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Titel: Hinweise der Woche

Datum: 2. Juli 2017 um 9:30 Uhr
Rubrik: Hinweise des Tages
Verantwortlich:

Am Wochenende präsentieren wir Ihnen einen Überblick über die lohnenswertesten Beiträge, die wir im Laufe der vergangenen Woche in unseren Hinweisen des Tages für Sie gesammelt haben. Nehmen Sie sich ruhig auch die Zeit, unsere werktägliche Auswahl der Hinweise des Tages anzuschauen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (CW)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Muttis Rockzipfel
  2. Nato-Partner der USA erhöhen Verteidigungsausgaben um 4,3 Prozent
  3. Flüchtlingskrise überfordert Rom – und Berlin?
  4. Macrons Revolution
  5. Eine Generation verschwindet
  6. Nach TTIP: Das EU-Japan-Abkommen „JEFTA“ birgt Probleme
  7. Unrealistische Forderungen an Katar verraten die wahren Gründe der Blockade
  8. Bundestagsdebatte zum Armutsbericht: Armes Deutschland
  9. Freunde des Freihandels
  10. GSA Fleisch: Parlamentarisches Husarenstück oder Stückwerk?
  11. Bilanz des NSA-Untersuchungsausschusses: „Die Koalition hat ihre Mehrheit missbraucht“
  12. Machtlose Verbraucher vor Gericht
  13. Fifa zeigt brisanten Bericht zu WM-Vergaben
  14. Die vertraulichen Sprachregelungen der ARD
  15. Politische Ungleichheit programmiert
  16. Jeremy Corbyn at Glastonbury Festival (24/6/2017)

Vorbemerkung: Ursprünglich hatten wir geplant, in unserer Wochenübersicht auch auf die lohnendsten redaktionellen Beiträge der NachDenkSeiten zu verweisen. Wir haben jedoch schnell festgestellt, dass eine dafür nötige Vorauswahl immer damit verbunden ist, Ihnen wichtige Beiträge vorzuenthalten. Daher möchten wir Ihnen raten, am Wochenende doch einfach die Zeit zu nutzen, um sich unsere Beiträge der letzten Wochen (noch einmal) anzuschauen. Vielleicht finden Sie dabei ja noch den einen oder anderen Artikel, den es sich zu lesen lohnt. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Muttis Rockzipfel
    Wow, jetzt traut sich die SPD mal was. Sie will mit LINKEN und Grünen die in vielen Ländern selbstverständliche „Ehe für alle“ im Bundestag durchsetzen, nachdem “Mutti“ es praktisch erlaubt hat – weil sie sonst nach der Wahl keinen Koalitionspartner hätte und weil das eine Gewissensentscheidung sei. Aber steht nicht im Grundgesetz, Abgeordnete sind „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“? Merkel räumt jetzt indirekt ein, dass sie mit ihrer CDU jahrelang die Mehrheit ihrer Bundestagsabgeordneten genötigt hat, gegen ihr Gewissen zu handeln.
    Schon vor einem Jahr habe ich Schulz und Gabriel geraten, vor der Bundestagswahl mit LINKEN und Grünen deutliche soziale Verbesserungen für alle durchzusetzen, um die verloren gegangene Glaubwürdigkeit der SPD wieder herzustellen. Also: Bessere Renten für alle, höhere Löhne für alle, bessere Arbeitslosenversicherung für alle, bessere Gesundheitsversorgung für alle, existenzsichernde Arbeitsplätze (keine Leiharbeit, Werkverträge, Befristungen usw) für alle.
    Aber die SPD traut sich nicht. Sie weiß gar nicht mehr, wofür sie da ist. Statt vor der Wahl zu erklären, dass sie die von Schröder in Gang gesetzte Lohndrückerei und Rentenkürzung beenden will, lädt sie zu ihrem Parteitag ausgerechnet den Mann ein, der „den größten Sozialabbau nach dem Kriege“ (Faz) zu verantworten hat. Aber als Sozialabbau-Partei Deutschlands wird sie auch bei der kommenden Bundestagswahl keinen Blumentopf gewinnen.
    Und bis Mutti der SPD mehr soziale Gerechtigkeit erlaubt, darauf können Schulz, Gabriel und Co noch lange warten. Zeit für Gerechtigkeit? Es wäre Zeit, Muttis Rockzipfel loszulassen. Weil Mutti als marktkonforme Demokratin eine willfährige Magd des Neoliberalismus, sprich des Oligarchen-Kapitalismus ist. Aber ist soziale Gerechtigkeit nicht auch eine Gewissensfrage – weil wer arm ist, früher sterben muss?
    Quelle: Oskar Lafontaine via Facebook

    dazu: SPD: Aufmüpfig, wo’s wenig kostet
    Die SPD trumpft auf, wo es wenig kostet: Endlich hat man die Kanzlerin mal ausmanövriert bei der ‚Ehe für alle.‘
    Wie billig ist das denn? Bei der Autobahnprivatisierung, der klammheimlichen Durchsetzung von Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ oder bei der Trickserei des Finanzministers in Sachen Griechenland wäre Gelegenheit gewesen, Rückgrat zu zeigen. Doch was tat die SPD?! Sie beschaffte in jedem Fall die Mehrheit – für die Union. […]
    Dieses Verhalten der SPD macht nur dann Sinn, wenn man schon jetzt darauf spekuliert, auch nach der Bundestagswahl wieder den Juniorpart am Kabinettstisch von Frau Merkel einnehmen zu dürfen. Aus Sicht der Wähler ist dann allerdings – mit Sarah Wagenknecht – festzustellen: „Eine SPD, die nichts wesentlich anders machen will als die Union, braucht kein Mensch, …“
    Quelle: Cives

  2. Nato-Partner der USA erhöhen Verteidigungsausgaben um 4,3 Prozent
    Nach jüngsten Schätzungen der Nato werden die europäischen Alliierten und Kanada im laufenden Jahr rund zwölf Milliarden US-Dollar mehr für Verteidigung ausgeben als im letzten Jahr. Dies entspricht einem Plus von 4,3 Prozent.
    Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am Mittwochvormittag in Brüssel, es sei das dritte Jahr in Folge mit Fortschritten bei den Verteidigungsausgaben. Insgesamt seien aus Europa und Kanada seit der Trendwende rund 46 Milliarden US-Dollar zusätzliche Ausgaben gemeldet worden.
    Über die Verteidigungsausgaben gab es unter den Nato-Partnern zuletzt wieder öffentlich Streit. US-Präsident Donald Trump fordert, dass alle Bündnispartner spätestens von 2024 an jährlich mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für Verteidigung ausgeben sollen.
    Quelle: BRF

    Anmerkung Christian Reimann: Die Kritik an US-Präsident Trump u.a. durch Bundeskanzlerin Merkel scheint inszeniert. Letztlich scheinen die NATO-Mitglieder immer noch „nach der Pfeife der USA zu tanzen“.

    Anmerkung André Tautenhahn: Nicht nur die Kritik Merkels ist inszeniert, sondern auch die angebliche Ablehnung des 2-Prozent-Ziels durch die SPD. So hat das Kabinett gerade den Haushaltsentwurf 2018 beschlossen, in dem eine weitere Zunahme der Verteidigungsausgaben vereinbart ist. Außerdem hat das Kabinett beschlossen, dass auf das 2-Prozent-Ziel hinzuarbeiten sei. Der SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sagte dazu gestern im Bundestag, dass diese Zustimmung durch eine Protokollerklärung der SPD-Minister, in der es auch um die Höhe der Entwicklungshilfe gehe, mehr oder weniger relativiert worden sei. Geglaubt hat es ihm niemand. Der Fraktionschef der Union, Volker Kauder antwortete auf Oppermanns Darstellung wie folgt:

    „Nun kann man nicht argumentieren: Wir haben eine Protokollerklärung abgegeben, damit auch die anderen Mittel erhöht werden. – Meines Wissens hat die SPD keine Protokollerklärung abgegeben, dass sie das 2-Prozent-Ziel ablehnt.“

  3. Flüchtlingskrise überfordert Rom – und Berlin?
    Die Regierung in Rom habe die EU-Kommission informiert, dass mit den 22 Schiffen, die momentan mit 12.500 im Mittelmeer geretteten Migranten auf dem Weg nach Italien seien, die “Grenze der Nachhaltigkeit erreicht ist”.
    Parallel suchen die Italiener in Brüssel – Parlamentschef Tajani und die Außenbeauftragte Mogherini – nach einem Ausweg. Doch da meisten EU-Länder keine Flüchtlinge übernehmen wollen, droht ein Eklat.
    Nun rächt es sich, dass die EU auf die Phantom-Regierung in Libyen setzt, um die Flüchtlinge an der Überfahrt nach Italien zu hindern. Dafür gab es sogar einen Sonder-EU-Gipfel – ein Schlag ins Wasser.
    Es rächt sich auch, dass das gescheiterte Umverteilungs-System nicht längst reformiert wurde. Italien und Griechenland zu Wartesälen ohne Ausgang umzufunktionieren, war nie eine gute Idee.
    Doch wie sieht es eigentlich in Deutschland aus? Zufällig kommt gerade eine Meldung der OECD rein. Demnach wird für 2016 wieder eine Rekord-Zuwanderung ins größte EU-Land erwartet.
    “Deutschland steht im Zentrum der Migrationsdynamik in der OECD”, so ein Experte in Berlin. Etwa ein Drittel des OECD-weiten Anstiegs 2015 und 2016 sei auf Deutschland zurückzuführen.
    An Bedeutung gewinnen werde die Familienmigration. Diese Komponente werde bislang noch unterschätzt. Inzwischen sei auch jede neunte Hochzeit in Schland eine Heirat zwischen Ausländern und Deutschen.
    Aber wir schaffen das, oder?
    Quelle: Lost in Europe

    dazu: Die neuen Sklaven Europas
    In Italien, das mit großem Einsatz Migranten aufnimmt, werden dieselben Migranten gnadenlos ausgebeutet. Große Teile der Landwirtschaft leben von diesen Ausgebeuteten. Nicht nur in Süditalien – aber dort funktioniert das System besonders perfide.
    Quelle: Deutschlandfunk

    außerdem: Europäische Werte
    In einer erneuten Zuspitzung der deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr droht die Regierung Italiens mit der Sperrung ihrer Häfen für Rettungsboote mit Flüchtlingen an Bord. Man sei nicht bereit, weiterhin Flüchtlinge aufzunehmen, wenn die anderen EU-Staaten dabei keine angemessene Unterstützung leisteten, erklärt das Innenministerium in Rom. Weit davon entfernt, helfend einzugreifen, konzentriert sich Berlin weiterhin auf teure Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr; neben der libyschen Küstenwache sollen dazu künftig südlibysche Clans herangezogen werden, die bislang gegen Geld die Weiterreise aus Niger an die libysche Küste ermöglichten, jetzt aber – gegen Bezahlung aus Brüssel – Flüchtlinge systematisch aufgreifen und festsetzen sollen. Sowohl der libyschen Küstenwache wie auch südlibyschen Clans werden schwere Menschenrechtsverbrechen an Migranten vorgeworfen. In Kürze könnten Flüchtlinge es auch noch mit Faschisten aus Europa zu tun bekommen: Aktivisten der sogenannten „Identitären“, einer Modeströmung der extremen Rechten, wollen mit einem Schiff im Mittelmeer intervenieren – um dort Rettungsboote mit Flüchtlingen zu stoppen. Zugleich steigt die Zahl der auf der Überfahrt über das Mittelmeer umgekommenen Migranten weiterhin stark an; sie liegt nach Berechnungen von Flüchtlingsorganisationen, addiert man die Todesopfer der Jahre seit 2000, womöglich bereits bei mehr als 37.000.
    Quelle: German Foreign Policy

    und: „For sale“ – wie Flüchtlinge in Libyen zu Sklaven werden
    Einst war Libyen ein Eldorado für Migranten. Doch die Schlepper gehen immer brutaler mit denen um, die nach Europa wollen.
    Libyen war einst ein Eldorado für Migranten: Ein Zufluchtsort für Hunderttausende von Westafrikanern, auf dessen Baustellen, Ölfeldern oder Fabriken sie mit für ihre Verhältnisse traumhaften Gehältern rechnen konnten. Seit Muammar Gaddafis Regime vor sechs Jahren mit westlicher Hilfe aus der Macht gebombt wurde, ist aus dem Zufluchtsort jedoch eine Hölle geworden – mit immer grausameren Berichten über die Machenschaften von Menschenhändlern, die ihre Opfer als Sklaven verkaufen, in Bordellen halten oder unter Folter Geld von ihren Familien erpressen. Noch immer steuern Hunderttausende von Afrikanern auf der Suche nach Jobs den nordafrikanischen Staat an: Doch nur, um so schnell wie möglich nach Europa zu kommen – woran viele bereits in der südlibyschen Wüstenstadt Sabha auf schreckliche Weise scheitern.
    Quelle: Frankfurter Rundschau

    Anmerkung Albrecht Müller: Normalerweise gehen Medien, Politik und Öffentlichkeit mit der Ursache dafür, dass sich so viele Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa machen, verschleiernd um. Auch in diesem Bericht wird nur im ersten größeren Absatz erwähnt, dass die Flucht von 100 tausenden und der folgende Sklavenhandel und die Situation in Libyen die Folgen der westlichen Kriege sind, also direkt auf die Verantwortung der Regierungen in Frankreich, USA, Großbritannien, etc. zurückgeht.

  4. Macrons Revolution
    Emmanuel Macron greift zu einem ungewöhnlichen Mittel: Sein Kabinett hat an diesem Mittwoch ein Gesetz auf den Weg gebracht, mit dem das Parlament eine Art Vollmacht für den Umbau des Arbeitsmarkts ausstellt. Der französische Präsident und seine Regierung dürfen einzelne Reformen dann einfach per Dekret erlassen. Erst ganz am Schluss trifft das Parlament eine Alles-oder-nichts-Entscheidung: Entweder es stimmt dem gesamten Paket zu, oder es lehnt es ab.
    Dabei geht es Macron vor allem um Tempo. Bis zum Ende des Sommers will er das Arbeitsrecht umkrempeln. Den komplexeren Umbau der Sozialkassen will er bis Ende 2018 beenden. Für die Eile gibt es gute Gründe: Reformen auf dem Arbeitsmarkt zeigen erst mit einiger Verzögerung Ergebnisse. Will Macron die noch in seiner fünfjährigen Amtszeit erleben, muss er sofort beginnen.
    Schließlich ist es mit Abstand die wichtigste und heikelste Reform. Sie wird darüber entscheiden, ob seine Präsidentschaft ein Erfolg wird oder nicht. Denn der Arbeitsmarkt ist eines der vertracktesten Probleme Frankreichs – kaum eine Zustandsbeschreibung kommt ohne den Zusatz „verkrustet“ aus.
    Quelle: Spiegel Online

    Anmerkung Christian Reimann: Agenda 2010 bzw. Hartz IV auf Französisch mittels einem Teil-Ermächtigungsgesetz – alles nach deutschem Vorbild?

    Anmerkung André Tautenhahn: Schon erstaunlich, wie der Spiegel zu der Feststellung kommt, der Arbeitsmarkt sei eines der vertracktesten Probleme Frankreichs. Das Gegenteil ist richtig. Die Stundenproduktivität ist in Frankreich höher als in Deutschland. Das Problem ist das Lohn-Dumping hierzulande, durch das sich die deutsche Wirtschaft über Jahre hinweg einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil verschafft hat. Wollte Macron daran etwas ändern, müsste er vielmehr Deutschland auffordern, endlich Abschied von der falschen Agenda Politik zu nehmen, die zu enormen deutschen Exportüberschüssen geführt hat. Er müsste auch klar sagen, dass nicht Frankreich, sondern Deutschland die Stabilitätsregeln verletzt. Stattdessen will er in die entgegengesetzte Richtung und die deutsche Agenda kopieren, um wettbewerbsfähiger zu werden. Das wird scheitern.

    dazu: Der erste Test für den Erneuerer
    Die Reform soll Frankreichs Wirtschaft wieder in Schwung bringen und die hohe Arbeitslosigkeit, die zuletzt bei 9,5 Prozent lag, senken. Doch die Gewerkschaften sehen das anders, sie fürchten vor allem, dass die sozialen Rechte geschwächt werden. Die Gewerkschaften in Frankreich sind klein, aber schlagkräftig. Die CGT kündigte sogar schon einen Aktionstag an – allerdings erst am 12. September. Vorher sind Ferien, und Schüler und Studenten, die sich leicht mobilisieren lassen, schon längst an den Stränden. Zu vereinzelten Protesten kam es allerdings schon jetzt in Paris.
    Frankreich hat seinen eigenen Rhythmus, das weiß Macron. Deshalb hat er diese erste Reform geschickt auf den Sommer gelegt, in dem das Land lahmliegt. Strategisch kommt dazu, dass er die Reform per Verordnung besonders schnell durchsetzen will. Damit kann er den üblichen langwierigen Weg mit Beratungen und Änderungsanträgen im Parlament umgehen. Bei einer Verordnung entscheidet das Parlament nicht über jedes Detail, es legt nur Leitlinien fest. Im Kabinett wird dann über den Gesetzesentwurf entschieden, das Parlament stellt der Regierung eine Art Vollmacht aus. Das soll zwischen dem 24. und 28. Juli geschehen, mitten in der Urlaubszeit.
    Schon um den 20. September soll die Reform vom Ministerrat angenommen werden. Dann soll das Gesetz auch sofort zur Anwendung kommen, betonte Arbeitsministerin Muriel Pénicaud. Es bleibt also kaum Zeit für Proteste. Zum Schluss muss das Parlament noch einmal das Gesamtwerk ratifizieren, damit die Reform Gesetzeskraft erlangt, Details kommen nicht mehr zur Diskussion.
    Aber das dürfte bei Macrons breiter Parlamentsmehrheit ohnehin kein Thema sein. Kritiker, darunter die Gewerkschaften, halten das Verfahren, das in der französischen Verfassung in Paragraph 38 verankert ist, aber für undemokratisch.
    Quelle: Handelsblatt

    Anmerkung unseres Lesers J.A.: Merken die Journalisten eigentlich überhaupt nicht, dass das hier beschriebene Verfahren (nahezu vollständig) am Parlament vorbei mit Demokratie fast nichts mehr zu tun hat? Dass ähnliche Maßnahmen, wenn sie in Russland oder China verabschiedet werden würden, (zu Recht!) als „autoritär“ und „diktatorisch“ kritisiert werden würden? Dass die damit einhergehenden, geplanten Verschlechterungen des Lebensstandards der Mehrheit der Menschen wahrlich keine Werbung für Macron, die sogenannte parlamentarische Demokratie (es ist keine…) oder die sogenannte Marktwirtschaft (eher eine Herrschaft der Konzerne und der Großfinanz) darstellen?

    und: Emmanuel Macron: Charmant asozial
    Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will die Lebensverhältnisse der Franzosen verschlechtern. Warum genau wird er jetzt nochmal gefeiert?
    Die Geschichte, die uns derzeit erzählt wird, geht so: Ganz Europa hat gespart und sich reformiert und feiert einen Aufschwung. Ganz Europa? Nein. Ein Land verweigert sich der Modernisierung: Frankreich. Dort gibt der Staat mit vollen Händen aus, die Sozialleistungen sind üppig, das starre Arbeitsrecht fesselt die Innovationskraft der Unternehmen. Nun betritt der Heilsbringer die Bühne: Der jung-dynamische Präsident Emmanuel Macron wagt den Kampf gegen das alte System, das die Wirtschaft lähmt.
    Es ist bezeichnend für den Zustand Europas, dass hier ein ehemaliger Investmentbanker als Held und die Gewerkschaften als Gegner dargestellt werden. Und dass die Bevölkerung agitiert wird gegen die Institutionen, die für ihre Rechte als Arbeitnehmer kämpfen. Was verspricht Macron? Vor allem den Unternehmen sinkende Kosten. Er will Tarifverhandlungen auf die betriebliche Ebene verlagern, sprich: den Unternehmen erlauben, unter den bislang geltenden Standards zu bezahlen. Er will den Kündigungsschutz abschwächen, was den Unternehmen leichtere Entlassungen ermöglicht und den Druck auf die Beschäftigten erhöht. Gefordert wird auch eine Senkung des Mindestlohns sowie eine Abschaffung der 35-Stunden-Woche, was gleichbedeutend wäre mit der Abschaffung von Überstundenzuschlägen. Die Franzosen sollen billiger werden. Die Börsen feierten Macrons Sieg daher mit Kursaufschlägen. Dazu vier Anmerkungen.
    Quelle: FR Online

  5. Eine Generation verschwindet
    Wenn qualifizierte Arbeitskräfte und junge Wissenschaftler gehen: Eine ganze Generation verlässt den Balkan Richtung Deutschland – und findet auch dort kaum echte Chancen.
    Alle Länder in Südosteuropa, ob EU-Mitglied oder nicht, kämpfen gegen einen gewaltigen „Braindrain“ an, gegen die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte und Wissenschaftler. Aus Serbien, so der Belgrader Bevölkerungsforscher Vladimir Greic, sind in den letzten zwei Jahrzehnten 300 000 frisch ausgebildete junge Leute, darunter 40 000 Hochschulabsolventen, ins Ausland abgewandert – unter Mitnahme einer Qualifikation, die das verarmte Land rund zwölf Milliarden Euro gekostet hat. In Kroatien hat der Bildungsminister vorgeschlagen, von auswandernden Medizinern einen Teil der Studienkosten zurückzuverlangen.
    Die Hoffnung, dass die gebildeten Emigranten irgendwann „remigrieren“ und ihr Wissen und ihre Erfahrung zurück in die Heimat tragen, hat sich nicht erfüllt. „Sie kommen zurück und merken: Ich bin dreimal so gut wie mein Chef“, beobachtet Frank Hantke, der sich für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Tirana mit Arbeitskräften und Berufsausbildung beschäftigt. „Und dann gehen sie wieder.“ Genauso in Kroatien: „Die jungen Leute haben begriffen, dass ihre Arbeitskraft auf dem Balkan nicht geschätzt wird“, sagt die Migrationsforscherin Silva Mežnaric. „Deshalb organisieren sie sich ihr Leben woanders.“ Wie in allen Balkanländern gelten auch in Kroatien als wichtigste Qualifikationen erstens Verwandtschaft und zweitens Parteibuch.
    Tatsächlich geht nicht nur eine Bildungsschicht, es geht eher eine ganze Generation. Zurück bleiben die Alten. Kroatien mit seinen 1,2 Millionen Arbeitsplätzen verliert seit dem EU-Beitritt 2013 jährlich rund 25 000 Einwohner, immer häufiger ganze Familien. Dabei schwindet in allen Ländern der Region schon seit der Wende um das Jahr 1990 die Bevölkerung, zum kleineren Teil wegen der sinkenden Geburtenrate. Zum größeren Teil wegen der Emigration: Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung von Rumänien und Mazedonien leben dauerhaft im Ausland; Rumänen lassen sich vor allem in Italien, Spanien und Frankreich nieder. Von den Kosovaren lebt jeder zehnte allein in Deutschland.
    Quelle: FR
  6. Nach TTIP: Das EU-Japan-Abkommen „JEFTA“ birgt Probleme
    Nach Bekanntwerden des geheim verhandelten „JEFTA“-Abkommens zwischen der EU und Japan, werden Erinnerungen an TTIP und CETA wach. Es müsse jetzt darauf geachtet werden, dass die Verhandler aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, fordert der DGB-klartext. Die Verträge dürfen Umwelt und Beschäftigte nicht benachteiligen.
    Es kommt einem vor wie ein Déjà-vu: Fernsehberichte über Handelsverträge, die im Geheimen verhandelt werden, doppelseitige Artikel in großen Tageszeitungen, die die Problematik der Investitionsgerichtsbarkeit erklären, Diskussionen über das „Recht zu regulieren“, „Negativlisten“ und „Nachhaltigkeitskapitel“.
    Diesmal geht es aber nicht um TTIP und CETA, sondern um eine neue Abkürzung: JEFTA – das geplante EU-Freihandelsabkommen mit Japan. Obwohl die Verhandlungen fortgeschritten sind, war JEFTA bislang fast unbekannt. Der Grund: Wieder einmal wurden die meisten Unterlagen geheim gehalten. Und wieder einmal wurden Verhandlungsmandat und andere Dokumente erst durch die Umweltorganisation Greenpeace bekanntgemacht, die zufällig an die Papiere geriet. Man fragt sich, was die verhandelnde EU-Kommission aus ihren Fehlern bei TTIP und CETA gelernt hat.
    Quelle: DGB
  7. Unrealistische Forderungen an Katar verraten die wahren Gründe der Blockade
    Unter anderem auf Druck der USA wurde letzten Freitag Katar eine von Saudi-Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain zusammengestellte Liste mit dreizehn Forderungen übergeben. Die vier Staaten verlangen eine Umsetzung dieser Forderungen innerhalb der nächsten 10 Tage, um die Aufhebung der seit zwei Wochen andauernde Blockade zu erwirken. Im höchst unwahrscheinlichen Fall, dass Katar bei diesen Forderungen einwilligen sollte, würde die Einhaltung der Forderungen durch die vier Staaten im ersten Jahr monatlich, im zweiten Jahr vierteljährlich und in den darauf folgenden zehn Jahren jährlich überprüft werden. Faktisch käme diesem einen Souveränitätsverzicht gleich und ist nur schon von diesem Aspekt her kaum akzeptierbar. Angesichts dieser weitreichenden versuchten Einflussnahme der vier Staaten auf einen unabhängigen souveränen Staat mutet die aufgestellte Forderung, dass Katar sich zukünftig nicht mehr in die inneren Angelegenheiten der vier Staaten einmischen dürfe schon beinahe zynisch an. Außerdem solle Katar für die Folgen seiner Politik der letzten Jahre den vier Staaten Reparationszahlungen entrichten müssen, wobei keine Summe genannt wird. Die Liste der Forderungen zeigt deutlich auf, dass es den vier Staaten weniger um die Eindämmung des Terrorismus im Sinne westlicher Denkweise geht, sondern mehr um die Ausweitung ihres regionalen Machtanspruchs, der Disziplinierung Katars sowie dem Ausschalten oppositioneller Strömungen und regimekritischen Stimmen. Für den Fall, dass Katar den Forderungen nicht nachkommen sollte, werden jedoch keine weiteren Konsequenzen formuliert. Wahrscheinlich wäre eine dauerhafte diplomatische und wirtschaftliche Trennung — eine militärische Eskalation ist momentan jedoch eher unwahrscheinlich.
    Quelle: Offiziere.ch

    Anmerkung Christian Reimann: Michael Lüders steht also auch in dieser Frage keineswegs alleine mit seiner Analyse da: Lüders: „Konfrontation mit Katar ist pikant“.

  8. Bundestagsdebatte zum Armutsbericht: Armes Deutschland
    Jeder Sechste in Deutschland ist armutsgefährdet. Bei der Debatte um den Armutsbericht versucht die Koalition gar nicht mehr, Einigkeit vorzutäuschen.
    Nun also doch: Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist am Mittwoch im Bundestag zu bester Parlamentsfernsehenssendezeit diskutiert worden. Ursprünglich wollte die Unionsfraktion den immerhin 650-Seiten-starken Wälzer im Regierungsauftrag nämlich nicht zur Debatte stellen. Erst durch hartnäckige Nachfragen, insbesondere aus der Linksfraktion wurde das Thema auf die Tagesordnung gesetzt, wie Linken-Abgeordnete Katja Kipping süffisant erinnerte.
    Und tatsächlich steckt politischer Sprengstoff in dem Bericht: Obwohl die Wirtschaft brummt und die Arbeitslosigkeit niedrig ist, ist der Anteil der Menschen gewachsen, die weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens von gegenwärtig 20.342 Euro pro Jahr zur Verfügung haben. Das Medianeinkommen ist der Wert, welcher in der Mitte steht, wenn man alle Jahreseinkommen der Größe nach ordnet. 13 Millionen Menschen, also jeder Sechste, haben demnach nur 12.205 Euro im Jahr zur Verfügung und gelten als armutsgefährdet. 2,5 Millionen Kinder wachsen laut Bericht in armen Familien auf. […]
    Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles SPD bekannte sich in ihrer letzten Rede in dieser Legislatur zu dem Bericht, der in fünfter Folge von einer Bundesregierung in Auftrag gegeben und vorgestellt wurde. „Der Armut- und Reichtumsbericht bleibt richtig und wichtig“, so Nahles. Und natürlich gebe es noch viel zu tun. Aber da gibt es ja schon Ideen – das sozialdemokratische Wahlprogramm sei voll davon.
    Überhaupt ließ kein Redner, ob von SPD, Linkspartei oder Grünen, am Ende seiner Redezeit die Gelegenheit für einen kleinen Werbeblock aus, sprich den Verweis auf das eigene Wahlprogramm. Die SPD will in Bildung investieren und die sachgrundlose Befristung – nun also doch – abbauen, die Linke will eine Kindergrundsicherung einführen und eine Mindestrente, ähnlich wie die Grünen.
    Quelle: taz

    Anmerkung unseres Lesers J.A.: Es mag Dissens gegeben haben bei der Frage, ob und wie der Bericht vorgestellt wird – bei den *Fakten*, bei der realen *Politik* ist der Konsens groß. Alle Parteien der Großen Koalition haben sich seit Jahrzehnten fleißig für die soziale Spaltung, Reichtumsvermehrung und mehr Armut eingesetzt und tun das auch weiterhin. Alle Parteien gemeinsam sind und waren für „die Erhöhung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit“, sprich Lohnsenkungen und Sozialabbau, niedrigere Renten, Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (Hartz IV), sachgrundlose Befristung, Leiharbeit, Missbrauch von Werkverträgen, daneben unendliche Steuergeschenke an Konzerne (radikale Senkung der Körperschaftsteuer, Quasi-Abschaffung der Erbschaftsteuer), Privatisierung des Rechts (CETA, TTIP…) und der Infrastruktur (Autobahnen) usw. etc. pp. Diese Art der Einigkeit, der inneren Verbundenheit muss gar nicht vorgetäuscht werden, die ist einfach da. Dass angeblich jeder Sechste Mensch in Deutschland, darunter 2,5 Millionen Kinder, arm sind, ist grauenhaft, aber politisch gewollt. Die Zahlen halte ich ebenfalls für eine Untertreibung: arm ist man nicht erst mit 1.000 Euro im Monat. Und die taz entblödet sich auch nicht, weiteren großkoalitionären Konsens ungefiltert wiederzugeben: „Obwohl die Wirtschaft brummt und die Arbeitslosigkeit niedrig ist“ – bei 1,7 Prozent Wirtschaftswachstum und mindestens 4 Millionen Arbeitslosen ist diese Darstellung reinste Propaganda.

  9. Freunde des Freihandels
    Eine Informationsveranstaltung des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft belegt, dass Beamtenapparate inzwischen eine ideologische Agenda verfolgen, die mindestens zwei Drittel der Öffentlichkeit ablehnt. […]
    Da die Diskriminierung deutscher Produzenten durch ein protektionistisches Ausland offenbar die größte Sorge des BMEL ist, kommt man den Lobbyisten der Agrarbranche auch versichern: Man sei nach wie vor sehr an TTIP interessiert, ja man mache sogar regelrecht Druck in Washington. Der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Christian Schmidt, sei mit seinen guten transatlantischen Kontakten kürzlich persönlich da gewesen, weiß Jeub zu berichten.
    Mit Mexiko seien die Verhandlungen indes noch in einem sehr frühen Stadium. Ein Abschluss werde zwar bis Jahresende angestrebt, das sei die Aussage von Cecilia Malmström, der EU-Kommissarin für Handel, die die zentrale Ansprechpartnerin für TTIP ist. Mit ihrem Sinn für Realismus hält das BMEL dieses Ziel aber für überambitioniert. Bisher gab es drei Verhandlungsrunden, die vierte begann am 26. Juni.
    Bei Mercosur, dem gemeinsamen Markt Südamerikas, so erfährt man, verhält es sich ähnlich: Wie Merkel in Argentinien angekündigt hat, habe die EU die Absicht, noch 2017 zu einer politischen Einigung zu kommen. Doch auch hier gäbe es noch einige Hindernisse. Etwa die Beschwerden mehrerer EU-Mitgliedsstaaten darüber, dass die Kommission die Verhandlungen tatsächlich intransparent führe. Jeub aber kann das nicht bestätigen. Deutschland fühle sich bestens informiert und miteinbezogen. Und er gibt den Unzufriedenen gleich einen Rat mit: Sie müssten eben ihre Agrarleute in den handelspolitischen Ratsausschuss schicken, dann würden sie schon mitkriegen was läuft. Deutschland habe jedenfalls viele „offensive Interessen“ in Südamerika, die Nachfrage der dortigen wachsenden kaufkräftigen Mittelschichten zu decken.
    Doch worauf stützt das BMEL eigentlich seine Annahme, dass die deutschen Verbraucher unbedingt ganz viel mehr Agrarimporte aus Südamerika wollen, wo doch die Regionalität aktuell der Boom sei und nicht die Globalisierung der Agrarmärkte? Und warum glaubt das BMEL, dass es besser sei, wenn die kaufkräftigen südamerikanischen Mittelschichten Lebensmittel in Europa einkaufen statt bei lokalen Bauern?
    Auf diese Einwände wurde mit kompletten Unverständnis reagiert. Das seien grundsätzliche Fragen, die man hier nicht diskutieren wolle. Das BMEL achte allein darauf, dass deutsche Anbieter dieselben Chancen wie andere und deutsche Verbraucher ein umfassendes Angebot haben.
    Der Chef des BMEL-Außenhandelsausschusses ergänzt, Deutschland habe gesättigte Agrarmärkte und brauche keine zusätzlichen Importe. Der Verfall der Rohstoffpreise und die Krise in Brasilien dämpfe die dortige Kaufkraft zurzeit ohnehin, so dass die Auswirkungen eines Abkommens nicht so hoch seien. Das wiederum wirft postwendend die Frage auf, warum es ein Abkommen braucht, wenn es sowieso kaum Auswirkungen hat? Und wenn es doch Auswirkungen für unseren gesättigten Markt haben sollte, verdrängen zusätzliche Importe aus Südamerika mit Sicherheit heimische Erzeuger. Nur wäre das wohl wieder eine unerwünschte Grundsatzdiskussion.
    Quelle: Makroskop
  10. GSA Fleisch: Parlamentarisches Husarenstück oder Stückwerk?
    Überraschend verabschiedetes Gesetz soll Lohnraub in Schlachthöfen unterbinden (…)
    Nach GSA Fleisch sollen Firmen für Sozialabgabenbetrug ihrer Subunternehmer haften. Arbeitsmittel müssen vom Unternehmen gestellt werden und dürfen nicht vom Lohn abgezogen werden. Lohn muss in Euro ausgezahlt werden (anstatt in Essenmarken oder Säcken von Reis). Leistungen oder angebliche Leistungen der Unternehmer (wie Schlepperdienste, Unterbringung) dürfen nicht vom Lohn abgezogen werden. Ebenso dürfen keine konstruierten Strafbeträge abgezogen werden, um den Mindestlohn oder Tariflöhne der Branche mit Tricks zu unterlaufen. Die Stunden müssen genauestens dokumentiert werden. Bußgeld bis zu 30.000 beziehungsweise 50.000 Euro wird fällig, falls Stunden mangelhaft dokumentiert oder Sozialabgaben unterschlagen wurden. (…)
    Der katholische Priester Peter Kossen, der wie MdB Schiewerling im Bistum Münster beheimatet ist und sich seit Jahren mit der Fleisch-Mafia seiner Region anlegt, merkt an: »Das Gesetzesvorhaben weist in die richtige Richtung. Es greift allerdings zu kurz. Es braucht unbedingt einen Systemwechsel in der Fleischindustrie. Das Verhältnis: 20 Prozent Stammbelegschaft zu 80 Prozent Werkvertrags- und Leiharbeiter muss umgekehrt werden.«
    Außerdem verwies er auf die Untätigkeit der Behörden: »Gesetzliche Vorschriften sind nur so gut, wie sie kontrolliert und durchgesetzt werden. Dazu fehlt den zuständigen Behörden vielfach das Personal und die rechtliche Handhabe. Es bedarf einer Bündelung der Zuständigkeiten, verbunden mit der Möglichkeit, Verstöße direkt zu ahnden.« (…)
    Kritisch anzumerken bleibt außerdem: Das zu erwartende Bußgeld ist viel zu gering. Damit ein Gesetz ernst genommen und von Staatsanwaltschaften und Gerichten nicht als als Bagatelle behandelt wird, muss ein Vergehen in den Rang einer Straftat gehoben und der Strafrahmen in Relation zum Konzernumsatz deutlich erhöht werden.
    Allerdings sind vergleichbare Missstände in zahlreichen anderen Branchen zu finden: in Hotels, der Gebäudereinigung, in Vergnügungsparks, bei Bauunternehmen, in Paket- und Kurierdiensten oder Speditionen. Es scheint paradox und halbherzig, Arbeitsunrecht nur in einer Branche anzugehen. Aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. »Der Sumpf krimineller Subunternehmer muss ausgetrocknet werden«, so Kossen, »damit die weit verbreitete Ausbeutung und der Menschenhandel endlich ein Ende haben!«
    Quelle: arbeitsunrecht in deutschland

    Anmerkung Christian Reimann: Hätte insbesondere die SPD nicht längst die Chance ergreifen müssen, um auch in den genannten Branchen die Missstände abzuschaffen?

  11. Bilanz des NSA-Untersuchungsausschusses: „Die Koalition hat ihre Mehrheit missbraucht“
    Der NSA-Untersuchungsausschuss hat vieles über die Geheimdienste herausbekommen – die Verantwortung dafür wird aber niemand übernehmen, befürchtet Hans-Christian Ströbele (Grüne). Er sagte im Dlf, die Große Koalition habe ihre Mehrheit missbraucht, um sich schützend vor die Bundesregierung und die Dienste zu stellen. […]
    Meyer: Also Verfehlungen des BND. – Sie hatten als Zeuge mehrere hochkarätige Politiker, die Kanzlerin Merkel, den damaligen Kanzleramtschef Pofalla. Wird irgendjemand für diese Verfehlungen Verantwortung übernehmen?
    Ströbele: Ich fürchte, nein. Herr Pofalla ist ja inzwischen bei der Bundesbahn und auf dessen Karriere haben wir als Parlamentarier wenig Einfluss, zumal das jetzt eine völlig andere Tätigkeit ist als im Bundeskanzleramt. Er müsste eigentlich Verantwortung dafür übernehmen, zum Beispiel dafür, dass er im August 2013, wenige Wochen vor der damaligen Bundestagswahl das Ganze als erledigt erklärt hat, weil mit den Amerikanern ein No-Spy-, also Nicht-Ausspionier-Abkommen bald in der Tüte sei. Das sei in Arbeit und werde bald verabschiedet. In Wahrheit gab es das überhaupt nicht. Es gab auch kein Angebot dazu. Damit hat er versucht, die Luft rauszunehmen vor der Bundestagswahl, und das ist ihm auch gelungen. Aber es beruhte auf einer Unwahrheit.
    Quelle: Deutschlandfunk

    dazu: NSA-Untersuchungsausschuss: Patrick Sensburg wird Landesverräter wider Willen
    „Hochmut kommt vor dem Fall“ – und der gerät für den arroganten Vorsitzenden des NSA-Untersuchungsausschuss denkbar tief. Hatte Patrick Sensburg (CDU) sich letzte Woche noch mit erheblichen Geheimhaltungswünschen durchgesetzt und auch das Sondervotum der Oppositionsmitglieder schwärzen lassen, ist es ausgerechnet Sensburg zu verdanken, dass nun nahezu der gesamte Abschlussbericht mit etlichen Staatsgeheimnissen öffentlich ist – unfreiwillig. Geheimdienstuntersucher Sensburg hatte zum Schwärzen unerwünschter Zeilen im entsprechenden PFD ein unsicheres Verfahren verwenden lassen, das von den Hackern von netzpolitik.org offenbar ohne größere Mühen rückgängig gemacht werden konnte. (…) Seit dem Wochenende nun steht der 1.822 Seiten starke Abschlussbericht nahezu vollständig im Netz. Während die Veröffentlichungen von Dokumenten, die vor zwei Jahren zur „Netzpolitik-Affäre“ führten, zu diesem Zeitpunkt keine ernsthaften Staatsgeheimnisse mehr enthielten, dürfte Sensburgs unfreiwilliger Leak deutlich gravierender Natur sein. Zudem hatte Sensburg einerseits die Meinung der Oppositionsmitglieder von Linke und Grünen zensieren wollen, andererseits war der konservative Politiker selbst so frei gewesen, noch vor dem Abschlussbericht seine Heldentaten in einem Sachbuch zu vermarkten.
    Quelle: Telepolis

  12. Machtlose Verbraucher vor Gericht
    Verbraucherzentralen gehen bei rechtswidrigem Verhalten oft erfolgreich vor Gericht gegen Unternehmen vor. Doch viele Verbraucher haben davon nichts. Denn diese Klagen sind in der Regel nur auf Unterlassung ausgerichtet.
    Wenn es aber um die Rückzahlung der rechtswidrig erworbenen Gewinne an die Kunden geht, sind die Verbraucherschützer ohnmächtig. Das Bundesjustizministerium wollte das ändern, und zwar mit der Einführung einer Musterfeststellungsklage. Danach sollen sich Betroffene bei einer Klage der Verbraucherzentrale kostenlos in ein Register eintragen lassen können. Die Urteile wären dann auch für die Verbraucher wirksam. Probleme wie etwa Verjährung oder Kostenrisiko bei gerichtlichen Niederlagen könnten so gelöst werden.
    VW-Kunden, die wegen des Abgasskandals Schadensersatz geltend machen wollen, könnten beispielsweise von einer Musterfeststellungsklage profitieren, vorausgesetzt diese würde eingeführt, bevor die Ansprüche der VW-Kunden verjährt sind. Bisher muss in Deutschland grundsätzlich jeder Verbraucher alleine unter Umständen bis zur letzten Instanz klagen und bei einer Niederlage die Gerichtskosten tragen. (…)
    Doch die Musterfeststellungsklage kommt vorerst nicht. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Ulrich Kelber, SPD, wirft den Unionsparteien vor, einen stärkeren Verbraucherschutz in Deutschland zu verhindern. CDU und CSU betrieben „eine Verzögerungstaktik, um das Gesetz [zur Musterfeststellungsklage, Anm. d. Red.] insgesamt zu verhindern“. Kelber erklärte gegenüber Frontal 21, die Unionsfraktion im Bundestag habe erst im April konkrete Verbesserungsvorschläge zum lange vorliegenden Gesetzentwurf vorgelegt. Zu diesem Zeitpunkt sei längst klar gewesen, dass das Gesetz bis zum Ende der Legislaturperiode nicht mehr verabschiedet werden könne.
    Der Berichterstatter für die Unionsfraktion im Bundestag, Sebastian Steineke, bestreitet gegenüber Frontal 21 eine Verzögerungstaktik. Der Entwurf aus dem Justizministerium sei handwerklich schlecht. Die SPD sei nicht bereit, über Veränderungen zu verhandeln. Frontal 21 liegen interne Regierungsunterlagen vor, die einen massiven Widerstand der unionsgeführten Ministerien gegen den Entwurf aus dem SPD-Justizministerium belegen. So heißt es etwa aus dem Bundesinnenministerium, die vorgeschlagene Musterfeststellungsklage sei „unserem Rechtsschutzsystem fremd.“ Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt, CSU, schrieb handschriftlich auf ein Dokument, das die Musterfeststellungsklage für VW-Kunden vorschlug: „Lehnen wir ab!!! Komplett streichen!“
    Quelle: frontal21
  13. Fifa zeigt brisanten Bericht zu WM-Vergaben
    Seit 2014 lagen die Ergebnisse vor. Nach einem Leak veröffentlicht die Fifa aber nun erst den Garcia-Bericht und gibt damit Einblick in ihre Erkenntnisse zu der umstrittenen WM-Vergabe an Russland und Qatar.
    Nach mehrstündigen Beratungen und Dauertelefonaten zwischen Zürich und St. Petersburg hat die Fifa eine radikale Trendwende vollzogen und den Garcia-Bericht zur WM-Skandalvergabe an Russland und Qatar veröffentlicht. Der Fußball-Weltverband reagierte mit diesem überraschenden Manöver auf das erstmalige Durchsickern von Details des Reports in der „Bild“-Zeitung am Montagabend. „Im Sinne der Transparenz begrüßt die Fifa die Neuigkeit, dass dieser Bericht nun endlich veröffentlicht wurde“, hieß es einer Pressemitteilung. Damit solle „die Verbreitung irreführender Informationen“ verhindert werden.
    Quelle: FAZ
  14. Die vertraulichen Sprachregelungen der ARD
    Dass die ARD um die Brisanz ihrer Sprachregelungen weiß, macht eine Äußerung Gniffkes zur AfD deutlich. So teilte er im Herbst letzten Jahres eine Änderung der entsprechenden Richtlinie:

    Allerdings verzichten wir seit einiger Zeit darauf, bei jeder Nennung der AfD das Attribut ‚rechtspopulistisch‘ zum Parteinamen hinzuzufügen. Hintergrund dieser Vorgehensweise ist die Tatsache, dass die AfD nicht zuletzt aufgrund der zurückliegenden Landtagswahlen einen solch hohen Bekanntheitsgrad erreicht hat, dass es der permanenten Einordnung durch dieses Attribut nicht mehr bedarf, um den Zuschauerinnen und Zuschauern eine Orientierung zu ermöglichen.
    Zudem haben Teile unseres Publikums die permanente Nennung der ‚rechtspopulistischen AfD‘ als Versuch einer Bevormundung empfunden, der nicht dem Anspruch der Tagesschau entspricht. Wir stellen also fest, dass es bei einer Formulierung wie ‚die rechtspopulistische AfD‘ zwei sehr verschiedene Wahrnehmungen geben kann. Während die einen darin eine inhaltlich korrekte Orientierungshilfe für das Publikum sehen, nehmen es die anderen als einen unangebrachten Versuch der Beeinflussung wahr. Diesen Umstand haben wir in den vergangenen Monaten kritisch reflektiert und uns nun zu dem Verzicht auf die permanente Etikettierung entschlossen.
    Kai Gniffke

    Mit anderen Worten: Die ARD gibt einem politischen Akteur kein negativ gefärbtes Beiwort mehr, weil der Akteur inzwischen jedem bekannt ist, das Publikum der „Orientierung“ also nicht mehr „bedarf“. Man kann Gniffke hier kaum anders verstehen, als dass es am Ende eben doch um das Einsortieren eines als „negativ“ begriffenen Akteurs in eine Schublade geht.
    Der Knackpunkt dabei: Wiederum verwendet der Chefredakteur den Begriff „Einordnung“ anstelle von „Wertung“, ohne den Unterschied zu erklären. Alles fußt auf der Unterstellung, die „Einordnungen“ wären völlig wertneutral und sachlich. Doch der Übergang von der Einordnung zur Wertung ist eben fließend. Ergänzungen wie „rechtspopulistisch“, „Terrormiliz“ oder „Machthaber“ transportieren einen politischen Standpunkt dem Beschriebenen gegenüber.
    Unklar bleiben zudem die Kriterien, nach denen entschieden wird (von wem überhaupt?), ob ein Akteur ein solches negatives Attribut erhält. Der gesamte Prozess erscheint willkürlich, intransparent und weit weg vom öffentlich-rechtlichen Selbstverständnis.
    Quelle: Paul Schreyer auf Telepolis

  15. Politische Ungleichheit programmiert
    Mit eigenem Geld zum politischen Mandat: 90 Prozent der in einer Studie befragten Kandidaten haben im Bundestagswahlkampf 2013 privat investiert. Bernhard Weßels vom Wissenschaftszentrum Berlin erkennt darin ein Problem für die Demokratie.
    „Jeder Kandidat sollte Geld mitbringen, die Bereitschaft muss da sein, die Höhe, das kann dann jeder selber entscheiden, das kommt natürlich auch so ein bisschen auf die Gegebenheiten an. Was für ein Wahlkreis ist das, muss man viel aufwenden oder wenig?
    Der Landtagskandidat Björn Franken von der CDU in einem Bericht der ARD-Sendung Monitor.
    „So 20- bis 30.000 Euro kann man sicherlich rechnen.“
    Franken war bereit, für seinen Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen eigenes Geld zu investieren. Da ist er nicht der einzige. Nach einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin über die Bundestagswahl 2013 haben 90 Prozent der Kandidaten, die an der Befragung teilgenommen haben, eigenes Geld für den Wahlkampf eingesetzt.
    „Haben Sie mal etwas gemacht, von dem Sie überzeugt waren, dass es richtig ist?“
    Fragt Christian Lindner von der FDP in einem Wahlwerbespot. Wer als Kandidat von seinen Ideen überzeugt ist, für den muss es verlockend sein, möglichst viel in den Wahlkampf zu investieren. Denn je mehr investiert wird, desto höher sind die Chancen zu gewinnen. Aber die privaten Zuschüsse sind problematisch für eine Demokratie.
    Quelle: Deutschlandfunk Kultur

    Anmerkung JK: Ein viel größeres Problem dürfte allerdings der Superreichtum sein. Mit den aberwitzigen Vermögen der globalen Oligarchie lässt sich das politische Geschehen nach Belieben beeinflussen. Herausragendes negatives Beispiel sind die Koch-Brüder in den USA, die aberwitzige Summen in die Beeinflussung der US-amerikanischen Politik und der gesellschaftlichen Meinungsbildung investieren. Aber auch in Europa ist etwa der Multimilliardär Berlusconi, der sich einfach eine politische Bewegung nach seinem eigenen Gusto schuf, in schlechter Erinnerung. Auch hinter Macron steckt bei genauerem Hinsehen, die französische Oligarchie, vorneweg der reichste Mann Frankreich Bernard Arnault.

    Dazu auch:

  16. Jeremy Corbyn at Glastonbury Festival (24/6/2017)
    Let’s look to build a world of human rights, peace, justice and democracy all over the planet!
    Quelle: YouTube

    Anmerkung unseres Lesers J.J.: Wird das seit Jahrzehnten propagierte neoliberale „Alternativlos“ jetzt ausgerechnet in jenem westlichen Land begraben, in dem es zuerst seinen verheerenden Siegeszug antrat? Ein immer größerer und begeisterterer Teil der Bevölkerung in UK, getragen von den jungen Leuten, hat die Leitbotschaft der Labour Partei unter Corbyn offenbar sehr gut verinnerlicht: „For the many, not the few“.
    Die Labour Partei hat mittlerweile in den Umfragen die Konservativen überholt. Weiterer Spielraum ist gegeben, da die Wahlbeteiligung bei den jungen Menschen immer noch unterhalb jener der übrigen Bevölkerung liegt, doch ist es Corbyn, seinem Team und seiner Bewegung gelungen, diese bereits um eindrucksvolle 16 Prozentpunkte bei den 18-24jährigen während der letzten Wahl zu steigern. In UK scheint die Stimmung sich deutlich gegen das Establishment zu wenden.

    Anmerkung Jens Berger: Stellen Sie sich doch mal für einen Moment Martin Schulz bei Rock am Ring vor … geht nicht? Stimmt.


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