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Titel: Der neue europäische Fiskalvertrag – ein klammheimlicher Systemwechsel

Datum: 13. Januar 2012 um 13:49 Uhr
Rubrik: Euro und Eurokrise, Europäische Union, Schulden - Sparen
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Während in Deutschland die Affären um den Bundespräsidenten die Schlagzeilen und die Nachrichtenlage beherrschen, wird in den Hinterzimmern von Europäischem Rat und EU-Kommission ein Vertrag vorbereitet, der schon im März 2012 auf einem Euro-Gipfel unterzeichnet werden soll und der alle Euroländer (und perspektivisch alle Mitgliedstaaten) der Europäischen Union dauerhaft auf einen strikten Kürzungs- und Austeritätskurs festlegen soll. Da die Regierungschefs sich nicht trauen den bestehenden EU-Reformvertrag von Lissabon [PDF – 901 KB] zu ändern, weil das in einigen Ländern nur über Volksabstimmungen möglich wäre, wird der neue „fiskalpolitischen Pakt“ außerhalb des bisherigen Rechts für die gesamte Europäische Union etabliert. Dennoch soll der Pakt für die Organe der Europäischen Union bis hin zum Europäischen Gerichtshof bindend sein. Anne Karras, die am Graduiertenkolleg “Die Zukunft des europäischen Sozialmodells” in Göttingen promoviert, hat sich mit dem Entwurf dieses neuen zwischenstaatlichen Fiskal-Vertrages auseinandergesetzt.

Wie schon vor und nach der Finanzkrise versagen die Medien ein weiteres Mal. Der neue Fiskal-Vertrag unter der Überschrift „Treaty on Stability, Coodination and Governance in the Economic and Monetary Union“, der drastische Verschärfungen der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten vorsieht und zu einer besseren wirtschaftspolitischen Koordinierung führen soll, und der tiefer in die nationale Souveränität der Mitgliedsstaaten und auch in unser Grundgesetz eingreift als vermutlich alle früheren EU-Verträge, wird in der öffentlichen Debatte nahezu verschwiegen.

Während die Medien von Bundespräsident Wulff „Transparenz“ für jedes Flugticket verlangen, bleibt ein geradezu systemverändernder Eingriff in bisheriges Recht der Mitgliedstaaten völlig intransparent, obwohl die Vertragsentwürfe offen zu Tage liegen.

So wird etwa mit der sog. „Schuldenbremse“ festgeschrieben, dass das „jährliche strukturelle Defizit“ in der Regel unter 0,5% liegen muss. Es wird erzwungen, dass bei einem Schuldenstand von mehr als 60% gemessen am BIP dieser um durchschnittlich um 1/20 pro Jahr verringert werden muss. Anne Karras rechnet vor, dass nach dieser Regelung Italien seine Schulden um 3% des BIP und Deutschland um 1% seines BIP (von 2 296,81 Mrd. Euro), also über 20 Mrd. Euro abtragen müsste, ohne dass das Parlament überhaupt noch darüber befinden könnte. Die Umsetzung würde sogar vom Europäischen Gerichtshof überwacht und bei einem Verstoß mit weiteren Sanktionen belegt werden können.

Die Vorgaben für die wirtschaftspolitische Koordinierung oder Konvergenz sind hingegen reine Absichtserklärungen. Ein außenwirtschaftlicher Stabilitätspakt, der die Leistungsbilanz-Ungleichgewichte zwischen den Euro-Mitgliedstaaten, also das Krebsübel der derzeitigen Krise abmildern könnte, kommt überhaupt nicht vor. Genausowenig ist eine Koordinierung der Steuerpolitik vorgesehen.

Aber lesen Sie mehr über die Details hier [PDF – 61 KB].


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