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Titel: Medien ohne kritischen Verstand – ein Hauptproblem für unsere Demokratie

Datum: 15. Juli 2005 um 16:00 Uhr
Rubrik: Medienkritik, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Medien sind auch dafür da, durch kritische und aufklärende Begleitung des politischen Geschehens die Qualität der öffentlichen Debatte zu verbessern und so auch dazu beizutragen, dass die Qualität der politischen Entscheidungen einigermaßen stimmt. Gestern Abend wurden wir wieder einmal Zeugen, dass unsere Spitzenmedien diesem Anspruch auch nicht annähernd gerecht werden. Gabi Bauer (NDR) und ARD-Chefredakteur Hartmann von der Tann (SWR) befragten den WASG-Spitzenkandidaten Lafontaine. In ihren Fragen plapperten sie fast ausnahmslos die gängigen Parolen nach. Für mich ein erschreckendes Phänomen, zumal ich zumindest Gabi Bauer ganz sympathisch finde und Herr von der Tann immerhin ARD-Chefredakteur ist.

In den Fragen wurden die üblichen Glaubenssätze als unbestritten gültig wiedergegeben: Die Arbeitskosten, die Lohnnebenkosten und die Steuern seien zu hoch, deshalb wanderten die Betriebe und Spitzenverdiener ab; das wurde als das Hauptproblem dargestellt und Lafontaine wurde unterstellt, seine politische Gruppierung würde mit ihren Forderungen die Probleme verschärfen. Die beiden Spitzenkräfte der ARD machten den Eindruck, als seien sie vor der Sendung von Prof. Sinn gebrieft worden; sie hatten nicht präsent, was man inzwischen jeden Tag in deutschen Zeitungen lesen und sogar in ihrem eigenen Sender – wenig später – sehen und hören konnte:

  • Dass Deutschland bei der für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidenden Entwicklung der Lohnstückkosten weit unterhalb des Durchschnitts vergleichbarer Staaten liegt. In den NachDenkSeiten finden Sie dazu die einschlägigen Fakten; ich verweise zusätzlich auf einen Beitrag von Heiner Flassbeck für Financial Times Deutschland vom 7.7., den wir in der Rubrik „Andere interessante Beiträge“ einstellen.
  • Sie hatten nicht präsent, dass die Lohnkosten im Durchschnitt nur einen Anteil von 21% der Gesamtkosten ausmachen; und die Lohnnebenkosten einen Bruchteil davon.
  • Sie haben offenbar keine Ahnung davon, dass die hohe Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes inzwischen zum Problem für einige unserer europäischen Nachbarn wird, der USA sowieso.
  • Sie haben zur Abwanderung und zur Verlagerung von Betrieben und Unternehmen wie üblich (ohne weitere Belege) übertrieben, pars pro toto genommen.

Wenn das Bild über die deutsche Wirtschaft, das die beiden Spitzenvertreter der ARD in der Sendung mit Lafontaine vermittelt haben, stimmen würde, dann könnte es nicht zu einer Meldung kommen, die zweieinhalb Stunden später in den Tagesthemen über den gleichen Sender lief: Der Maschinenbau Deutschlands erreicht mit seinen Exporten inzwischen fast 20% des gesamten Welthandelsanteils; die Maschinenbau-Unternehmen konnten ihren Export um 12% auf 97,8 Milliarden steigern. Wenn Betriebe reihenweise verlagert würden, wenn das Kapital fliehen würde, wenn Deutschland wegen zu hoher Lohn- und Lohnnebenkosten nicht mehr wettbewerbsfähig wäre, dann wäre eine solche effektive und reale Leistung nicht möglich, dann könnte nicht jede fünfte Maschine auf der Welt aus Deutschland stammen. Die Tagesthemen zitierten auch noch einen Vertreter des Bankhauses Sal. Oppenheim: Die Wirtschafts- und Ertragskraft der deutschen Volkswirtschaft sei außerordentlich hoch.

Eines zumindest hätte man von den Spitzenkräften der ARD erwarten können: Dass sie sich erkundigen, was sonst noch über den Ticker läuft und in den Tagesthemen im gleichen Programm gesendet wird.


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