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Titel: Der „SPIEGEL“ verrührt etwas Export-Esoterik mit einem Schuss Querfront-Rhetorik und nennt das Ganze dann auch noch „Analyse“

Datum: 24. November 2018 um 11:45 Uhr
Rubrik: Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik
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Also, man hat sich ja mittlerweile schon daran gewöhnt, dass die Debatte um die deutschen Exportüberschüsse mehr durch Mythen, Märchen und Glaubenssätze geprägt ist als durch ökonomischen Sachverstand. Insofern ist es wohl auch vergebliche Liebesmüh’, jeder abweichenden Meinung mit rationalen Argumenten hinterherzujagen. Was allerdings in der Printausgabe des „SPIEGEL“ vom vergangenen Wochenende geschrieben steht, bedarf dann doch der Kommentierung. Konkret geht es um den Artikel „Bachblütenökonomie – Warum Deutschlands Handelsüberschüsse keine Arbeitslosigkeit verursachen“ des SPIEGEL-Redakteurs Christian Reiermann. Von Thomas Trares[*].

Dieser versucht nämlich dem Leser weiszumachen, dass Deutschlands Exportüberschüsse keine Arbeitslosigkeit verursachen und dass die negativen Auswirkungen eben jener Exportüberschüsse im Grunde nur die Erfindungen irrlichternder Populisten vom Schlage Donald Trumps und Oskar Lafontaines sind. Garniert wird das Ganze dann noch mit etwas Querfront-Rhetorik: „Es gilt die Hufeisentheorie: Linkes und rechtes politisches Spektrum kommen sich häufig sehr nah.“

Leider ist der Artikel online nur teilweise einsehbar[1]. Wer den vollständigen Text lesen will, muss also zur Printausgabe greifen oder die Bezahlschranke überwinden. Die Kernargumentation in dem Artikel ist folgende: Deutschland und die USA sind derzeit nahe der Vollbeschäftigung, die USA haben aber weltweit das höchste Handelsbilanzdefizit, Deutschland dagegen den höchsten Überschuss. Für Reiermann steht somit fest: die Frage, ob die Handelsbilanz im Plus oder im Minus ist, ist für die wirtschaftspolitische Debatte schlichtweg irrelevant. Konkret heißt es dazu in dem Artikel:

„Wenn es aber möglich ist, dass zwei Länder mit komplett gegensätzlichen Leistungsbilanzen wie Deutschland und die USA am Rande der Vollbeschäftigung operieren, dann drängt sich eine Erkenntnis auf: Leistungsbilanzsalden taugen nicht als Orientierungsgröße für wirtschaftspolitisches Handeln. Sie sind nicht viel mehr als Restgrößen, die sich aus Entscheidungen von Milliarden Verbrauchern auf dem ganzen Globus ergeben. Dass lässt nur einen Schluss zu: Es gibt drängendere Probleme zu lösen auf der Welt.“

Aha! Leistungsbilanzsalden sind also das Ergebnis individueller Entscheidungen überall auf der Welt, sie haben somit nichts mit der Entwicklung ökonomischer Größen wie Löhnen, Preisen, Einkommen oder Wechselkursen zu tun. So einfach ist das also! Darauf muss man ja erstmal kommen. Reiermann spricht in seinem Text übrigens von „Trumps und Lafontaines Bachblütenökonomie“, betreibt selbst aber mit obiger Aussage Export-Esoterik in Reinkultur. Getoppt wird das Ganze dann nur noch vom „SPIEGEL“, der diesen Text auch noch mit der Überschrift „Analyse“ versieht.

Beim Lesen des Artikels bekommt man dagegen so nach und nach den Eindruck, dass es Reiermann mit seiner Philippika vor allem darum geht, den „Populisten“ Trump und Lafontaine ein schlichtes und naives Verständnis von Ökonomie anzudichten. So etwa hier:

„Mit seiner Steuerreform hat er (Trump) für die US-Wirtschaft den Nachbrenner eingeschaltet, die ohnehin schon gute US-Konjunktur wird durch die Steuererleichterungen zusätzlich befeuert. Amerikanische Unternehmen und Verbraucher haben mehr Geld auf dem Konto, das sie zumindest zum Teil dafür verwenden, Güter aus dem Ausland zu ordern. Die Folge: Das Leistungsbilanzdefizit wird in diesem Jahr wahrscheinlich steigen. Hätten Trump und Lafontaine recht, müsste die Zahl der Beschäftigten gleichzeitig sinken. Doch das Gegenteil ist passiert: Im September erreichte die Arbeitslosenquote den niedrigsten Stand seit 1969, es herrscht fast Vollbeschäftigung.“

Oder hier:

„Auch der umgekehrte Fall widerspricht Trumps und Lafontaines Bachblütenökonomie: Würde die Bundesregierung ein brachiales Sparprogramm auflegen und die Konjunktur abwürgen, stiege zwar die Arbeitslosigkeit. Zugleich aber fiele der deutsche Leistungsbilanzüberschuss höher aus, weil die Deutschen weniger Geld hätten, um im Ausland einzukaufen. Ein Fall, den es nach Trumps und Lafontaines Weltsicht nicht geben dürfte.“

Das Problem dabei; nicht nur hier, sondern auch an vielen anderen Stellen wirkt Reiermanns Argumentation wirr, abstrus oder konstruiert. So etwa hier:

„Angenommen, jede Regierung strebte mit ihrer Politik Vollbeschäftigung an und wäre erfolgreich, dann müssten alle Länder Außenhandelsüberschüsse erwirtschaften.“

Oder hier:

„Eine Parallele aus dem Privatleben macht das deutlich: Fast jeder hat ein Handelsbilanzdefizit mit seinem Lebensmittelhändler, seinem Buchladen und seinem Getränkelieferanten. Der Grund liegt auf der Hand, jeder bezieht viel mehr Waren von ihnen als andersherum. Das ist so lange kein Problem, wie jeder seine Rechnungen bezahlen kann. Was passiert, wenn ein Kunde dieser drei Einzelhändler eine Gehaltserhöhung bekommt? Sein ganz privates Handelsbilanzdefizit wird weiter wachsen, gegenüber einem Juwelier beispielsweise, weil er sich nun endlich die teure mechanische Armbanduhr leisten kann. Geht es ihm deswegen schlechter? Eher nicht.“

Na gut, das muss man im Einzelnen nicht verstehen. Deswegen zum Schluss noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen:

Nicht jedes Defizit und jeder Überschuss im internationalen Handel stellen ein Problem dar, sondern sind etwas ganz Normales. Hier hat Reiermann sogar recht. Zu einem Problem werden sie aber vor allem dann, wenn sie lange andauern und exorbitant hoch sind. Dies ist bei Deutschland mit einem Exportüberschuss von inzwischen knapp 300 Milliarden Euro oder fast acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts nun einmal der Fall. Ein Problem sind die deutschen Exportüberschüsse aber weniger für die USA, sondern vielmehr für die Länder der Eurozone, wie etwa Italien, Griechenland und Frankreich. Denn diese können sich nicht mehr wie früher mit Abwertungen ihrer Währung gegen das deutsche Lohndumping schützen. Darauf geht Reiermann aber mit keinem Wort ein.

Darüber hinaus sei noch bemerkt, dass die USA in punkto Außenhandel weltweit ein Sonderfall sind. Denn sie haben nicht nur das höchste Defizit der Welt, sondern auch einen chronisch defizitären Außenhandel. Dies liegt zum einen an der Größe und Stärke der Binnenwirtschaft, aber vor allem auch daran, dass die USA mit dem Dollar die Reservewährung der Welt stellen. Dadurch ist die weltweite Nachfrage nach Dollar besonders hoch. Dies bringt den USA einige Vorteile, etwa einen günstigen Zugang zu den Finanzmärkten und eine stetige Nachfrage nach US-Staatsanleihen, die preisliche Wettbewerbsfähigkeit amerikanischer Produkte wird dadurch aber geschwächt.

Bereits 1959 wies der US-Ökonom Robert Triffin den US-Kongress darauf hin, dass ein Land, dessen Währung als globale Reservewährung fungiert, zwangsläufig Handelsdefizite anhäufen wird. Ein Phänomen, das seither als das „Triffin´s-Dilemma“ bekannt ist. Insofern sind die Handelsdefizite der USA kein neues Phänomen. Allerdings sind die Fehlbeträge der USA mit China und Deutschland besonders hoch, beides übrigens Länder, die sich mit Dumpingmaßnahmen Vorteile im internationalen Handel verschafft haben. Für Trump ist das natürlich ein gefundenes Fressen. Auch auf diese Zusammenhänge geht Reiermann in seiner „Analyse“ so gut wie gar nicht ein.

P.S.: Reiermann war übrigens vor zehn Jahren schon einmal Thema auf den „Nachdenkseiten“. Albrecht Müller kommentierte damals in den „Hinweisen des Tages“ (Hinweis #4):

„Eigentlich nicht lesenswert. Aber beispielhaft: Ein Dokument der Naivität und Ahnungslosigkeit oder blinder Gefolgschaft und Bereitschaft zur Agitation. Zugleich ein weiterer Beleg für den unfassbaren Niedergang des Spiegel. Übrigens in Kontinuität. Der Beitrag Reiermanns vom vergangenen Montag hatte eine ähnliche „Qualität“. Dass sich der Spiegel solche Mitarbeiter leistet, ist schon beachtlich.“

In dem Beitrag damals ging es übrigens auch um Oskar Lafontaine.

Dazu auch: Nachtrag zum Spiegel: Offenbar lernunfähig und zur weiteren Talfahrt entschlossen. Es gibt auf Dauer keinen Bedarf an einem unkritischen Mainstream-Spiegel


[«*] Thomas Trares ist Diplom-Volkswirt. Studiert hat er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Danach war er Redakteur bei der Nachrichtenagentur vwd. Seit über zehn Jahren arbeitet er als freier Wirtschaftsjournalist in Berlin.

[«1] magazin.spiegel.de – Bachblütenökonomie


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