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Titel: Hartz IV im Doppelpack: Jobcenter und Kinderzuschüsse

Datum: 12. Februar 2010 um 14:59 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Hartz-Gesetze/Bürgergeld
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Der FDP Vorsitzende, Guido Westerwelle, inszeniert erneut seine Diffamierungsorgien gegen die sozial Schwachen in unserer Gesellschaft – sozusagen als zynisches Patentrezept, um die FDP aus dem Umfragetief zu holen. Gleichzeitig verpasst das Bundesverfassungsgericht der Politik zum zweiten Mal in Sachen Hartz IV eine schallende Ohrfeige. Das Gericht verlangt, die Job Center sowie die Regelsätze für Hartz IV und dabei vor allem die Kinderzuschüsse auf eine verfassungsgemäße gesetzliche Grundlage zu stellen. Von Ursula Engelen-Kefer

In beiden Fällen war die Politik wechselnder Regierungskoalitionen nicht in der Lage, bedarfsgerechte und verfassungsfeste Lösungen zu finden. In beiden Fällen hat das Bundesverfassungsgericht die Reißleine gezogen und vom Gesetzgeber verfassungskonforme Änderungen verlangt: Für die Job Centern hat Karlsruhe eine verfassungswidrige Mischverwaltung festgestellt. Die derzeitigen Kinderzuschüsse und (jedenfalls teilweise) auch die gesamten Regelsätze bei Hartz IV werden als intransparent, nicht bedarfsgerecht und damit verfassungswidrig gerügt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt in beiden Fällen eine gesetzliche Neuregelung bis zum 31.12.2010.

Bei den Job Centern geht es um erheblich mehr als nur um die Organisation bei der Betreuung Langzeitarbeitsloser und ihrer Familien: es geht vielmehr um Hoffnungslosigkeit oder Zukunft bzw. um Ausgrenzung oder Integration für 7 Millionen Menschen in Deutschland. Das sind immerhin beinahe 10 Prozent unserer Bevölkerung und nahezu ein Viertel der Erwerbstätigen; es geht auch um etwa 60 000 Beschäftigte von Arbeitsagenturen und Kommunen und um ein Jahresbudget von inzwischen 48 Mrd. Euro mit steigender Tendenz. Und es geht vor allem auch um das Schicksal von 2,2 Millionen Kindern und Jugendlichen in Hartz IV-Familien.

Damit sind wir beim zweiten Thema, das die Gemüter erregt: die wachsende Kinderarmut in einer der reichsten Volkswirtschaften dieser Erde. Gerade hat das Bundesverfassungsgericht in aller Klarheit angemahnt, dass die derzeitige Berechnung der Kindersätze als abgeleitete Prozentanteile an der Grundsicherung für Erwachsene gestaffelt nach Altersgruppen (bis 6 Jahre:60 Prozent; bis 14 Jahre 70 Prozent; bis 18 Jahre 80 Prozent) verfassungswidrig und mit dem Grundsatz einer transparenter und bedarfsgerechten Gesetzgebung nicht zu vereinbaren sei. Damit hat das Bundesverfassungsgericht die grundsätzliche Kritik an der Festlegung der Kinderzuschüsse bei Hartz IV bestätigt, die das Bundessozialgericht bereits im Frühsommer letzten Jahres festgestellt hat. Man fragt sich nur, warum musste die Großen Koalition bis zum 27.September 2009 und dann die schwarz-gelben Koalition so lange untätig bleiben, bis sie sich eine erneute schallende Ohrfeige vom Bundesverfassungsgericht einhandelten.

Ebensowenig ist es nicht nachvollziehbar, dass die Große Koalition auch nach zweijährigem Ringen nicht in der Lage war, mit ihrer komfortablen Zweidrittelmehrheit eine nachhaltige Lösung für die Jobcenter zustande zu bringen. Es mutet da schon ziemlich merkwürdig an, wenn jetzt die CDU/CSU und die SPD als ehemalige Regierungs- und jetzige Oppositionspartei dieses Projekt stemmen wollen. Täglich lesen und hören wir von beiden Seiten die Bereitschaft zur Änderung des Grundgesetzes für eine Absicherung der Job Center, für die es in der Großen Koalition jedoch keine Mehrheit gab. Doch bei näherem Hinsehen zeigen sich fundamentale Unterschiede in den Ausgangspositionen. Die CDU Ministerpräsidenten als Initiatoren dieses erneuten Vorstoßes zur Verfassungsänderung wollen vor allem die derzeit 69 Optionskommunen (d.h. die alleinige Verantwortung der Kommunen für die Betreuung von Langzeitarbeitslosen) absichern und ausweiten. Diese Regelung würde nämlich in diesem Jahr nach dem Ende der im Gesetz festgelegten Experimentierphase auslaufen.

Doch zunächst noch einmal zurück zum Kinderzuschlag bei Hartz IV. Der gesellschaftliche Skandal der anhaltend hohen und steigenden Kinderarmut in Deutschland kann nicht isoliert bewertet und bekämpft werden. Die Ursachen liegen in der außergewöhnlich großen Zahl von Hartz IV Familien in Deutschland auch im Vergleich zu anderen europäischen Nachbarländern. Daran hat sich in den jetzt fünf Jahren von Hartz IV nichts verändert – im Gegenteil, Kinderarmut hat zugenommen. Welche Perspektive haben Kinder, die in Hartz IV Familien oder ganzen Hartz IV Wohngemeinschaften und Schulklassen heranwachsen? Wenn in Deutschland Millionen Männer und Frauen mit Kindern über Jahre hinweg nicht aus der Hartz IV-Falle herauskommen, ist viel grundsätzlicher nach den Ursachen zu forschen. Dies ist der wesentliche Auftrag aus beiden Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes.

Dringend erforderlich wäre ein Paradigmenwechsel bei Hartz IV- vom Fordern auf das Fördern. Dazu müsste es schnellstens eine nachhaltige Lösung nicht nur der Betreuung, sondern vor allem der beruflichen Eingliederung der Langzeitarbeitslosen geben. Nach dem Gesetz gibt es eine Fülle wirksamer Eingliederungsmaßnahmen – von Lohnkostenzuschüssen, über Weiterbildung bis zur Förderung existenzsichernder Arbeit. In der Praxis überwiegen aber auch nach fünf Jahren immer noch kurzfristige Trainings- und vor allem Ein Euro-Jobs sowie die Kombination von ALG II und geringfügiger Beschäftigung (400 Euro Jobs). Mit beiden Maßnahmen kommen aber Langzeitarbeitslose aus der Hartz IV Falle nicht heraus.

Hier besteht auch ein enger Zusammenhang mit den vielen Unklarheiten und Unsicherheiten bei der Organisation von Hartz IV in den Job Centern und den Optionskommunen.

Notwendig wäre jetzt, die mühselig zusammengewachsenen organisatorischen und personellen Strukturen in den Job Centern nicht wieder auseinander zu reißen, sondern darauf aufzubauen. Dies ist in dem Gesetzesvorschlag der SPD zur Einrichtung der Zags vorgesehen, wobei der Vorteil darin besteht, die unterschiedlichen Organisations- und Personalstrukturen zusammenzuführen. Dafür wäre allerdings die Änderung des Grundgesetzes erforderlich. Ein ungelöstes Problem ist und bleibt dabei die Zukunft der 69 Optionskommunen. Untersuchungen und Erfahrungen belegen dort erhebliche Nachteile bei der Vermittlung und Integration in Arbeit. Zudem mangelt es an der notwendigen Transparenz und Zusammenarbeit mit den Arbeitsagenturen.

Hier scheiden sich nach wie vor die politisch-ideologischen Geister: Roland Koch als Verhandlungsführer auf der Seite der CDU Ministerpräsidenten setzt nun gerade auf die Ausweitung der kommunalen Betreuung Langzeitarbeitsloser. Der Landkreistag, der die Klage gegen die Argen vor dem Bundesverfassungsgericht angestrengt hatte, dankt es ihm. Für die Landkreise mit geringerer Arbeitslosigkeit, schwindenden Aufgaben und Finanzen wäre das eine willkommene „Finanzspritze“, weil sie damit die enormen Mittel des Bundes für die Hartz IV-Leistungen zur alleinigen Betreuung der Langzeitarbeitslosen erhielten. Dann gäbe es ein beachtliches Finanzpolster für die kommunalen Beschäftigungsgesellschaften. Über die Ein-Euro-Jobs mit ihren üppigen Pauschalen für Ausgaben der Träger könnten die Kommunalhaushalte ein Stück weit saniert werden. Mit den beträchtlichen Infrastrukturinvestitionen für die Betreuung der Langzeitarbeitslosen könnten lokale Betriebe und Träger bedient werden. Die unliebsamen Eingliederungsleistungen – z.B. für gesundheitlich Eingeschränkte und schwerbehinderte Langzeitarbeitslose – würden dann gerne der Bundesagentur für Arbeit gegen Gebühren überlassen.

Es wäre nur folgerichtig, wenn das „Fördern“ und damit die Eingliederung in Arbeit in den Vordergrund gestellt wird, dem Bund und damit auch der Bundesagentur für Arbeit klare Verantwortlichkeiten für die Feststellung der Erwerbsfähigkeit, die Zahlung der ALGII Leistungen und die Arbeitsmarktpolitik zu übertragen. Nur dann könnte die kommunale Kirchturmspolitik überwunden und eine konsequente Eingliederungspolitik betrieben werden. Die Kommunen sollten sich auf ihre ureigensten Aufgaben konzentrieren, die flankierenden sozialen Hilfen, die für eine berufliche Eingliederung unabdingbar sind. Erfolgreiche kommunale Beschäftigungsgesellschaften könnten durchaus weiter in die arbeitsmarktpolitischen Konzepte der BA einbezogen werden.

Allerdings gehen die Präferenzen für die Optionskommen über die Parteigrenzen hinweg. Jetzt hat die Spitze der SPD in Fraktion und Partei zu erkennen gegeben, dass sie sogar eine moderate Ausdehnung der Optionskommunen mittragen könnte. Die bange Frage stellt sich, ob die in der CDU gehandelte Ausweitung auf bis zu 160 Optionskommunen noch unter „moderat“ zu fassen ist. Eher nicht: vor allem aber würde dies erhebliche organisatorische und personelle Reibungsverlust gerade in einer Zeit erneut ansteigender Arbeitslosigkeit und Langzeitarbeitslosigkeit nach sich ziehen. Höchst fragwürdig ist, wie der zwischen Bundesarbeitsministerin von der Leyen und den CDU Ministerpräsidenten ausgehandelte Kompromiss einer Ausweitung der Optionskommunen einerseits und einer einheitlichen Bundesaufsicht andererseits praktisch umzusetzen ist.

Ähnlich sieht es aus, wenn als Konsequenz des Bundesverfassungsgerichtsurteils zur Grundsicherung und zu den Kindersätzen bei Hartz IV nur ein endloses politisches Gefeilsche über die richtigen Berechnungsmethoden, Leistungsarten und Regelsätze herauskäme. Dabei bleibt gar keine andere Wahl, als dem Votum des Bundesverfassungsgerichtes zu folgen und eine transparente und bedarfsgerechte Festlegung der Leistungssätze für betroffenen Kinder zu erarbeiten. Dabei müssen natürlich gerade für Kinder ausreichende Möglichkeiten für Bildung im umfassenden Sinn einbezogen werden.

Genauso wichtig wäre es allerdings die Rahmenbedingungen für die Zukunft der Kinder und Jugendlichen aus Hartz IV Familien zu verbessern, vorschulische Förderung, die Ganztagsbetreuung, das Herausholen aus dem Hartz IV-Ghetto, Verbesserung der sprachlichen Voraussetzungen, Ganztags- und Gesamtschulen mit ausreichender soziapädagogischer Betreuung.

Wenn jetzt darüber gejammert wird, dass eine Erhöhung der Leistungssätze für Kinder dazu führe, dass sich Arbeit noch weniger lohne und noch mehr Menschen in Hartz IV fielen, ist das geradezu pardox. Sollten wir uns nicht vielmehr darüber empören, dass Millionen Arbeitnehmer so niedrige Löhne beziehen, dass eine eigenständige menschenwürdige Existenz für sie und ihre Familien nicht mehr möglich ist. Wieweit ist unsere gesellschaftliche Verantwortung gesunken, wenn die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Berücksichtigung der Teilhabe an Bildung und kulturellem Leben für Kinder als unzulässige Aufblähung der Kosten für Hartz IV gebrandmarkt wird? Derartige Hartz IV-Leistungen sind gut angelegte Investitionen in die Zukunft. Dabei ist allerdings sicherzustellen, dass diese Leistungen auch bei den Kindern ankommen.

Die Schieflage unseres Sozialsystems liegt nicht in zu hohen Regelsätzen für Hartz IV-Kinder, sondern in zu wenig existenzsichernder Arbeit und zu niedrigen Löhnen für ihre Eltern. Hier müsste vor allem angesetzt werden. Eine aktive Beschäftigungspolitik und die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes, der vor Armut schützt, sind das beste Bollwerk gegen Hartz IV als Faß ohne Boden und ohne Perspektive für die betroffenen Kinder.


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