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Titel: Leserbriefe zu „Cancel Culture lebt von der Unterwürfigkeit“

Datum: 4. August 2022 um 10:00 Uhr
Rubrik: Leserbriefe
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In diesem Beitrag beschreibt Tobias Riegel am Beispiel eines abgebrochenen Konzertes, welche verheerenden Folgen die inzwischen immer massiver angewendete Praxis der „Cancel Culture“ hat und wie dies verhindert werden könnte. Willkürliche Zensur, die Verhinderung von Veranstaltungen und die Diffamierung von Andersdenkenden („meist als rechtsextrem“) könne „Debatten, in denen man inhaltlich keine Chance hätte“, verhindern und werde inzwischen auch als „politische Waffe gegen regierungskritische Bürger“ eingesetzt. Die „Bereitschaft mancher Veranstalter, Redakteure, Politiker etc., sich eifrig und opportunistisch unter stets neue ‚Codes‘ unterzuordnen“, wird kritisiert, ebenso, dass viele Politiker und Medien ihre eigene Politik mit dem Mittel abschirmen würden. Die negativen Folgen für Demokratie und Gesellschaft könnten nur durch eine Ächtung von „Cancel Culture“ durch die Bevölkerung verhindert werden. Wir danken für die interessanten Leserbriefe. Zusammengestellt von Ala Goldbrunner.


1. Leserbrief

Besten Dank Tobias Riegel

für Ihren Beitrag zu der zunehmenden Cancel Culture. Der Vorfall in Bern, der zum Abbruch eines Konzertes der Musikgruppe Band Lauwarm in Bern geführt hat, zeigt die Verdrehung der Vorgänge.

Noch vor einigen Jahren galt es als eine inhaltliche Unterstützung einer Bewegung oder Gruppe, wenn jemand einige ihrer Symbole selbst übernahm. Wer die Rastafaris bei ihrer friedlich kulturellen Identität unterstützen wollte, kaufte sich z.B. eine Platte von Bob Marley und übernahm teilweise Kleidung, Kultur und Frisur als Ausdruck gemeinsamer Haltung gegen Kolonialismus und gegen politische und wirtschaftliche Clans, das alles mit starker religiöser Grundlage.

Das Verbot von Übernahme solcher Äußerlichkeiten zerstört auch die inhaltliche Auseinandersetzung. Eine Übernahme von überlieferten kulturellen Eigenheiten – oder völlig neu entwickelten – hat allerdings die Kulturen in aller Welt aufblühen lassen. Ein Verbot von kulturellen Einflüssen wirkt nicht nur einschränkend, sondern rückschrittlich. Eine Gesellschaft zu bilden wäre nicht möglich, alles beruht auf Übernahmen.

Als weiteres Beispiel im musikalisch-kulturellen Bereich möchte ich die anfängliche Übernahme vom Blues nennen, der seine Ursprünge hat in den afrikanische Sklaven haltenden Südstaaten der USA. Die weltweit berühmtesten Rockbands begannen ihre Karriere mit dem Nachspielen von Traditionals. Ein Großteil der modernen großindustriellen ‘Hits’ ist aus dieser Tradition der Übernahme entstanden. Weil ich aus Südbayern schreibe, erlaube ich mir noch diesen Hinweis: Gäbe es keinen Einfluss von Außen, dann hätte sich auch die bairische Volksmusik nicht bis jetzt weiter entwickelt, sondern wäre auf dem Stand von 1950 geblieben oder gar früher.

Sieht man mal über den Bereich der Musik hinaus, dann gibt es kaum eine Zeit, in der Austausch von Künsten und Fertigkeiten verfemt war. Im Gegenteil war nicht nur der Import von Material entscheidend, sondern die Annahme von Fertigkeiten wichtig. In der Ständegesellschaft schrieb man den Handwerksgesellen vor, auf ihren Wanderungen Techniken zu erwerben, am Besten neue. Wer brachte neue Spiele mit? Hunderttausenden wäre das Fußballspielen nicht erlaubt, weil das in England erfunden wurde … und so weiter. Mir würde das Pétanque-Spiel verboten, mit dem ich vor Jahrzehnten begonnen habe anlässlich der Gründung des Freundschaftsvereins im südbairischen Vaterstetten mit dem südfranzösischen Allauch.

Von denjenigen, die “kulturellen Aneignungen” bekämpfen und Cancel Culture betreiben, ist mir nicht bekannt geworden, dass sie generell die Benutzung von Smartphones ablehnen – obwohl das nicht nur die Übernahme eines technischen Dinges ist. Diese hochtechnischen Geräte transportieren eine Vielzahl verschiedenster Kulturen, selbstverständlich auch die der Überwachung Anderer und die Erlaubnis, sich selbst überwachen zu lassen. Ganz radikal individualistisch gedacht, wäre ein Lernen von Anderen unmöglich, alles Neue müsste jede Person selbst und alleine sich ausdenken, auch eine Gruppe, die sich gegen “kulturelle Aneignungen” wendet, dürfte sich nicht bilden, denn dieser Gedanke ist eine Aneignung.

Mit besten Wünschen für die Weiterentwicklung der Nachdenkseiten!
Werner Schmidt-Koska


2. Leserbrief

Vielen Dank für den leider neuerlich nötigen Artikel zum Unwesen des “Cancel Culture”. 

Und auch wenn dieser Appell sicher ins Leere laufen wird, da unter den Protagonisten der Ausgrenzung “im Namen der Toleranz” die NDS ihren “Stempel” längst weg haben dürften, ist es um so dringender, diesen gesellschaftlichen Mißstand zu benennen, der das Potenzial in sich birgt, die Gesellschaft zu spalten, zu radikalisieren und von innen heraus zu zerstören.

Es nimmt wirklich überhand. Den Fall Lisa Eckhart (Absage einer Buchlesung) kann man ja anhand der Links unter dem Artikel nachlesen. Aber selbst einen unbescholtenen Premium-Kabarettisten wie Georg Schramm hat das Verdikt schon getroffen! Und wäre er als Kabarettist noch aktiv, würde man auch ihm Auftritte mittlerweile sicher versagen oder aber wenigstens erschweren. In seinem Fall übrigens mit demselben absurden Vorwurf des “Antisemitismus”, wie bei Eckhart. Und zwar wegen dieser Aussage zu Banken:

„Das Volk würde liebend gern den Banken wieder zu dem Ansehen verhelfen, das sie einmal hatten, als man sie noch Geldverleiher nannte, als es noch ein dreckiges Handwerk war, das ein ehrbarer Christ gar nicht ausüben wollte.“

Na? Den “Antisemitismus” erkannt? Nicht? Dann Herzlichen Glückwunsch! Sie sind noch nicht geframed! Aber vielleicht nach diesem – entschuldigt die Direktheit – geisteskranken Hetz-Artikel von Jan-Philipp Hein aus der SVZ vom Juni 2015 (!!!):

svz.de/deutschland-welt/politik/artikel/fernsehkabarett-da-wo-der-antisemitismus-blueht-40378461

Ja, so lange läuft das schon! Und so faktenfrei.

Dranbleiben!
Gruß, Ole.


3. Leserbrief

Wir sind leider in ihre Falle getappt.

Wenn uns einer sagt: “Ich bin Blaufischchrist – ich darf nur blauschuppige Fische essen!” – dann sagen wir ja: “Okayyy, wenn die Blaufischchristen das so machen und du ein guter Blaufischchrist sein willst – dann darfst du wohl nur blauschuppige Fische essen, viel Spaß!”

Genau so hätten wir von Anfang an diese ‘Gutmenschen’ behandeln müssen: “Aha, DU glaubst, ein linker und guter Mensch muss Schluckaufgeräusche zwischen ‘Bürger’ und ‘innen’ sprechen — dann musst DU das wohl so machen, viel Spaß!” Wir hätten sie wie eine seltsame Splittersekte mit drolligen Gebräuchen und Regeln behandeln müssen, die bloß für diese drollige Sekte gelten! Wir sind aber doofer Weise in ihre Falle getappt, ihre Regeln seien maßgeblich für ALLE Menschen, die links und gut sein wollen.
 
Wir hätten immer bloß leise losprusten sollen über die drolligen Gebote dieser Splittergruppe und ihnen noch nicht mal den Gefallen tun sollen, ernsthaft mit ihnen zu diskutieren. Ihr wisst doch: Diskutiere nie mit einem Idioten – erst zieht er dich auf sein Niveau hinab, und dort schlägt er dich dann mit Erfahrung! Und diskutiere nie mit einem ‘Gutmenschen’ – erst zieht er dich in sein linksintellektualistisches Gedankengespinnst, und dort schlägt er dich dann mit Bordieu-Zitaten!
 
Diese ‘Gutmenschen’ sind für mich 1:1 die Wiedergeburt der Pharisäer! Pharisäer kommt vom hebräischen “Peruschim” = die Abgesonderten. Also frei übersetzt = die Distanzierten oder die Sich-Distanzierer … Sogar das passt!!!
 
Als man Jesus mal fragte: “Was sind eigentlich die wichtigsten Gebote?” – antwortete er: “Ach, eigentlich nur eins: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!”
Ich übersetz’ das mal so: Wer ein gutes Herz hat – braucht keine Regeln!
 
Seine Zeitgenossen und Hauptfeinde, die Pharisäer, waren ja keine bösen Leute – im Gegenteil, sie wollten sogar besonders vorbildlich gute Menschen sein! Aber ihr Ansatz war 180° umgekehrt: Wer tausend Regeln fürs Gutsein hat – braucht kein Herz!

Alles war ganz formalistisch – sie hatten 613 Gebote für das Korrekt-Sein …. kommt einem doch bekannt vor?? Aber Herzensgüte, dem Opfer am Straßenrand zu helfen, hatten sie nicht – das tat nur der (damals verachtete) Samariter. Und Jesus sagte: “Sie sitzen gerne vorne in der Synagoge” = zeigen sich gerne damit, wie guuut sie doch sind …. auch das bekannt (heute: Haltung zeigen). Jesus sagte: “sie seihen Mücken, aber verschlucken Kamele” … “sie binden schwere Lasten und legen sie den Menschen auf die Schulter – selber machen sie aber keinen Finger krumm” …. Die Pharisäer mokierten sich, als Jesus mit Huren und Übeltätern zusammensaß – daraufhin entgegnete Jesus: Der Arzt ist zu den Kranken geschickt, nicht zu den Gesunden!” — Das erinnert mit 1:1 an eine Szene aus einer Podiumsdiskussion, die Sahra Wagenknecht am Anfang von #Aufstehen machte. Da sagte auch einer aus dem Publikum, er sei schwer enttäuscht, dass sich #Aufstehen auch an Leute wenden möchte, die Poggenburg (AfD) gewählt haben (das sprach er mit solcher Verachtung aus!) – da antwortete Sahra (sinngemäß): aber genau die, diese enttäuschten Menschen, viele ehemalige Linkswähler, müssen wir doch erreichen! ….

Zum Schluß noch, lieber Tobias Riegel: Wussten Sie, dass es sogar einen Preis für Leute gibt, die sich nicht der Cancel Culture unterwerfen? Tamara Wernli erklärt es am Ende dieses Videos sehr gut: Der “Balls Of Steel” Award von true fruits:
youtube.com/watch?v=4vzCXZ__CV0

Martin


4. Leserbrief

Sehr geehrter Herr Riegel,

Bei aller grundsätzlichen Zustimmung haben mich doch zwei Passagen Ihres Beitrags irritiert:

“… was öffentlich stattfinden darf, oft ohne dass die Gründe für die geforderten Ausschlüsse zuvor gesellschaftlich verhandelt worden wären.” und Ihre Sorge, dass “die AfD … die politische und kulturelle Meinungsfreiheit als Themenfeld besetzen kann”.

Wie Sie an anderer Stelle selbst sagen, dürfe alles geäußert werden, sofern es nicht justiziabel ist. Warum also (und zwischen wem) sollen “Ausschlüsse aus dem öffentlichen Diskurs” überhaupt “verhandelt” werden? Und warum missbilligen Sie, wenn eine nicht verbotene Partei (oder sonstigen Organisation) irgendein Themenfeld besetzt? Soll eine Behörde bestimmen, wer was thematisieren darf?

Mit freundlichen Grüßen
DI Helmut Hartmann


5. Leserbrief

Ich habe am 26.07.2022 in der Brasserie Lorraine, Bern angerufen.

Weil ich kaum glauben konnte, was ich im “Blick” (noch verlogener und manipulativer als die “Bild”) zum Konzert-Abbruch der Band “Lauwarm” gelesen hatte, wollte ich einfach fragen, was da wirklich abgegangen ist.

Der Mitarbeiter (die Brasserie hat keine Leitung, sie ist ein Kollektiv) sagte mir unter anderem, dass ich dazu keine Meinung zu haben hätte, weil ich nicht dabei gewesen sei.

Dann sagte er, der Abbruch sei nicht wegen des Spielens von Reggae-Musik geschehen. Der Abbruch hätte einen anderen Grund gehabt. Wörtlich! Er wollte mir aber den Grund nicht nennen. Er meinte, ich solle mich im Internet dazu informieren. Oder am 18. 8.22 an der Diskussionsrunde teilnehmen.

Nachdem ich festgestellt habe, dass mit diesem Menschen kein echtes Gespräch stattfinden konnte, weil er sich dauernd vor den Antworten gedrückt hat und lauter Ausreden gesucht hat, habe ich ihm gesagt, dass er ein Feigling ist und mich dann freundlich, aber bestimmt, verabschiedet.

Mittlerweile hat sich die Band “Lauwarm” zum Konzert-Abbruch geäussert. Die ihnen von der “Brasserie Lorraine” genannten Gründe sind: 2 Bandmitglieder trugen Dreadlocks und sind aber Weisse, die Bekleidung war nicht typisch für Weisse und sie spielten Reggae, was sie seit Jahren schon tun. Alles Gründe für “kulturelle Aneignung”, worüber sich diese angeblichen Gäste beschwerten. Gentlemen kann jetzt also seine Karriere an den Nagel hängen und Bob Marley (er hatte einen weissen Vater) wird sich im Grab umdrehen.

(Anm. A.Goldbrunner: Hier hat die Leserin ein Video verlinkt (in dem sich der Sänger der Gruppe Lauwarm zum Vorfall äußert)

Wie viele Gäste sich beschwerten, ist nicht bekannt. Es ist auch nicht bekannt, wer diese Gäste waren. Bis jetzt blieben diese anonym, bzw. haben sich weder gemeldet noch zum Abbruch des Konzertes geäussert.

Fun-Fact am Rande: das Gebäude, in welchem sich die Brasserie Lorraine befindet, ziert eine Wandmalerei, auf welcher mindestens 2 Typen zu sehen sind, welche Dreadlocks tragen und Weisse sind.

(Anm. A.Goldbrunner: Hier hat die Leserin ein Video verlinkt, dass nicht zuzuordnen ist, weshalb wir den Link an dieser Stelle nicht weitergeben)

Mein Eindruck: Gab es evtl. gar keine Gäste, die sich beschwert haben? Wollte jemand vom Kollektiv den Abbruch?

Oder hat einfach irgend jemand einen Fehler gemacht, sich also in einer kruden Ideologie verrannt und kann jetzt nicht dazu stehen?

Nach dieser Logik (kulturelle Aneignung) dürfte Roberto Blanco keine Schlager singen, Chinesen keine klassische Musik spielen, Schweizer keine asiatischen, italienischen, französischen etc. Gerichte kochen, Menschen generell keine Fremdsprachen erlernen und Schwarze nicht jodeln, Skateboard fahren, Auto fahren oder Nike-Schuhe tragen dürfen. Diese Auflistung liesse sich unendlich verlängern.

WOLLEN WIR DAS?

Liebe Grüsse vom schönen Thunersee, Schweiz.
Aletheia


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