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Titel: Rainer Wend: “Sozialsysteme aus Steuern finanzieren” – neuer Ausweg aus der Krise des Sozialstaates?
Datum: 12. November 2004 um 16:51 Uhr
Rubrik: Sozialstaat, Steuern und Abgaben
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Karl Mai, Leser der NachDenkSeiten, Halle, den 24.10.04
Rainer Wend (SPD) ist Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Arbeit, hat also eine Schlüsselstellung im Parlament. Von ihm stammt der aktuelle Ausspruch, der o. a. zitiert ist. („Mitteldeutsche Zeitung“ v. 23.10.04, S. 4) Seiner Meinung nach „werden die sozialen Sicherungssysteme auch in Deutschland mittel- und langfristig von der Erwerbsarbeit abgekoppelt werden müssen.“
Hierzu mein Kommentar:
Im Zeitalter hektischer Vorschläge zur Rettung des Sozialstaates konnte man schon mancherlei Überraschendes erleben – Reformen „ohne Ende“ haben hohen Medienwert. Der neue Vorstoß von Rainer Wend liegt auf dieser Reform-Linie. Wem nützt er?
Eine partielle Steuerfinanzierung der Sozialleistungen in Deutschland ist längst üblich, denn der Staat zahlte z. B. im Jahr 2000 aus steuerlichen Einnahmen direkt 32,5% und damit sogar mehr als die Arbeitnehmer (28,2%) selbst. [1] Nun geht es darum, die gesamten Sozialleistungen oder einen überwiegenden Anteil aus Steuern zu finanzieren.
Die generelle Steuerfinanzierung der staatlichen Sozialsysteme würde zunächst als reine „Umfinanzierung“ erscheinen, denn sobald Sozialabgaben durch Steuern kompensatorisch ersetzt würden, blieben theoretisch die Sozialleistungen unverkürzt erhalten. Aber: die resultierenden Belastungen der „Umfinanzierung“ sind grundverschieden zu verorten:
So schließt sich der „ausweglose Kreis“ der Sozialstaatskrise wieder zum Ausgangspunkt der fehlenden Haushaltseinnahmen, die langsamer steigen als die Haushaltsausgaben. So ist die Sozialstaatskrise im Grund eine extreme Einnahmekrise des Staates, gleichgültig ob man noch weiter die Sozialabgaben oder künftig die Steuereinnahmen manipulieren würde.
Rainer Wend wird jedoch den vollen Beifall der ungeduldigen Unternehmerverbände erhalten, deren enormer Vorteil auf der Hand liegt. Selbst dann, wenn er eine nur schrittweise Vorgehensweise aus taktischen Gründen empfiehlt. Er kreiert die „Generalreform“ der kommenden Legislaturperiode im Bundestag bereits heute durch seinen Vorstoß. Steuerfinanzierte niedrige Sozialleistungen, auf Mindestniveau einer bis zur Türkei erweiterten EU, wäre eine Vision, die das Aktienkapital mit überschäumenden Kursexplosionen wegen der sprunghaften Renditesteigerungen quittieren würde.
[«1] BMGS, „Sozialkompass Europa“, Ausgabe 2003, S. 13
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