freiheitlichen Bürgerrechten und Demokratie. Wirkmächtig wurde die neoliberale Demagogie durch den immer massiveren politischen Einfluß von Lobbyismus, welcher nichts anderes als Korruption in vielen Varianten bedeutet. An dieser Wurzel des Übels gilt es anzusetzen.

  8. Faule Kredite in Italiens Banken
    Ministerpräsident Matteo Renzi möchte den Geldhäusern des Landes helfen, aber die EU bremst
    In Italien, dem Land, das die Banken erfunden hat, kommt es zur Feuertaufe für die neuen Regeln der EU-Bankenaufsicht. Seit Anfang 2016 gelten in der Europäischen Union strengere Restriktionen für das Retten von Geldinstituten. Wenn eine Bank in Schwierigkeiten kommt, darf der Staat nicht mehr einfach zu Hilfe kommen. Erst wenn die Gläubiger des Instituts ihren Beitrag geleistet haben, darf ein Rettungsfonds angezapft und erst dann Steuergeld eingesetzt werden. Faire Lastenverteilung oder burden sharing nennen die Banken-Fachleute das. Doch der Teufel steckt im Detail, wie sich in Italien gerade deutlich zeigt.
    Dem drittgrößten Land der Euro-Zone drohe wieder eine Bankenkrise, ist derzeit oft zu lesen. Offenbar haben sich Großanleger seit dem Brexit-Referendum am 23. Juni auf der Suche nach einem ersten Opfer des „negativen sentiments“ als erstes auf Italiens Bankhäuser eingeschossen. Dabei ist dieser Prozess des „Vertrauensverlustes“ seit einiger Zeit im Gange. Die Unicredit, die größte Bank Italiens und über die Hypovereinsbank auch stark in Deutschland präsent, hat seit Herbst 2015 rund zwei Drittels ihres Börsenmarktwertes verloren.
    Quelle: Hintergrund
  9. Goldman Sachs’ Verflechtung mit der Politik: Alles zum Wohl des Geldes
    Der Einstieg von Ex-EU-Kommissionschef Barroso bei der US-Bank Goldman Sachs weckt Empörung. Dabei ist er dort in bester Gesellschaft. Die Verflechtungen des Geldhauses mit der Polit-Prominenz sind verblüffend eng.
    “Skandalös” findet es die französische Regierung, dass der ehemalige Präsident der EU-Kommission, der Portugiese José Manuel Barroso, nun einen neuen Job in der Londoner Niederlassung des amerikanischen Finanzmultis Goldman Sachs übernimmt. Mit dem Wechsel bereite Barroso den “Anti-Europäern” den Weg, sagte der französische Europastaatssekretär Harlem Désir am Mittwoch in der Nationalversammlung in Paris. “Ich rufe ihn deswegen feierlich auf, auf diesen Posten zu verzichten.”
    Frankreichs Regierung ist mit ihrer Empörung über den Wechsel des ehemaligen Top-Politikers nicht allein. Brüsseler Gewerkschafter fordern, ihm das “Übergangsgeld” von 15.000 Euro pro Monat zu streichen, das ihm die EU zum Abschied geschenkt hat. Denn Barroso habe keine Genehmigung seines alten Arbeitgebers für sein neues Engagement eingeholt.
    Aber das musste er auch nicht. Ein möglicher “Interessenkonflikt” gilt nach den Brüsseler Regeln nach 18 Monaten als überstanden. Und Barroso hat vor 20 Monaten sein Büro im Obergeschoss des gigantischen Berlaymont-Gebäudes geräumt. Formal ist also alles in Ordnung.
    Quelle: Spiegel Online

    Anmerkung Christian Reimann: Die NachDenkSeiten haben auf den Barroso-Wechsel hingewiesen.

  10. Gabriel und die Merkwürdigkeiten
    Hat sich Sigmar Gabriel bei der Fusion Tengelmann/Edeka grobe Schnitzer geleistet, die ihn und sein Ministeramt beschädigen? Er selbst bestreitet das – doch in den Akten, die WDR, NDR und “Süddeutscher Zeitung” vorliegen, finden sich Merkwürdigkeiten.
    Für Sigmar Gabriel waren es keine guten Wochen, es brannte an vielen Ecken. Doch selten brannte es so lichterloh in seinem Haus, dem Bundeswirtschaftsministerium, wie in dieser Woche: Das Oberlandesgericht in Düsseldorf urteilte eine von Gabriels kühnsten Entscheidungen seiner bisherigen Amtszeit mit harschen Worten ab und warf ihm schwere Fehler vor. Es ging um den Verkauf der 450 deutschen Kaiser’s-Tengelmann-Märkte an die Edeka-Gruppe. Das Kartellamt hatte den Deal verboten – der Minister erlaubte sie per sogenannter Ministererlaubnis trotz Bedenken gegen eine zu hohe Marktkonzentration. Und in dieser Woche bekam er dafür das, was Kommentatoren eine schallende Ohrfeige nannten.
    Der Vizekanzler, Wirtschaftsminister und SPD-Chef Gabriel ist jetzt schwer in Bedrängnis – juristisch wie politisch – weil manches, wie interne Vorgänge zeigen, kaum erklärbar ist. Die Akten zeigen: Tengelmann-Eigner Karl-Erivan Haub hatte bereits frühzeitig und vehement auf einen Termin bei Gabriel gedrängt, um ihn von den Vorteilen einer Fusion mit Edeka zu überzeugen. Seine Supermarktkette gehe davon aus, “dass Sie mit uns sprechen werden, wenn Sie Auflagen beabsichtigen sollten, so dass wir Ihnen auch die Folgen von Auflagen vor Augen führen können”, schrieb er am 26. August 2015 an Gabriel.
    Quelle: tagesschau.de

    Anmerkung Christian Reimann: Die NachDenkSeiten haben hier (mit einer Anmerkung) auf die fragwürdige Rolle des Bundeswirtschaftsministers in dieser Sache hingewiesen.

    Dazu: Fehlende Protokolle bringen Gabriel in Not

    • Von wichtigen Gesprächen zwischen Sigmar Gabriel und den Chefs von Edeka und Kaiser’s Tengelmann sind keine Protokolle vorhanden – dabei wird normalerweise jedes Treffen penibel dokumentiert.
    • Diese Nachlässigkeit hat dazu geführt, dass das Oberlandesgericht Gabriels Ministererlaubnis zur Edeka-Tengelmann-Fusion außer Kraft gesetzt hat.
    • Einige spekulieren mittlerweile bereits mit einer Zerschlangung des Kaiser’s Tengelmann-Reichs.

    Sigmar Gabriel und seine Beamten hätten gewarnt sein müssen. Hätten aufpassen müssen, dass alles seine Ordnung hat, bis ins kleinste Detail. Als der Wirtschaftsminister prüfte, ob die Supermarktketten Edeka und Tengelmann entgegen dem klaren Votum des Bundeskartellamtes zusammengehen dürften, lag längst ein Kurzgutachten aus dem Bundestag vor. Die Wissenschaftlichen Dienste des Parlaments hatten eigens zu diesem Fall aufgeschrieben, eine politische Entscheidung des Ministers lasse sich gerichtlich im Prinzip nicht angreifen. Im Prinzip – aber Verfahrensfehler seien sehr wohl überprüfbar. (…)
    Nach Darstellung von Gabriel und seinem Ministerium hatten mehrere Beamte an den Treffen mit Haub und Mosa teilgenommen. Von “Geheimgesprächen”, wie vom OLG Düsseldorf gerügt, könne keine Rede sein. Auf einen Vermerk habe man deshalb verzichten können. Die bittere Ironie: Wegen des fehlenden Protokolls kann das Ministerium vermutlich nun nicht mehr zweifelsfrei nachweisen, worum es bei den Terminen im Detail ging. Selbst dann nicht, wenn Gabriel die allerbesten Motive gehabt hätte.
    Quelle: Süddeutsche Zeitung

  11. Automatisch arbeitslos
    Über die Folgen der Automatisierung und den Mythos der Vollbeschäftigung […]
    Maschinen allerorten: Berlin, Ku’damm, McDonald’s. Die Kunden geben ihre Bestellung am Touchscreen auf, bezahlen sie am Automaten und holen sich am Verkaufstresen ihr Essen ab. McDonald’s streicht dadurch weltweit Hunderte der ohnehin sittenwidrig bezahlten Jobs. Computer und Roboter ersetzen am Menschen laufenden Band. Wir leben in einer Ära des Kapitalismus, in der die Produktivität der Arbeit dermaßen hoch ist, dass immer weniger Arbeitskräfte gebraucht werden.
    Das gleiche Spiel hatten wir bereits in der Landwirtschaft: In den heutigen Industrienationen haben einst 90 Prozent der Bevölkerung als Bauern gearbeitet, heute sind nur noch 2 Prozent in der Landwirtschaft tätig. Im Jahr 1900 erzeugte eine Bäuerin mit ihrer Arbeitskraft Nahrung für 4 Personen, 1950 konnte sie schon 10 Menschen ernähren, 2000 waren es aufgrund der Technisierung über 133 Menschen. In Japan hat die Firma Spread im Städtchen Kameoka eine Salatfarm eröffnet, in der Roboter den Salat wässern, umsetzen, schneiden, ernten und verpacken, nur angepflanzt wird noch von Menschenhand. Durch die Automatisierung haben sich die Lohnkosten halbiert, während die tägliche Produktion von 21000 auf 51000 Salatköpfe angestiegen ist.
    Adieu, Handarbeit. Willkommen, Maschine. Laut Statistischem Bundesamt erhöhte sich die Produktivität je Arbeitsstunde allein zwischen 1991 und 2011 um 34,8 Prozent. Bei der Präsentation des neuen Golf VI erklärte VW-Chef Martin Winterkorn 2008, dass die Produktivität im Vergleich zum Vorgängermodell um mehr als 15 Prozent gestiegen sei – er hätte auch sagen können, dass 15 Prozent der Lohnarbeiter gefeuert wurden. Die aktuelle Lage in Südeuropa – mit einer Jugendarbeitslosigkeit von teilweise über 50 Prozent – ist nur ein Vorgeschmack auf das große Job-Fressen, das uns noch bevorsteht.
    Quelle: Telepolis

    Anmerkung Albrecht Müller: Interessant. Aber warum sollte deshalb Vollbeschäftigung ein Mythos sein? Wer solche Thesen vertritt, der kann vermutlich an einem Tag, am Werktag, einen Artikel wie diesen hier bei Telepolis schreiben, und am anderen Tag, am Werktag, in einer Debatte über den demographischen Wandel und die angebliche Notwendigkeit, die gesetzliche Rente durch Privatvorsorge zu ersetzen, behaupten, es sei entsetzlich, dass immer weniger arbeitsfähige Leute für immer mehr Alte arbeiten müssen; das sei überhaupt nicht zu schaffen Wenn man beide gegensätzlichen Thesen nebeneinander stellt, dann kann man sich beruhigt in den Sessel zurücksetzen. Man muss allerdings die durch die Produktivitätsentwicklung bedingte Umstrukturierung fördern und die Menschen, die davon betroffen sind, sozial absichern.

  12. S21-Gegner präsentieren Alternativvorschlag
    Vor der Großkundgebung zu Stuttgart 21 am Samstag haben S21-Gegner einen Alternativvorschlag für den Umbau des Stuttgarter Hauptbahnhofs präsentiert.
    Vor der geplanten Großdemonstration gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 haben die Gegner am Freitag einen Alternativvorschlag präsentiert. In der bereits weitgehend ausgehobenen Baugrube für den Tiefbahnhof können sie sich einen Fernbusbahnhof und eine Park- und Radstation vorstellen, wie das Aktionsbündnis gegen das Milliardenvorhaben am Freitag mitteilte. Auf einem Gelände, auf dem aktuell die Baulogistik untergebracht ist, könnten demnach Wohnungen gebaut werden.
    Die Projektgegner sprechen sich schon seit langem für eine Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofs aus, anstelle des Baus der unterirdischen Durchgangsstation.
    Unterdessen bekam die Deutsche Bahn vom Eisenbahn-Bundesamt die Baufreigabe für den ersten Stuttgart-21-Abschnitt am Flughafen, wie das Unternehmen mitteilte. Dabei geht es um den Anschluss des Fildertunnels an den Airport. Bereits während des Planfeststellungsverfahrens sei mit den Vorbereitungen für Ausschreibungsarbeiten für die Rohbauarbeiten begonnen worden, um Zeit aufzuholen.
    Quelle: Stuttgarter-Zeitung.de
  13. Geld von Pharmakonzernen: Warum Ärzte schweigen
    Gut zwei Drittel der Ärzte wollen nicht offenlegen, wie viel Geld sie von der Pharmaindustrie bekommen. Was sind die Gründe für ihr Schweigen?
    Gut 71.000 Mediziner und Fachkreisangehörige haben im Jahr 2015 Zahlen von Pharmaunternehmen erhalten. Offenlegen wollten dies im Rahmen des Transparenzkodex nur rund 20.000 von ihnen. Mehr als zwei Drittel der Mediziner wollen also nicht preisgeben, dass sie Geld von der Pharmaindustrie bekommen.
    Wir haben Ärzte gefunden, die nachweislich Geld von Pharmaindustrie erhalten haben – sich aber weigerten, diese Daten veröffentlichen zu lassen. Was sind die Gründe für ihr Schweigen? Eine Umfrage unter Top-Ärzten:
    “Man kann mich mieten, aber nicht kaufen”
    Quelle: Spiegel Online
  14. Gerüchte über Flüchtlinge
    Gerüchte über vermeintlich kriminelle Flüchtlinge kursieren derzeit in ganz Deutschland. Sie sind oft nicht nur absurd, sondern vor allem brandgefährlich. Medienpädagogin Dr. Sabine Schiffer vom Institut für Medienverantwortung und Karolin Schwarz von hoaxmap erklären, wie Gerüchte entstehen und wodurch man sie entkräften kann.
    Flüchtlinge plündern angeblich Supermärkte. Frei erfunden. Sie schlachten Ziegen aus Streichelzoos. Eine Lüge. Die Männer bekommen Bordellgutscheine vom Staat gezahlt. Alles falsch. Abstruse Gerüchte wie diese geistern derzeit durch soziale Medien und sind fast an jeder Ecke zu hören. Egal wie abstrus die Schauermärchen über Flüchtlinge auch klingen, sie verbreiten sich rasant.
    Woher aber kommt die Bereitschaft in der breiten Bevölkerung, die absonderlichsten Geschichten einfach zu glauben ohne sie zu hinterfragen? Dr. Sabine Schiffer vom Institut für Medienverantwortung Berlin hat für dieses Phänomen eine Erklärung. Passe der Inhalt dieser “Nachrichten” dazu, wie man sowieso schon über etwas denke, tendiere man dazu, die Information als wahr zu erachten.
    Quelle: BR
  15. Überbürokratisiertes Monster
    Die Kultusminister und Hochschulrektoren wollen das System der Credit Points flexibler gestalten. In den gemachten Vorschlägen sieht zumindest Mathias Brodkorb, Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern, eher eine weitere Verschlimmerung. Ohnehin seien diese Beschlüsse nicht bindend, sagte er im DLF. Mehr Großzügigkeit in der Abschlussanerkennung könnte eine Lösung sein.
    Manfred Götzke: Die Bologna-Reform mit ihren Bachelor- und Masterstudiengängen hat man sich mal ausgedacht, um einen europäischen Hochschulraum zu schaffen, damit man problemlos von der Uni Valencia an die Uni Dortmund wechseln kann zum Beispiel. Tatsächlich ist es nicht leichter geworden zu wechseln, sondern fast unmöglich. Die Studiengänge sind zu verschult, das ganze System mit seinen Credit Points sehr bürokratisch. Jetzt haben sich Kultusminister und Hochschulrektoren entschlossen, den Bachelor zu reformieren und die Masterstudiengänge flexibler zu gestalten. Künftig soll nicht mehr das Punktesystem für Vergleichbarkeit sorgen, sondern die einzelnen Kompetenzen der Studierenden. Außerdem sollen Noten in den ersten beiden Semestern keine Rolle mehr spielen. (…)
    Mathias Brodkorb: Das kann ich überhaupt nicht erkennen, jedenfalls nicht durch den Beschluss, den die KMK jetzt gefasst hat, weil darin aus meiner Sicht eigentlich keinerlei bedeutende Inhalte enthalten sind.
    Götzke: Man kann aus diesem Papier, das ja heute veröffentlicht wurde, zumindest rauslesen, dass die Vergleichbarkeit, das Punktesystem, das ja mal geschaffen wurde, die sogenannten ECTS-Punkte, die sollen in Zukunft nicht mehr entscheidend sein. Stattdessen will man auf Kompetenzen schauen, also man könnte auch sagen, da geht man zurück zur Willkür von Diplom und Magister.
    Quelle: Deutschlandfunk

    Anmerkung Christian Reimann: Die NachDenkSeiten haben den Bologna-Prozess stets kritisch begleitet. Dazu zwei Beispiele:

    1. Jubiläum ohne Jubel – 10 Jahre Bologna
    2. Humboldts Begräbnis – Zehn Jahre Bologna-Prozess
  16. Propaganda gegen RT Deutsch: Bundeszentrale für politische Bildung lässt ihrer Phantasie freien Lauf
    Anfang Juni veröffentlichte die “Bundeszentrale für politische Bildung” eine “Analyse” über die angeblichen Aktivitäten von RT Deutsch. Der Autor phantasiert auf der Basis falscher Fakten eine politische Agenda unseres Mediums zusammen, um nachzuweisen, dass RT Deutsch politisch auf der rechten Seite spielt. Da die Bundeszentrale sich bisher nicht gewillt zeigt, unsere Gegendarstellung zu veröffentlichen, dokumentieren wir diese im Wortlaut.
    Quelle: RT Deutsch
  17. Wenn ARD und ZDF so arbeiten, werden sie nicht mehr gebraucht

    […] Am Freitagabend kam ich spät nach Hause und erfuhr, dass das Militär in der Türkei gegen Ministerpräsident Erdogan putscht. Kampfflugzeuge im Tiefflug über Istanbul, Panzer auf den Straßen, Schüsse, Tote, Verletzte… Und ich griff zur Fernbedienung. ARD? ZDF? Nichts zu diesem wichtigen Thema. Und die Türkei ist für uns nicht irgendein Land. Mehr als drei Millionen Türken leben hier bei uns in Deutschland. Die Türkei muss die Arbeit machen, um die fatale Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin in den Griff zu bekommen.
    Putsch in der Türkei ist etwas anderes als Island im Halbfinale
    Die Türkei will in die EU. Putsch in der Türkei – das ist etwas Anderes als Island im Halbfinale. Doch unsere Grundversorger, für die jeder Haushalt in Deutschland zahlen muss, auch wenn man es gar nicht will, versagt. Versagt? Ja, versagt! Acht Milliarden Euro stehen im Jahr zur Verfügung für die mediale Grundversorgung. Aber Freitagnachts um Eins macht jeder wohl seins, wie man in der DDR etwas abgewandelt sagte. Der öffentlich-rechtliche Kanal Phoenix, den ich eigentlich schätze, teilte gestern Abend per Twitter (!) allen Ernstes mit, man werde ab 9 Uhr Samstagmorgen über die Ereignisse in der Türkei berichten. Wahrscheinlich hält das die Redaktion dort auch noch für Service.
    Quelle: Focus

    Anmerkung Jens Berger: Dieses Wochenende war wahrlich kein Ruhmesblatt für die Öffentlich-Rechtlichen. Während auf Al Jazeera, CNN, BBC und Co. am Samstagmorgen bereits ausführlich über den Putschversuch berichtet wurde, kam in der ARD „motzgurke.tv“, im ZDF die tausendste Wiederholung von Lassie und der Nachrichtensender Phoenix amüsierte das ratlose Publikum mit der Naturdoku „Unter Eisbären“. Am Geld kann es ja nicht liegen, dass die ÖR-Sender derart unflexibel sind.

  18. Love and Peace and Heuchelei
    Applaus für Flüchtlinge am Bahnhof, »Ich bin für Flüchtlinge!« als Statement in den sozialen Netzwerken und fast alle wollen einen Nationalspieler als den netten Jungen von nebenan.
    Woher kommt diese Kuschel- oder Harmoniesucht? Und ist dieses Phänomen eine angemessene Reaktion auf die Engstirnigkeit von Gauleitern und montäglichen Spaziergängern? Verschleiert man damit nicht mehr als man aufdeckt? Unter Umständen ist es ja auch nur die andere Seite der Medaille, das nette Gesicht eines rassistischen Grundtenors. Und zugleich ist es ganz sicher Ausdruck individualistischer Imagekampagnen, die mit »Je suis [hier können Sie eintragen, was sie für den Augenblick zu einen guten und vorbildlichen Menschen macht]« ethische Tünche auftragen.
    Quelle: Jörg Wellbrock, Jens Berger und Roberto De Lapuente via YouTube


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