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Titel: Nachtrag Nr. 2 zur Wachstumsdebatte

Datum: 20. Mai 2011 um 17:25 Uhr
Rubrik: Postwachstumskritik, Umweltpolitik, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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In den NachDenkSeiten brachten wir am 21. April eine ausführliche kritische Betrachtung der Wachstumskritik und dann am 13. Mai einen Nachtrag mit einigen Anmerkungen zu dem heute beginnenden Attac Kongress „Jenseits des Wachstums!?“. Die Statements beim so genannten Auftaktpodium sind anschauliche Belege für die Kontroverse. (Siehe hier/Auftaktpodium).
Albrecht Müller

Dort gibt es zwei Statements, die typisch sind für die von mir kritisierte Wachstumskritik, eines von Niko Paech und eines von Andreas Exner. Und dann einen Auftakt von Sabine Reiner von ver.di Bereich Wirtschaftspolitik. Besser hätte ich meine Kritik an der Wachstumskritik auch nicht formulieren können als Sabine Reiner. Die beiden anderen Beiträge sind herausragende Belege für die gängige Wachstumskritik, die auch der Grundlinie der Initiatoren des Kongresses entsprechen dürften.
Ich habe versucht, die Texte von Paech und Exner zu verstehen. Ich schaffe es nicht, vermutlich weil ich nicht zur Glaubensgemeinschaft jener gehöre, die meinen, diese Aneinanderreihung von Fremdwörtern und Übertreibungen, von aberwitzigen Vorstellungen und unbelegten Behauptungen zu verstehen. Versuchen Sie einmal, den Inhalt dieser Texte zu rekapitulieren.

Zwei der den Kongress vorbereitenden Personen, Alexis J. Passadakis und Matthias Schmelzer haben eine Replik auf meine früheren Texte verfasst. Hier als PDF [PDF – 154 KB]. Wenn Sie das lesen wollen, dann sollten Sie das bitte im Blick auf die kritisierten Texte tun; ich empfehle insbesondere das Kapitel IV („Kritische Würdigung der Wachstumsdebatte“) des Beitrages vom 21. April. Sie werden feststellen, dass in der Replik auf zentrale Elemente meiner Kritik nicht eingegangen wird. Stattdessen wird mit Unterstellungen gearbeitet: Dass in meinem Text das Wort Klimakrise nicht vorkommt, ist „ein starkes Stück“, dass ich die Nord-Süd-Problematik nicht als Problem genannt habe, ist ebenso schlimm. – Ich habe aber gar keinen Essay über ökologische Probleme und Klimakrise geschrieben. Ich habe mich konzentriert auf die Fixierung der Wachstumskritiker auf die Wachstumsrate und die Folgen dieser Fixierung.

In Debatten im Internet und auch sonst habe ich schon einige Male erlebt, dass mit falschen Behauptungen denunziert wird. Das geschieht nun auch wieder mit der Replik. Ich nenne nur ein Beispiel: Schon im Vorfeld haben Vertreter von Attac versucht, den NachDenkSeiten Desinteresse oder Inkompetenz in Sachen Ökologie anzuhängen. Dieser Faden wird in der Replik weiter gesponnen. Da heißt es: „Offenbar reicht der umweltpolitische Horizont von Albrecht Müller nur von den 60ern bis in die 70er Jahre.“ Für diese Annahme gibt es für die Autoren keine Anhaltspunkte. Es sei denn, sie nehmen die Tatsache, dass ich im Beitrag vom 21. April aus gegebenem Anlass auf die Umweltpolitik und die umweltpolitische Debatte der siebziger Jahre hingewiesen habe und wir, der Autor Schmelzer und ich, in einem eigentlich konstruktiven Telefongespräch über die umweltpolitischen Ansätze in den sechziger Jahren und die Grundlagen in der ökonomischen Welfaretheorie gesprochen haben. Dass mich der Klimawandel und die Zerstörung von Natur, Umwelt und Artenvielfalt heute – und nicht nur bis in die 70er Jahre – umtreibt, dass ich als Mitglied des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages für meine Fraktion ein Konzept zur Verkehrsvermeidung entwickelt habe, usw. – das muss nicht interessieren. Aber dann sollten die Autoren eine Replik auch nicht davon ausgehen, dass der Horizont nur bis in die siebziger Jahre gereicht hat.
Wenn man in der Debatte um die Sache, nämlich um die Frage, welchen Sinn die zur Zeit tobende Wachstumskritik hat und wie relevant sie ist, nicht weiter weiß, dann greift man offensichtlich zu solchen diffamierenden Erfindungen.

Das ist nicht weiter schlimm. Wirklich schlimm ist die arbeitnehmerfeindliche Grundtendenz der wachstumskritischen Debatte. Große Teile der Wachstumskritik entlasten die neoliberalen Ideologen von ihrer Verantwortung für die Existenz einer großen Zahl von Arbeitslosen, für die Existenz einer Reservearmee, die tief greifende Wirkung für die Effektivlöhne in Deutschland und in anderen Ländern hat. Die Rechtskonservativen haben diese Reservearmee bewusst geschaffen. Sie nutzten dazu beginnend mit den siebziger Jahren die Geldpolitik und die Fiskalpolitik
Der ehemalige Notenbanker Sir Alan Budd – seine Biografie siehe hier – beschrieb die Geldpolitik der Bank of England unter Margret Thatcher so:

„Viele „haben nie (…) geglaubt, dass man mit Monetarismus die Inflation bekämpfen kann. Allerdings erkannten sie, dass [der Monetarismus] sehr hilfreich dabei sein kann, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Und die Erhöhung der Arbeitslosigkeit war mehr als wünschenswert, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen. […] Hier wurde – in marxistischer Terminologie ausgedrückt – eine Krise des Kapitalismus herbeigeführt, die die industrielle Reservearmee wiederherstellte, und die es den Kapitalisten fortan erlaubte, hohe Profite zu realisieren.“

(The New Statesman, 13. Januar 2003, S. 21)

Sie hatten Erfolg damit: Unter dem Druck der Reservearmee, unter dem Druck der Austauschbarkeit beschäftigter Personen durch Arbeitslose haben sie es geschafft, die Löhne zu drücken, Leiharbeit massiv auszudehnen und insgesamt die Lohnquote, also den Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen drastisch zu drücken, von ungefähr 70 % auf etwas über 60 %.

Sie haben das bewusst getan. Sie werden von dieser Verantwortung auch durch die Wachstumskritiker entlastet. Denn eines der grundlegenden Glaubenssätze auch der meisten Wachstumskritiker ist, dass es seit den siebziger Jahren aus welöchen Gründen auch immer, vorzüglich aus „systemischen“ Gründen, kein ordentliches Wachstum mehr gegeben habe. An diese Mär glauben Rechte und Linke gleichermaßen – mit dem kleinen Unterschied, dass sich der Glaube für die Rechten auszahlt und einige von ihnen, wie der zitierte Brite, des Erfolgs ihres Coups freuen können.
In Deutschland ist wie in Großbritannien die Beschäftigungspolitik beginnend mit den siebziger Jahren bewusst heruntergefahren worden. Die Folgen müssen von Arbeitnehmern und den finanziell Schwächeren unserer Gesellschaft getragen werden. Das entscheidende: ihre Marktmacht auf dem Arbeitsmarkt ist massiv beschädigt. Die wachstumskritische Debatte verschärft diese Tendenz. Ohne dass dies nötig ist. Man müsste sich nur bemühen, Beschäftigung für das ökologisch Richtige zu schaffen.
Übrigens: wenn Menschen mit dem, was sie verdienen, ihre Familie nicht mehr ernähren können, wenn sie in Leiharbeit und Minijobs gedrängt werden, dann werden sie ihre Herzen auch nicht für die berechtigten ökologischen und sozialen Sorgen öffnen. Erst das Fressen, dann die Moral. Dieser Satz mag einem nicht schmecken. Richtig ist er dennoch.


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