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Titel: Richard Sennett, Der Finanzkapitalismus zerstörte auch die Karriereträume

Datum: 12. November 2010 um 9:20 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, USA
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Inhalte eines im Economie-Dossier der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 3.11.2010 erschienenen Interviews mit dem Soziologen Richard Sennett, Professor an der London School of Economics und an der New York University.
Interviewfragesteller: Le Monde-Korrespondent Sylvain Cypel.
Originaltitel: „Le capitalisme financier a exterminé l’idée même de carrière“. Übertragen von Gerhard Kilper

Welche Auswirkungen hat Arbeitslosigkeit auf die Wahlen in den USA?
Mit steigender Arbeitslosigkeit wählen die Leute immer mehr rechts. Arbeitslosigkeit nährt Nostalgieträume von der Vergangenheit sicherer Arbeitsplätze, nicht existierender Arbeitslosigkeit und nicht existierender Angst vor Arbeitsplatzverlust. Während früher qualifizierte Arbeitnehmer-Handarbeit fundierte berufliche Kompetenzen erforderte, die ein Selbstwertgefühl vermittelten, verschlechterte sich inzwischen die Qualität der Arbeitsplätze gravierend. Die heute bei Walmart oder McDonalds angebotene Arbeit kann solche Selbstwert-Gefühle nicht mehr vermitteln. Zudem werden die jetzt geforderten Kenntnisse in neuen Technologien eher als Bedrohung angesehen. Allgemein ist die Anschauung verbreitet, gute Arbeitsplätze und der bisher gelebte Arbeitnehmer-Lebensstil gehörten der Vergangenheit an. Die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt verleitet jedenfalls zu Nostalgieträumen und zu Wut-Gefühlslagen.
Was eher wie eine irrationale Reaktion der Amerikaner aussieht, ist auf ihr Gefühl tiefer Lebens-Verunsicherung zurückzuführen. Die meisten Amerikaner sind derart im Überlebenskampf gefangen, dass ihr Denken nur noch um ihre persönliche Zukunft kreist. Die Oberschicht fühlt sich im neuen US-Kapitalismus stark und mächtig, die Masse der kleinen Leute lebt im Gefühl der Bedrohung. Angst aber ist immer auch die Ursache gesellschaftlicher Abschottung.
Mit dem Appell an seine Landsleute, keine Angst mehr zu haben, ließ sich Obama wählen. Doch die Schwierigkeiten der Beschäftigungspolitik wurden bald zum Mittelpunkt der amerikanischen Politik.

Entdeckt Amerika heute die strukturelle Arbeitslosigkeit?
Seit 2008 befragte ich viele amerikanische Arbeitslose. Zuerst berichteten sie mir von ihrer Traurigkeit, weil es ihren Kindern beruflich schlechter gehen werde als ihnen selbst. Mehr noch als Arbeitslosigkeit macht ihnen heute die allgemeine Verbreitung der Unterbeschäftigung Sorge. Arbeitnehmer sind in den USA arbeits- und sozialrechtlich so schlecht abgesichert, dass es immer mehr Leute gibt, die für Niedrigst-Lohn in kürzesten und flexibelsten Arbeitsverhältnissen arbeiten. So bildet sich in den USA ein Arbeitsmarkt heraus, in dem Prekarität zur Norm wird.
Die Fähigkeit bei einem Arbeitsplatzwechsel seinen sozialen Status zu verbessern, ist inzwischen gänzlich zum Mythos geworden, obwohl dieser Mythos immer noch in den Köpfen spukt. Der amerikanische Finanzkapitalismus ist dabei, die Berufs-Karriere-Träume zu zerstören. Statistischer Fakt ist: je mehr Qualitätsarbeitsplätze erhalten bleiben, desto widerstandsfähiger gegen Verschlechterungen ist auch die Gesellschaftsstruktur und je mehr die Arbeitsplatz-Qualität sinkt, desto mehr Unsicherheit breitet sich in der Gesellschaft aus.

Wie wirkt sich die in Gang befindliche Ent-Industrialisierung auf die Einstellungen der Amerikaner aus?
Die Leute haben ein bedrückendes Gefühl von gesellschaftlicher Schwäche und gesellschaftlichem Niedergang. Da es hier keine Kultur sozialer Treffpunkte außerhalb der Arbeit, keine Café- oder Pub-Kultur gibt, ist auch das Netz gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit in den USA schwächer geworden. Zwischenmenschliche Beziehungen verschlechtern sich bis in die Familien hinein.
Ein Kollege untersuchte, wie viel Zeit ein Durchschnittsamerikaner seiner Familie – zusammen essen, zusammen Spaß haben oder mit den Kindern Hausaufgaben machen – widmet: nur ein Drittel der Zeit, die ein West-Europäer mit der Familie verbringt.
Warum? Weil der Durchschnittsamerikaner oft zwei Jobs hat, auch weil immer mehr Jobs nur noch als Teilzeitjobs angeboten werden.
Ich selbst bin in einer weißen amerikanischen Arbeiterfamilie aufgewachsen, die Arbeitnehmerschaft ist „meine Familie“. Heute bei den amerikanischen Arbeitnehmern aufkommende rassistische Haltungen sind Ausdruck des Gefühls, die Kontrolle über die gesellschaftliche Umwelt verloren zu haben. Rassistische Einstellungen gab es in den Kämpfen um die Rassentrennung der 1960er / 70er- Jahre nicht, damals identifizierte man sich noch mit den Opfern.
Für die künftige Entwicklung in den USA ist noch nichts entschieden. Obama jedenfalls, ohne kulturelle Verankerung im Arbeitnehmer-Milieu und ohne Orientierung an Arbeitnehmer-Erwartungen, scheiterte beim Versuch, der amerikanischen Arbeitnehmerschaft zur gesellschaftlichen leadership zu verhelfen. Als selbst hoch Gekommener weckte er Hoffnungen, doch kann sich der Durchschnittsamerikaner schwerlich mit ihm identifizieren.
Eine ganz spezielle Besonderheit dominiert bis heute die amerikanische Politik: die Masse der Amerikaner findet eher an den Politikern Gefallen, die selbst kein Kompetenz-Vorbild sind.


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