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Titel: Die Begegnung und der öffentliche Raum werden zu Unrecht verteufelt

Datum: 4. Januar 2022 um 9:05 Uhr
Rubrik: Gesundheitspolitik
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Seit nunmehr fast zwei Jahren gilt das Zusammentreffen von Menschen als gefährlich, wird ein Großteil des Pandemiegeschehens im Gedränge von Einkaufsstraßen, Konzerten, in Schulen sowie generell in Innenräumen vermutet. Seit fast zwei Jahren gilt auch die strikte Selbstisolation im Falle eines positiven Testergebnisses als probates Mittel zum Schutz der Gesellschaft – sogar bei Minderjährigen und Pflegebedürftigen. Dabei zeigen international publizierte Kontaktverfolgungsstudien, dass ein deutliches Mehr an Begegnung möglich wäre.
Von Sandra Reuse.

Der Einzelhandel und viele Dienstleister, wie etwa Friseure und die Gastronomie, aber auch Kulturbetriebe mussten 2021 erneut auf ein florierendes Weihnachts- und Silvestergeschäft verzichten. Viele Hunderte Millionen Euro gingen dabei kleinen und mittelständischen Betrieben verloren bzw. landeten beim Onlinehandel, der jedoch überwiegend über Plattformen mit Sitz außerhalb Deutschlands, zumeist auch Europas, organisiert ist.

Aber ist der öffentliche Raum überhaupt ein relevanter Ort des Infektionsgeschehens? Kann ein gesund wirkender Mensch ohne Symptome todbringende Viren verbreiten? Und sind tatsächlich die Ungeimpften bedeutende Treiber der Pandemie?

Wo spielt sich das Infektionsgeschehen hauptsächlich ab? Was wissen wir überhaupt?

Trotz immenser Ausgaben zur Bekämpfung der Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen wissen wir immer noch erschreckend wenig darüber, wo und in welchen Zusammenhängen sich das Infektionsgeschehen hauptsächlich abspielt. Das liegt vor allem daran, dass sich Übertragungen oder auch „Spreading Events“ nicht „beobachten“ lassen – sie können nur im Nachhinein rekonstruiert werden. Dabei entstehen immer wieder Wissenslücken, die zu Fehlannahmen über die Notwendigkeit und Wirksamkeit von Maßnahmen führen können.

Werden Bürger in Deutschland positiv getestet, versuchen zumeist die Gesundheitsämter herauszufinden, mit wem und bei welcher Gelegenheit die Infizierten Kontakt hatten. Doch in Regionen bzw. Phasen mit hohen Inzidenzen war eine systematische Nachverfolgung oft nicht möglich, allein schon weil die personelle Ausstattung der zuständigen Behörden nicht gegeben war. Hinzu kommt, dass z.B. Restaurantbesitzer, Sportstudiobetreiber oder Schulleiter bzw. Lehrer Angaben über das Kontaktverhalten Dritter machten, die das tatsächliche Geschehen allenfalls näherungsweise abbilden können. Natürlich berichten auch befragte „Positive“ und ihre Kontaktpersonen nicht immer vollständig und wahrheitsgemäß, was sie gemacht und wen sie getroffen haben, weil sie z.B. Angst vor Strafe haben.

Dies kann zu Verzerrungen in der Wahrnehmung führen, wo und wie sich das Infektionsgeschehen tatsächlich abspielte. Die öffentliche Debatte in Deutschland ist seit fast zwei Jahren geprägt davon, dass ein Großteil der Virusverbreitung im öffentlichen Raum vermutet wird: in Geschäften und im Gedränge von Einkaufsstraßen, sowie vor allem in Schulen und generell in Innenräumen. Seit fast zwei Jahren gilt auch die strikte Selbstisolation im Falle eines positiven Testergebnisses als probates Mittel – ohne dass mit der gebotenen Sorgfalt geprüft wurde, ob nicht auch infizierte Personen unter gewissen Vorsichtsmaßnahmen am öffentlichen Leben teilhaben können. Für die Betroffenen führte das nicht selten zu großen seelischen Qualen mit teilweise nachhaltigen gesundheitlichen Konsequenzen. Einsamkeits- und Ausgrenzungserfahrungen, Suchtverhalten, Neurosen, Angstzustände bis hin zu schweren Depressionen gehören zu den Folgen. Hinzu kamen existenzielle Schwierigkeiten bei der Verfolgung einer Selbstständigkeit und Probleme, die eigene Familie und pflegebedürftige Angehörige zu versorgen. Das ist ein hoher Preis, den die Gesellschaft Millionen von Einzelnen aufgebürdet hat. War er und vor allem ist er, auch angesichts neuerer Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen, weiterhin gerechtfertigt?

Es gibt mittlerweile eine ganze Reihe systematischer Studien zur Verbreitung von SARS-CoV-2, die herausarbeiten, wo, wie und bei wem sich Menschen angesteckt haben und welche Art von Begegnungen wie riskant ist. Sie wurden allerdings größtenteils im Ausland durchgeführt und fanden – trotz Publikation in internationalen Fachmedien – in der deutschen Diskussion bislang kaum Berücksichtigung.

Gibt es ein relevantes Ansteckungsgeschehen an der frischen Luft?

Solche Fragen lassen sich damit eigentlich klar beantworten: Nein, so etwas wird durch Studien nicht belegt. Bis auf ein Restrisiko, das niemals auszuschließen ist – natürlich kann es passieren, dass eine Person einer anderen ins Gesicht niest oder hustet – kann man ziemlich sicher sein: An der frischen Luft besteht so gut wie keine Ansteckungsgefahr. Das gilt nach Studienlage vollkommen unabhängig von der Anzahl der versammelten Menschen und im übrigen auch dann, wenn keinerlei AHA-Regeln eingehalten werden.

Das ist das Ergebnis einer großangelegten internationalen Metaanalyse, die im Februar 2021 im Journal of Infectious Diseases veröffentlicht wurde. Im Rahmen dieser Arbeit wurden zehntausende von Studien zu Übertragungsereignissen in Innen- und Außenräumen zunächst auf die Qualität der Fallbeschreibung überprüft. In die weitere Analyse wurden ausschließlich Studien einbezogen, die ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen hatten. Insgesamt fanden sich so wenige Berichte über „Corona“-Außenübertragungen, dass auch Fallstudien zur Übertragung anderer respiratorischer Viren analysiert wurden, wie etwa Influenza-, Adeno- und Rhinoviren. Als Outdoor-Aktitivitäten wurden sowohl Arbeits- als auch Freizeit- und Feierzusammenhänge definiert.

Den Autoren der Metaanalyse zufolge, Bulfone et. al., kam es bei allen bis dahin vorliegenden Studien selbst bei eintägigen Massenveranstaltungen im Freien noch nie zu einem nennenswerten Übertragungsgeschehen von respiratorischen Viren. Bei mehrtägigen großen Veranstaltungen wie Festivals und Camps spielten sich die wenigen berichteten „Ausbrüche“ in Übernachtungskabinen oder z.B. bei der Zuganreise ab (Link)

Die Übertragungswahrscheinlichkeit an der frischen Luft wird nicht nur dadurch gemindert, dass ausgeatmete Viren und andere Partikel sehr viel schneller verweht werden, auch das UV-Licht verringert die Virus-Lebensdauer (natürlich nur am Tag). Untersuchungen, die eine mehrstündige bis sogar mehrtägige Viruslebensdauer auf Flächen nachwiesen, fanden unter Laborbedingungen statt und sind auf Außenbereiche mit u.a. ständig schwankenden Temperaturen nicht zu übertragen; zudem ist bis heute unklar, wie hoch die Viruslast sein muss, die für eine Ansteckung nötig ist.

Schlussfolgerung: Die Beschränkungen von Weihnachtsmärkten und Silvesterfeiern sowie der Teilnehmerzahl von Außenveranstaltungen aller Art sind nach wissenschaftlicher Literaturlage eigentlich nicht zu rechtfertigen. Dies gilt selbstverständlich auch für Demonstrationen.

Keine Evidenzbasierung gibt es auch für die Vorschrift, im Freien eine Maske zu tragen – ganz egal ob im Park, auf dem Parkplatz eines Discounters, auf dem Schulhof oder auf dem zugigen Bahnsteig im öffentlichen Nahverkehr.

Aber auch zum Übertragungsgeschehen in Innenräumen gibt es sehr viel detailliertere Erkenntnisse, als die aktuellen Maßnahmen vermuten lassen:

Wie intensiv muss eine Begegnung sein, um eine Übertragung wahrscheinlich zu machen?

In dieser durch die staatlichen Behörden offenbar rigide umgesetzten Kontaktverfolgungsstudie aus Singapur wurden gleich zu Anfang der Pandemie insgesamt 1114 nachweislich infizierte Personen und 7770 enge Kontakte befragt und untersucht. Darunter waren 1863 Haushaltskontakte, 2319 Arbeitskontakte und 3588 „Sozialkontakte“. Im Schnitt hatte jede infizierte Person rund 7 Kontakte. Von den 7700 engen Kontakten hatten sich 97 Prozent nicht angesteckt.

Die 188 Zweitinfizierten wurden eingehend befragt und es ergab sich, dass die so genannte „secondary attack rate“ mit 5 bis 9 % am höchsten im gemeinsamen Haushalt war, gefolgt von jeweils 1-3 % bei Arbeitskontakten wie bei Kontakten im sozialen Umfeld. Als risikosteigernd bei den Haushaltskontakten wirkten sich das gemeinsame Schlafen in einem Zimmer sowie längere Gespräche über 30 Minuten aus. Bei Kontakten zwischen Freunden oder Bekannten erhöhte sich das Übertragungsrisiko vor allem durch das Zusammensein mit mehreren Infizierten, durch gemeinsame Autofahrten, sowie wiederum durch längere Gespräche über 30 Minuten. Das gemeinsame Einnehmen einer Mahlzeit, die gleichzeitige Nutzung von Wasch- bzw. Toilettenräumen oder ein zufälliges Zusammentreffen wurden hingegen nicht als risikosteigernd identifiziert.

Daraus lässt sich schließen, das vor allem intensivere Kontakte mit einer infizierten Person das Übertragungsrisiko steigern, keinesfalls jedoch jegliche Art von Zusammenkunft. Dazu scheinen vor allem längere Gespräche ohne Abstand oder aber auch Körperkontakte zu gehören, wie sie dem Vernehmen nach vor allem bei Erwachsenen beim gemeinsamen Schlafen gelegentlich stattfinden sollen. Das bloße Zusammensein im gleichen Raum, die Begegnung im Waschraum, ja nicht einmal das gemeinsame Leben in derselben Wohnung scheint das Infektionsrisiko signifikant zu steigern.

International publizierte Haushaltsstudien, bei denen alle Mitbewohner einer erstinfizierten Person in verschiedenen zeitlichen Abständen getestet wurden, bestätigen das. Insbesondere Kinder und Jugendliche sind offenbar sehr viel seltener als Zweitinfizierte betroffen, auch wenn sie im engen Kontakt mit einem infizierten Erwachsenen leben.

Welche Rolle spielt das Alter bei der Ansteckungsgefahr und bei den Pandemieverläufen?

Tatsächlich belegen mittlerweile zahlreiche Studien, darunter auch eine unter Beteiligung des Bonner Virologen Hendrik Streeck, ein mit dem Lebensalter ansteigendes Infektionsrisiko. So ergab eine differenzierte, neuere Untersuchung der Heinsberger Karnevalssitzung im Februar 2020 ein mit jedem Lebensjahrzehnt um 28 Prozent wachsendes Infektionsrisiko. Die allermeisten der bei diesem „Superspreadingevent“ anwesenden Kinder hatten sich trotz mehrstündiger Anwesenheit nicht angesteckt. Das galt im übrigen auch, als sie nach der Karnevalsfeier mit infizierten Angehörigen in Quarantäne saßen (Link).

Hier findet sich eine internationale Metaanalyse zu Infektionsclustern in Haushalten, die das geringere Ansteckungsrisiko von Kindern ebenfalls bestätigt. Zudem legt sie nahe, dass nur ein absoluter Bruchteil der Übertragungen (3,8 Prozent laut Berechnung) zwischen Menschen, die zusammenleben, von Kindern ausgeht (Link).

“Die Datenlage zeigt, dass Infektionen sehr viel häufiger von Erwachsenen auf Kinder übertragen werden als umgekehrt. Aktuelle Arbeiten zeigen eine Ansteckungshäufigkeit von Kind zu Kind von nur 0,3 Prozent gegenüber 4,4 Prozent bei Erwachsenen“, fasste eine Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin (DAKJ) von November 2020 zusammen. Die zugrundeliegende Studie von Macartney et. al. findet sich hier.

Es wäre daher an der Zeit, zu akzeptieren, dass Jüngere und insbesondere Kinder nur eine untergeordnete Rolle bei der Verbreitung des Virus spielen und das Thema Schulschließungen endlich ad acta zu legen. Ein Blick auf das internationale Pandemiegeschehen zeigt ein klares Muster:

Länder mit einer im Schnitt jüngeren Bevölkerung sind sehr viel besser durch die Pandemie gekommen sind als Länder mit vielen Älteren.

Dies gilt im übrigen, was bislang kaum diskutiert wird, unabhängig von der jeweils erreichten Impfquote. Mehr noch: Es gibt offenbar keinen kausalen Zusammenhang zwischen einer hohen Impfquote und niedrigen Inzidenzen. Bestes Beispiel dafür ist Gibraltar, das laut Behördenauskunft eine Impfquote von 100 Prozent hat: Es gehört laut der Website „Corona-in-Zahlen.de“ derzeit sogar zu den fünf Ländern weltweit mit den höchsten Infektionsraten (22,4 Prozent mit Stand vom 18.12.21). Die Webseite verwendet nach eigenen Angaben Zahlen von „Our World in Data“, der John-Hopkins-Universität sowie dem Robert Koch-Institut als Berechnungsgrundlage.

Im Niger, das eine Impfquote von 1,9 Prozent hat, lag die 7-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen, abgerufen am selben Tag, bei 0, im Sudan ebenso, in Algerien mit einer Impfquote von 12 Prozent bei 3,9 und im ebenfalls sehr jungen Pakistan (Impfquote 26 Prozent) bei 0,8.

In diesem Interview mit Welt-TV vom 1. Dezember 2021 führt der zu diesem Zeitpunkt noch amtierende Afrika-Beauftragte Günter Nooke die geringen Erkrankungs- und Sterberaten in Subsahara-Afrika auf die durchschnittlich sehr junge Bevölkerung zurück, die trotz einer relativ hohen „Durchseuchung“ wenig vom Virus betroffen gewesen sei: „Das heißt, viele sind infiziert worden, haben das aber im Großen und Ganzen nicht so bemerkt“ (vgl. ab Min. 2:37) Nooke weiter: „Und das hat eben nicht dazu geführt, anders als Herr Drosten am Anfang vermutet hat, dass es Hunderttausende Tote in Afrika gegeben hat, die Leichen in den Straßen hat es nicht gegeben“. Er fügt hinzu: „Allerdings haben wir natürlich viel zu wenig Daten“.

Zu den altersbezogenen Verläufen von Covid-19 gibt es jedenfalls hinreichend Daten. Es ist klar erwiesen, dass Kinder und Jugendliche, aber auch junge Erwachsene, bislang ganz überwiegend milde Verläufe hatten und dementsprechend auch die Intensivbetten nicht belasteten. Zum Beispiel zeigt ein auch von der STIKO zitierter systematischer Review, der internationale Studien mit Daten von insgesamt 7.480 Personen von 0 bis 18 Jahren einschloss, dass nur bei 0,7 Prozent von nachweislich infizierten Kindern und Jugendlichen ein kritischer Covid-19-Verlauf erfolgte, 2 Prozent erkrankten schwer, kein Kind bzw. Jugendlicher starb (Link).

Welche Rolle spielt die Viruslast, der man ausgesetzt ist? Und welche Rolle spielen Aerosole?

Die bisherigen Hygienemaßnahmen in Deutschland sowie der zurückliegende Silvesterlockdown (auch wenn er so nicht genannt wurde) basieren auf der Annahme, schon die bloße Anwesenheit eines Infizierten im Raum stelle ein signifikantes Risiko dar. Dagegen sprechen viele Fallbeispiele aus der Praxis ebenso wie auch die vorangehend zitierten Kontaktverfolgungsstudien.

Eine weitverbreitete Befürchtung, die von Experten im Frühjahr 2020 formuliert wurde und die sich seither hartnäckig hält, ist die, dass das Virus mit Aerosolen durch die Luft reist. Zwar wurde dies in laborphysikalischen Studien bestätigt. Doch bis heute ist nicht bewiesen, dass auf diese Weise tatsächlich auch Infektionen übertragen werden können. Einzige Ausnahme: Es sind Klimaanlagen im Spiel, die einen hohen Anteil der Raumluft rezirkulieren, und es befinden sich gesundheitlich anfälligere, insbesondere ältere oder kranke Personen über längere Zeit in der Nähe der entsprechenden Luftausgänge.

Diese Konstellation ist aber vor allem für Krankenhäuser oder Pflegeheime relevant und nicht für Kaufhäuser, Kulturveranstaltungen oder Schulen. Dennoch hält sich diese überaus pessimistische Annahme der stetig lauernden Aerosol-Gefahr seit ihrem ersten Aufploppen im April 2020. Ja, sie wurde sogar durch die Vermutung immer weiter ins Negative gesteigert, eine luftgetragene Verbreitung könne auch durch asymptomatische Personen erfolgen, denen man keine Erkrankung ansieht. Die mit Corona verbundene Gefahr wurde dadurch sozusagen „doppelt unsichtbar“. Gesunde Menschen und insbesondere Kinder, die häufig nur leichte oder asymptomatische Verläufe haben, wurden fortan unter Generalverdacht gestellt.

Doch zu dieser wirklich bedrohlich wirkenden Erzählung findet sich keine empirische, also tatsächlich beobachtete Evidenz. Insbesondere wurde bis heute offenbar nicht systematisch überprüft, ob die über Aerosole transportierbare Virenlast wirklich ausreicht, um eine normal immunstarke Person anzustecken.

Wenn man sich bewusst macht, dass es gerade diese Erzählung ist, auf deren Basis ganze Wirtschaftsbereiche dicht gemacht und Millionen von Menschen ausgegrenzt wurden (und werden), dann erstaunt schon die Hybris, mit der Wissenschaftler/innen diese vermeintliche „Wahrheit“ kommunizierten: „The world should face the reality“ lautet etwa die Überschrift dieses Artikels, der laut „google scholar“ schon über 1200 Mal zitiert worden ist: „Airborne transmission“ sei ein „Fakt“, der einen hohen Anteil des Übertragungsgeschehens bei SARS-CoV-2 erkläre (Link).

Die meistzitierten Fachartikel zum Thema Aerosolübertragung verblieben komplett im Konjunktiv

Die meistzitierten Fachartikel zu diesem Thema formulierten diesen Übertragungsweg jedoch lediglich als Hypothese, verblieben also komplett im Konjunktiv. Auch geht es in den jeweils beschriebenen Fallbeispielen keineswegs um „asymptomatische“ Index Cases. Vielmehr bedarf es offenbar doch hustender und niesender Erkrankter, die mit Schwung virenbeladene Maxi- und Minitröpfchen versprühen, damit Viren weiter fliegen. Bei den wissenschaftlich sauber dokumentierten „Ausbrüchen“ von Innenraumübertragungen kommt bei genauerer Betrachtung eigentlich nie ausschließlich eine Aerosolübertragung in Frage. So wurden beispielsweise bei dem immer wieder zitierten Chor-Event in Skagit / Washington auch Snacks geteilt, Teilnehmer/innen saßen zusammen und klönten, zudem gab es mindestens einen symptomatischen Fall und das Infektionsgeschehen verteilte sich auf insgesamt zwei Treffen. Medienberichte fassten das Geschehen jedoch immer wieder so zusammen, als hätten sich die Chorteilnehmer über ein einmaliges gemeinsames Singen angesteckt (Link).

Das Zusammentreffen aller drei Bedingungen – das heißt, ein tatsächlich asymptomatisch Infizierter hat nachweislich eine andere Person in einem Innenraum angesteckt, ohne dass sich eine Gelegenheit zur Tröpfchenübertragung (wie etwa durch Anhusten oder bei einem längeren Gespräch) ergab – ist bis heute nicht belegt. Natürlich ist eine solche Übertragungsmöglichkeit nicht ausgeschlossen. Sie ist aber nicht wahrscheinlich genug, um fundamentale Beschränkungen im öffentlichen Raum zu rechtfertigen.

Welche Rolle spielen asymptomatisch Infizierte?

Diese bereits oben erwähnte Studie zeigt, dass asymptomatisch Infizierte nur ausgesprochen selten die Ursache von Infektionsclustern sind, d.h. eine größere Zahl von anderen Personen oder überhaupt andere anstecken (Link).

In dieser Studie wurden 9,8 Millionen Einwohner/innen aus Wuhan > 6 J. nach dem Ende des Lockdowns im Frühsommer 2020 auf Covid-19 getestet; im Falle eines positiven Testes wurden ihre Kontakte nachverfolgt und ebenfalls getestet. Dabei wurden insgesamt 300 asymptomatische Fälle identifiziert. Unter deren insgesamt 1.174 engen Kontakten fanden sich keine weiteren Infizierten; die 300 „Asymptomatischen“ hatten also niemanden angesteckt. Die Autoren zogen das Fazit: Verglichen mit symptomatischen Patienten haben asymptomatische, mit Sars-CoV-2 infizierte Personen in aller Regel nur eine sehr geringe Viruslast und können maximal für kurze Zeit für andere ansteckend sein. Ein Link zu dieser in „Nature“ veröffentlichten Studie findet sich hier .

Welche Rolle spielen Ungeimpfte? Und welche die verschiedenen Virusvarianten?

Dass die Wirkung der bisher verfügbaren Covid-19-Impfstoffe nicht 1:1 mit der klassischer Impfstoffe verglichen werden kann, ist mittlerweile bekannt. Insbesondere schützt die Impfung offenbar nur teilweise vor einer Ansteckung und verhindert damit auch nicht die Weitergabe durch Geimpfte. Dieser in „The Lancet“ veröffentlichten britischen Haushaltsstudie von September 2021 zufolge wurde jedenfalls bei Personen mit Impfdurchbrüchen eine ebenso hohe Viruslast gemessen wie bei Ungeimpften. Dementsprechend steckten sich auch genauso viele engere Zweitkonktakte bei infizierten Geimpften an wie bei infizierten Ungeimpften (Link zur Studie).

Auch ergaben sich bei den Geimpften keine Unterschiede hinsichtlich der produzierten Viruslast nach Impfstatus bzw. Abstand zur letzten Impfung. Interessanterweise unterschied sich die produzierte Viruslast auch nicht nach der Virusvariante (es wurden Personen mit Pre-Alpha-, Alpha- und Deltavarianten-Infektion untersucht, Omikron war noch nicht in Umlauf): Das aber würde bedeuten, dass die immer wieder produzierten Schlagzeilen über neue, noch ansteckendere Coronavarianten größtenteils Fehlalarm waren. Zumindest für die Gruppe der Kinder kann dies im Nachhinein als bestätigt gelten – für diese wurde schon bei der Beta-Variante behauptet, sie würden sich nun vermehrt anstecken und im Krankenhaus landen, was nicht der Fall war. Auch bei der Delta-Variante und bis jetzt bei Omikron scheint es keine erhöhte Gefahr zu geben, dennoch fordern Lehrerverbände schon wieder Schulschließungen.

Versuch eines Fazits: Ein deutliches Mehr an Miteinander wäre möglich – und ein Mehr an Selbstverantwortung

Relevant für eine Rückkehr zur Normalität im öffentlichen Raum ist vor allem die mit „Corona“ verbundene Ansteckungs- und Übertragungsgefahr. Wie die oben zusammengefassten Studien zum Infektionsgeschehen zeigen, spielen asymptomatische Personen – also Mitmenschen, die gesund wirken und sich auch so fühlen – entgegen der weitläufigen Annahme – nur eine geringe Rolle bei der Virusverbreitung. Das Gleiche gilt für Kinder und Jugendliche – siehe die obigen Ausführungen zur Bedeutung der Altersunterschiede beim Pandemiegeschehen. Kinder und generell Jüngere sind (vermutlich aufgrund ihres guten Immunsystems, sofern es intakt ist) den vorliegenden Daten zufolge weniger gefährdet, sich anzustecken. Sie geben das Virus aber auch seltener weiter als Erwachsene, selbst wenn sie infiziert sind. Es wurde auch immer wieder zu Unrecht befürchtet, Kinder und Jüngere könnten stark erkranken und die Intensivstationen füllen, was bis heute auch angesichts neuerer Virusvarianten nicht eingetreten ist.

Auch die Übertragung von SARS-CoV-2 über Aerosole wurde, wie gezeigt werden konnte, offenbar stark überschätzt. Wer sich die (wenigen) zugrundeliegenden Fallstudien anschaut, stößt schnell auf die Erwähnung schlecht funktionierender Klimaanlagen – wie etwa auch beim Karneval in Heinsberg, dem Chortreffen in Skagit sowie Ausbrüchen in Pflegeheimen oder Krankenhäusern wie etwa hier. Diese Problematik betrifft aber nur einen Bruchteil öffentlicher Orte, lässt sich technisch regeln und ist vor allem für mehrstündige Ereignisse relevant. Die Heinsberg-Studie zeigt dabei, dass regelmäßige Pausen an der frischen Luft das Ansteckungsrisiko sogar bei hoher Virenbelastung der Raumluft signifikant mindern können.

Überhaupt legt die Studienlage nahe, dass individuelles Verhalten einen großen Beitrag zur Risikosteigerung oder -minimierung hat. Es sind offenbar weniger die größeren Menschenmengen, sondern vor allem intensivere Kontakte mit einer infizierten Person, die das Übertragungsrisiko steigern. Das aber lässt sich steuern und sollte stärker der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung jedes Einzelnen überlassen werden. Quarantänepflichten – insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch für Menschen ohne Symptome – sollten schnellstmöglich überdacht werden. Es gibt auch keinerlei wissenschaftliche Evidenz, dass hierbei zwischen Geimpften und Ungeimpften unterschieden werden sollte.

Ein deutliches Mehr an Miteinander ist möglich – und das ist doch ein positiver Ausblick auf 2022.

Titelbild: View Apart / Shutterstock


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