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Titel: Bertelsmann Umfrage: Der „Glaube“ an die „Soziale Marktwirtschaft“ hat kaum noch ein Fundament

Datum: 15. April 2011 um 9:05 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Demoskopie/Umfragen, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft
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Ein Beispiel dafür, zu welch widersprüchlichen Interpretationen Meinungsumfragen dienen können, ist eine von der Bertelsmann Stiftung in Auftrag gegebene infas-Umfrage unter dem Titel „Zukunft Soziale Marktwirtschaft“.
Bertelsmann sieht den Glauben an die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft gestärkt. Nimmt man die Umfragewerte im Einzelnen, kann Meinung der Befragten nur so bewertet werden, dass sie die „Soziale Marktwirtschaft“ zwar (nach wie vor) positiv bewerten, aber gleichzeitig der Meinung sind, dass das „Soziale“ schon jetzt zu kurz kommt und in Zukunft noch mehr abhanden kommt. Das Vertrauen, dass die Politik diesen Trend aufhält, schwindet mehr und mehr. Wolfgang Lieb

Das Umfrageinteresse von Bertelsmann, nämlich dass die Deutschen an die „Soziale Marktwirtschaft“ glauben, wird schon dadurch erkennbar, dass die Stiftung die Veröffentlichung dieser Umfrage mit der Überschrift „aufmacht“: „Deutsche glauben an die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft“. Um diese Interpretation zu unterstreichen, wird ein spezieller Link auf die entsprechende Balkengrafik gesetzt. Danach stimmen 14 % der Befragten der „Aussage zu, dass in Deutschland eine soziale Marktwirtschaft existiert“ „voll und ganz“ und 57 % stimmen dieser Aussage „eher“ (!) zu. Ein gefestigter „Glaube“ sieht anders aus.
Insgesamt 30 % stimmen eher nicht oder überhaupt nicht zu.

Schaut man sich die infas-Umfrage [PDF – 462 KB] im Einzelnen an, so entdeckt man eklatante Widersprüche zu dieser positiven Glaubens-Einschätzung.

Wird gefragt, was die Bürger von der „Sozialen Marktwirtschaft“ erwarten, so steht an erster Stelle, dass alle die gleichen Bildungschancen haben. Danach kommt die Erwartung, dass wenig Leute arbeitslos sind, dass die Wirtschaft wächst, dass Unternehmen international wettbewerbsfähig sind, dass Bürger mit höheren Einkommen auch höhere Steuern bezahlen etc. Am wenigsten wird erwartet, dass die Bürger nur niedrige Steuern und Sozialabgaben zahlen müssen. Dass sollten die Steuersenkungsparteien endlich einmal zur Kenntnis nehmen.

Vor dem Hintergrund einer insgesamt positiven Einschätzung über das Bestehen einer „Sozialen Marktwirtschaft“ fällt auf, dass gerade dort, wo die Befragten die höchsten Erwartungen an diese Gesellschafts- und Wirtschaftsform haben, nämlich bei gleichen Bildungschancen und geringer Arbeitslosigkeit, ihre Erwartungen eher mittelmäßig (Bildung) bzw. wenig (Arbeitslosigkeit) erfüllt sehen.

Lässt man einmal das Schuldenthema außer vor – bei dem auf den Bürgern offenbar ein unauslöschliches Trauma lastet, das ja auch täglich durch Politik und Berichterstattung neu ausgelöst wird – so ist die Differenz zwischen Erwartung und Realität bei der Arbeitslosigkeit, bei der Chancengleichheit und bei den Bildungschancen mit deutlichem Abstand am größten.

Nach dieser Umfrage sehen 96% der Befragten (voll und ganz + eher) die wichtigste Staatsaufgabe in der Finanzierung von Schulen und Hochschulen, 90 % meinen der Staat solle die Bürger bei seinen Entscheidungen stärker einbinden und 89% meinen, dass wer sein Leben lang gearbeitet habe, auch einen Anspruch darauf habe, dass der Staat den erreichten Lebensstandard sichert.

Ganz allgemein wird dem Staat von deutlich mehr als der Hälfte der Befragten bei der Unterstützung Hilfsbedürftiger, bei der Durchsetzung der Mitbestimmung von Arbeitnehmern (!), bei der Garantie von Löhnen, mit der der Lebensunterhalt bestritten werden kann, ein großes Gewicht beigemessen. 47 % messen dem Staat bei Fragen der sozialen Sicherheit eine „sehr wichtige“ und weitere 46 % eine „eher wichtige“ Rolle zu. Das sind also fast alle.
Die Bertelsmann-These von der Zurückdrängung des Staates erfährt also eine glatte Absage.

Dass bei der sozialen Sicherheit 61% (sehr wichtig) und weitere 31 % (eher wichtig) sich selbst in der Pflicht sehen, mag zunächst widersprüchlich erscheinen, zeigt aber letztlich nur, dass sich die Befragten in punkto sozialer Sicherheit durchaus in der Mitverantwortung sehen.
Dennoch sehen die Befragten zwischen der Erwartung an eine solche Selbstverantwortung des einzelnen und der eigenen Einschätzung von deren Wahrnehmung dieser Verantwortung die größte Diskrepanz zwischen dem Soll und dem Ist. Diese Abweichung lässt Spekulationen Tür und Tor offen. Die Anhänger der privaten Vorsorge dürften daraus ableiten, dass der Einsicht in die Eigenverantwortung durch obligatorische private Versicherungen nachgeholfen werden müsse. Man könnte genauso gut aber auch schließen, dass die Befragten gerne mehr Vorsorge betreiben wollten, wenn sie nur könnten.

Für Gewerkschaften muss es enttäuschend sein, dass ihr Engagement für die soziale Sicherheit eher gering eingestuft wird.

57% halten die aktuellen Leistungen der Rentenversicherung für geringer als das, was sie für richtig halten. 45% halten die Grundsicherung für Arbeitslose und 48% die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für zu gering.

Keine allzu großen Hoffnungen setzen die Befragten darauf, dass sich die Situation auf den abgefragten Feldern in den kommenden 10 Jahren wesentlich verbessern wird. Auf keinem Feld gibt es auch nur annähernd eine Hälfte der Befragten, die eine optimistische Einschätzung hätte. Hingegen sind 49% der Meinung, dass sie höhere Steuern bezahlen müssen, 29% glauben sogar, dass sie sehr viel höhere Steuern belasten werden. Addiert gehen also insgesamt 78 % von höheren Steuern aus.

Was geradezu auf eine Resignation im Hinblick auf die soziale Ausgleichsfunktion einer „Sozialen Marktwirtschaft“ hinweist, ist das Ergebnis, dass insgesamt 61% der Befragten davon ausgehen, dass die Einkommensunterschiede größer bzw. sehr viel größer sein werden. Und über die Hälfte ist der Meinung, dass der soziale Zusammenhalt abnimmt. 42% meinen, dass die individuellen Aufstiegschancen (noch) schlechter werden.

Jeweils eine Mehrheit schätzt, dass die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung, der Kranken- und der Pflegeversicherung „etwas“ bzw. „sehr viel niedriger“ sein werden. Am größten ist die Sorge bei der Rente.

Erschrecken müsste die Politik über das geringe Vertrauen, das sie auf den unterschiedlichen politischen Ebenen genießt. Das größte Vertrauen wird noch der Kommunal- und der Landespolitik mit allerdings nur zwischen 36% und 32% zu teil. Nur noch 26% haben in die Bundespolitik sehr großes und eher großes Vertrauen, beim drei Vierteln ist das Vertrauen eher gering oder sehr gering. Nur eine kleine Minderheit vertraut noch auf die Politik der EU.

Gerade mal die Hälfte traut etwa der Bundespolitik noch zu, dass sie einen wichtigen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit von Deutschland leistet. Noch schlimmer fällt das Urteil aus, wenn die Abweichung zwischen dem grundsätzlichen Vertrauen und der Hoffnung auf einen wichtigen Zukunftsbeitrag vergleicht. Diese Diskrepanz ist bezüglich der Bundespolitik mit am größten. 3% vertrauen darauf gar nicht, bei 24% ist das Vertrauen sehr gering bzw. überhaupt nicht da und bei 46% eher gering.

Wenig ausgeprägt ist auch das Vertrauen in die Gewerkschaften – mit immerhin noch 41%. Dagegen schneiden die Verbände der Arbeitgeber mit 31% deutlich schlechter ab. Nicht einmal jeder Vierte hat Vertrauen in die international tätigen Großunternehmen.

Den größten Beitrag für die Zukunftsfähigkeit erhoffen sich die Befragten von Schulen, Hochschulen, Forschungsinstituten und kleinen und mittleren Unternehmen. Auch auf die Initiativen von Bürgern setzt noch mehr als die Hälfte Hoffnungen. Am wenigsten wird von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften erhofft.

Ist es Galgenhumor oder schon lächerliche wirkende Schönrederei, wenn der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, Dr. Gunter Thielen, das Umfrageergebnis damit kommentiert: “Die Bürger in Deutschland haben eine sehr realistische Sicht auf die Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland.”

„Realistisch“ kann die Studie doch eigentlich nur so bewertet werden, dass die Befragten, zwar die „Soziale Marktwirtschaft“ zwar (nach wie vor noch) positiv bewerten, aber gleichzeitig der Meinung sind, dass das „Soziale“ schon jetzt zu kurz kommt und in Zukunft noch mehr abhanden kommen wird.

Der erschreckende Vertrauensverlust der Politik wird von der Bertelsmann Stiftung vorsichtshalber nicht erwähnt. Kein Wunder, wenn man im Glashaus sitzt. Man müsste ja Steine werfen auf diejenigen, die die Mission dieser Stiftung fleißig erfüllen und die „Soziale Marktwirtschaft“ systematisch aushöhlen, so dass zum Schluss nur noch eine Marktgesellschaft – oder bildlich – eine Ellbogengesellschaft übrig bleibt.

Der Appell von Gunter Thielen, die Bildungschancen zu verbessern, kann darüber nicht hinwegtäuschen, denn Chancengerechtigkeit heißt für die Bertelsmann Stiftung nur die individuelle Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, um damit gleichzeitig soziale Ungleichheit und weiteren Sozialabbau zu legitimieren. Für Bertelsmann heißt doch Chancengerechtigkeit, dass jeder seines Glückes Schmied sein können soll.


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