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Titel: Albrecht Müller E. Elf Mythen, den Komplex Schulden, Staatsquote und Sozialstaat betreffend

Datum: 30. November 2004 um 15:10 Uhr
Rubrik: Finanzpolitik, Veröffentlichungen der Herausgeber, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich:

Auszug aus: “Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren.” Seiten 289 – 312:

Sehr viele Menschen machen sich Sorgen um die Staatsverschuldung – vor dem Hintergrund der Geschichte unseres Landes mit Inflation und Währungsreform sehr verständliche Sorgen. Deshalb ist Sparen in Deutschland eine ernsthafte und populäre Angelegenheit. Das Problem jedoch ist, wie man wirklich sparen kann und wie man es schaffen könnte, von den hohen Schulden runterzukommen. Die bisherigen Versuche jedenfalls waren nicht erfolgreich. Dabei fehlt es nicht am guten Willen, eher schon am Verständnis dafür, wie man in einer Volkswirtschaft sparen kann. Das geht, jedenfalls wenn man es richtig anpackt. Auch Deutschland kann, wenn die richtige Wirtschaftspolitik gemacht wird, seine Schulden wieder abbauen. Es gibt keinen Grund zur Panik.
Viele ziehen eine direkte Verbindung zwischen Staatstätigkeit und Ausbau des Sozialstaats einerseits und zum Stand der Schulden andererseits. Diese Beziehung ist nicht zwangsläufig so. Wer glaubt, an den hohen Staatsschulden sei der Sozialstaat schuld, macht es sich zu einfach. Die soziale Sicherung gegen die Risiken des Lebens kann hocheffizient sein und um vieles sicherer als sich auf die Eigenverantwortung zu verlassen. Viele Probleme unseres Landes, gerade beim Zusammenwachsen der sehr uneinheitlichen Teile Deutschlands, sind ohne Solidarität ohnehin nicht zu lösen.
Was soll staatlich organisiert werden und was privat? Ist Deregulierung angesagt oder brauchen wir gelegentlich sogar mehr Regeln? Sollen staatliche Unternehmen weiter privatisiert werden? Das sind Fragen, die man nicht mit vorgefertigten Ideologien beantworten kann. Wir müssen uns angewöhnen, die Antworten auf solche Fragen ohne Scheuklappen und Vorurteile zu optimieren.
Bei den heute so gängigen Reformdebatten werden die Kosten der deutschen Einheit in der Regel nicht als ein Faktor, der unsere volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit belastet, in Rechnung gestellt. Was einheitsbedingt ist – etwa der Anstieg der Schuldenquote oder der Sozialabgabenquote oder der Nettokreditaufnahme –, wird in vielen Debatten der Sozialstaatlichkeit zugeschrieben. Wir beobachten so den erstaunlichen Vorgang, dass die deutsche Einheit und ihre Folgekosten benutzt werden, um das Sozialstaatsversprechen des Grundgesetzes zu unterwandern und auszuhöhlen. Auch dieser Versuch gründet auf Denkfehlern, auf Lügen und Legenden. Sie werden in den folgenden Kapiteln analysiert.

Denkfehler 30: »Wir sind überschuldet.«

Variation zum Thema:

»Das geht zu Lasten unserer Kinder.«

Dass viele Menschen Sorge haben, der Staat sei überschuldet, und dass sie das bedrückt, das kann man sehr gut verstehen, zumal in Deutschland. Die Erinnerung an Inflation und Staatsverschuldung in den zwanziger und dreißiger Jahren ist noch nicht aus den Köpfen. Die überlieferte Sorge wird wachgehalten, und dagegen wäre auch nichts zu sagen, wenn damit nicht ganz bewusst Ängste geschürt würden.
Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte betrug 2003 etwas mehr als 1,3 Billionen Euro. Die Einordnung und Bewertung dieser dramatisch erscheinenden Zahl ist nicht einfach. Dazu einige relevante Fakten und Argumente.

Vorübergehend Schulden zu machen kann sinnvoll sein

Selbstverständlich wäre es am besten, der Staat, also Bund, Länder, Gemeinden und die öffentlichen Einrichtungen und Körperschaften, hätte keine oder wenige Schulden. An drei Beobachtungen wird jedoch sichtbar, dass sich dieses Vorhaben nicht immer realisieren lässt und dass es kein Drama ist, wenn staatliche Stellen vorübergehend Schulden machen:

  1. Wenn die Konjunktur einbricht, wie in den siebziger Jahren wegen der Ölpreisexplosionen oder wie in den achtziger und neunziger Jahren wegen einer falschen Konjunkturpolitik, dann macht es Sinn, vorübergehend Schulden zu machen. Volkswirtschaftlich betrachtet kann es nämlich sinnvoll sein, Schulden zu machen, um am Ende weniger Schulden zu haben. Dieser Zusammenhang wird in Denkfehler Nr. 31 (siehe S. 305) ausführlich erläutert. Diejenigen, die darauf hinweisen, dass die Schulden dann in guten Zeiten aber wieder abgebaut werden sollten, haben recht. Nur hatten wir in den letzten zwanzig Jahren solche guten Zeiten (im Sinne ausreichender Beschäftigung unserer Volkswirtschaft) nicht.
  2. Auch in einer Demokratie ist es möglich, dass über einen längeren Zeitraum hinweg dringliche Probleme nicht erkannt werden. Wenn sie dann wahrgenommen werden, besteht hoher Investitionsbedarf. So wurde in den fünfziger und sechziger Jahren beispielsweise die Bildung und Ausbildung der Kinder aus Familien mit geringerem Einkommen vernachlässigt. Sie hatten kaum Chancen, weiterführende Schulen und Universitäten zu besuchen. Damit hat der Staat Geld gespart. In den Sechzigern hat man aber gemerkt, dass der Staat zweckmäßigerweise in Schulen, in Lehrern und in Hochschulen investiert, um Begabungsreserven zu mobilisieren. Es macht in einer solchen Situation Sinn zu investieren, diese Investitionen teilweise auch mit Schulden zu bezahlen und diese später wieder zurückzuzahlen. Unter Beteiligung aller Generationen. Das gleiche gilt für die lange Zeit nicht entdeckte Problematik des Umweltschutzes. Ein praktisches Beispiel: Ende der sechziger Jahre drohte der Bodensee »umzukippen«. Dann wurde rund um den ganzen See in Kläranlagen investiert. Heute versorgt er Stuttgart und andere Städte in Schwaben mit sauberem Wasser und ist zugleich ein Kleinod für Erholungssuchende. Die Kläranlagen, die Wasserleitungssysteme und Energiesparsysteme, in die vor allem anfangs der siebzigiger Jahre investiert worden ist, konnte man zu Recht teilweise auf Pump finanzieren. Sie kommen späteren Generationen genauso zugute wie die Investitionen in Universitäten und andere Bildungseinrichtungen.
    Auch wenn eine Gesellschaft neu entdeckt, dass sie in Verkehrsinfrastruktur wie etwa die öffentlichen Nahverkehrssysteme oder die Schnellstrecken der Deutschen Bahn investieren muss, kann man diese Ausgaben nicht nur der gerade lebenden, arbeitenden und Steuern zahlenden Generation anlasten. Das ist auch früher beim Bau von U-Bahn-Systemen, dem Aufbau eines Schienennetzes oder dem Bau des Suez-Kanals nicht anders gewesen.
  3. Der dritte Hinweis gilt den Kosten der deutschen Vereinigung. Diese Kosten sind hoch – rund 83 Milliarden Euro an Transferleistungen waren allein 2003 fällig. Parallel dazu stiegen die Schulden des Staates (siehe Abbildung 12).

Abbildung 12: Jährlicher Anstieg der Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte (in Milliarden Euro) in den Jahren um die Wiedervereinigung

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<p class=Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/04, Berlin 2003, S. 573

1988 betrug die Gesamtverschuldung 461 Milliarden Euro. Sie stieg in diesem Jahr um 27,7 Milliarden, 1990 dann mit 63,7 Milliarden um mehr als das Doppelte, in den folgenden Jahren um 60, 87, 83, 78, 170 und 68 Milliarden Euro. In der Phase des höchsten Engagements, zwischen 1990 und 1998, stieg sie um insgesamt 690 Milliarden und damit um das 1,5fache des gesamten Schuldenstands von 1988.
Dabei wurde ein Teil der Staatsausgaben sogar den Sozialversicherungssystemen aufgedrückt. Die Schulden wären noch ein ganzes Stück höher, wenn die Arbeitnehmer mit ihren Beiträgen nicht einen beachtlichen Teil der Soziallasten der Vereinigung und der Sozialfolgelasten getragen hätten und noch immer tragen würden (Näheres dazu siehe Denkfehler Nr. 40, S. 364).

Tabelle 25: Schuldenstand der öffentlichen Haushalte in Deutschland 1970, 1980, 1990, 2000 und 2003

Tabelle 25: Schuldenstand der öffentlichen Haushalte in Deutschland 1970, 1980, 1990, 2000 und 2003

[1] Der »Ausreißer« von 1995 mit 170,6 Milliarden folgte daraus, dass das »Vermögen« der Treuhand in das Bundesvermögen übernommen wurde. Da die Treuhand hohe Schulden hatte, stieg die Bundesschuld um diesen extrem hohen Betrag.

Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Jahresgutachten 2003/04, Berlin 2003, S. 573

Wenn man sich die Entwicklung der Staatsschulden (Gesamtverschuldung) im Zeitablauf seit 1970 anschaut (siehe Abbildung 25), stellt man fest, dass die Schulden 1970 noch niedrig lagen, um dann mit 175,2 Milliarden bis zum Jahr 1980 beachtlich anzusteigen. Das ist zum einen die Folge der Reformpolitik und der damit verbundenen Investitionen in den siebziger Jahren, zum anderen eine Folge der Konjunktureinbrüche durch die Ölpreisexplosionen. Selbst unter Beachtung der Preissteigerungen schneiden die siebziger Jahre nicht schlechter ab als die achtziger Jahre; nominal ist der Zuwachs in den Siebzigern mit 175 Milliarden geringer als in den achtziger Jahren mit 299 Milliarden; der eigentliche Anstieg der Schulden fiel mit 673 Milliarden in die Zeit der neunziger und der folgenden Jahre.
Der Vergleich zwischen den achtziger und den siebziger Jahren ist deshalb von Interesse, weil die siebziger Jahre in der heutigen Debatte einer besonderen Ächtung unterliegen. Die Ironie der Geschichte will jedoch, dass der Schuldenzuwachs in diesen zehn Jahren trotz Ölpreisexplosionen und den daraus folgenden Konjunktureinbrüchen und trotz der dagegengesetzten Konjunkturprogramme und der ausgabewirksamen Reformen jener Zeit deutlich geringer ausfiel als in den Achtzigern – jenem Jahrzehnt, das schon wesentlich von den politischen und ideologischen Kräften bestimmt war, die nichts von Konjunkturankurbelung halten und den Staatshaushalt durch angebliches Sparen sanieren wollen. Dass das offensichtlich aber nicht funktioniert, kann man bis heute sehen (siehe dazu auch Denkfehler Nr. 31, S. 305).

Die Linken und die Keynesianer machen Schulden, die Wirtschaftsliberalen und die Angebotsökonomen sparen? – Ein persönlicher Bericht zu einem gängigen Vorurteil:

Seit über dreißig Jahren bürden die Politiker unseren Kindern jedes Jahr neue Schulden auf – ohne Ausnahme.


Hans-Olaf Henkel, 8.5.2003

Dank solcher Sprüche wie des oben zitierten von Hans-Olaf Henkel, dem früheren Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), ist in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden, fürs Schuldenmachen seien die Politiker und da wieder vornehmlich die Linken und die Gewerkschaften verantwortlich; die Wirtschaft, die Konservativen und die Neoliberalen stehen fürs Sparen. In der Praxis sieht die Welt anders aus, viel bunter und differenzierter. Dazu ein kurzer Bericht aus meiner praktischen Tätigkeit als Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt und als Bundestagsabgeordneter:

  • 1972 wurde die gesetzliche Rentenversicherung für Selbständige geöffnet. Das war hilfreich für Selbständige mit schlechter Vorsorge für das Alter, aber ein teures Unternehmen, das die Beitragszahler der Rentenversicherung belastete – auf Betreiben der FDP.
  • In den Neunzigern wurden Hunderttausende in den Vorruhestand verabschiedet, verbunden mit großen Belastungen für die Beitragszahler und letztendlich auch den Staatshaushalt – Betreiber waren die begünstigten Arbeitnehmer und die Industrie. Wo blieb der Protest des Industriepräsidenten?
  • Im Milliardengrab des Atomreaktors Schneller Brüter wurden 7 Milliarden Mark versenkt – von rechtzeitigen Warnungen des Bundesverbands der Deutschen Industrie ist mir ebensowenig etwas bekannt wie von kritischen Stellungnahmen des BDI zu den Milliarden für den Transrapid und für die bemannte Weltraumfahrt.
  • Die Planungsabteilung des Bundeskanzleramts hat es in den siebziger Jahren in Auseinandersetzungen mit dem von der FDP geführten Wirtschaftsministerium geschafft, die Energieverbrauchsprognosen aus der Verkoppelung mit der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts zu lösen, sparsam mit Energie umzugehen und damit Milliarden unnötiger Subventionen zu vermeiden. Ohne Unterstützung der Wirtschaft.
  • Der Staat könnte Milliarden sparen, wenn er endlich das Steuerprivileg »Ehegattensplitting« begrenzen, würde. Aber das würde die hohen Einkommen betreffen, deren Steuer dann nicht mehr nach dem geringeren Satz berechnet würde, den die Steuertabelle für Ehepaare vorsieht. Von Hans-Olaf Henkel kenne ich keine Forderung nach Begrenzung des Ehegattensplittings.
  • Die Planungsabteilung hat den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt überzeugt, dass es fiskalisch und sozial Unsinn wäre, wenn der Bund, wie vom liberalen Bundesinnenminister gefordert, 2000 DM pro Geburt zahlen würde; wir wiesen darauf hin, dass mit diesem einmaligen finanziellen Anreiz weder den Frauen noch den zusätzlich geborenen Kindern geholfen wäre, wenn man nicht Mittel für weitere Hilfen bereitstellt. Dem Bund wurden so Milliardenausgaben erspart. Unterstützung von konservativer Seite gab es nicht.
  • Die Planungsabteilung hat Bundeskanzler Helmut Schmidt 1978 davon überzeugt, dass es haushalts- und gesellschaftspolitisch Wahnsinn wäre, wenn der Bund öffentliches Geld für die Flächenverkabelung und damit für die Vermehrung der Fernsehprogramme und ihre Kommerzialisierung ausgäbe; Kanzler Kohl hat für diese Art von Fernsehförderung und zur Unterstützung seines Freundes Kirch und der anderen Kommerzsender mindestens 10 Milliarden Mark ausgegeben. Das Kabel gilt bis heute als wirtschaftlich nicht attraktiv.

Die Polemik gegen die siebziger Jahre wäre um vieles glaubwürdiger, wenn jene, die schon ab Mitte der siebziger Jahre wesentlichen Einfluss auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie auf die Geld- und Zinspolitik hatten und mit der Wende von Schmidt zu Kohl 1982 selbst das Ruder in die Hand bekamen, wenigstens andeutungsweise zeigen könnten, dass sie mit ihrer Linie Erfolg hatten. Selbst wenn man die besondere Beanspruchung durch die deutsche Vereinigung in Rechnung stellt, kann man jedoch in den Neunzigern – wie in den Achtzigern – keinen nachhaltigen Erfolg der Wirtschaftsliberalen feststellen. Wenn sie sich Sorgen um die Schulden machen, sollten sie sich mit den achtziger und nenziger Jahren beschäftigen.

Deutschland ist kein besonders sündiger Schuldenmacher

Will man die Entwicklung der Schulden in Deutschland, auch unter Beachtung der deutschen Vereinigung, richtig bewerten, dann macht es Sinn, diese Daten mit denen anderer Länder zu vergleichen. Um die Vergleichbarkeit herzustellen, eignet sich das Verhältnis von Staatsverschuldung zum Bruttoinlandsprodukt, das heißt man setzt die Staatsschulden in Beziehung zu den Gütern und Dienstleistungen, die wir in unserer Volkswirtschaft jährlich produzieren (siehe dazu Tabelle A3 im Anhang, S.408). Ein solcher Vergleich zeigt: Die Schulden des Gesamtstaats – also Bund, Länder und Gemeinden zusammengerechnet – machten im Jahr 2002 62,4 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts aus. Wir haben also in diesem einen Jahr gut ein Drittel mehr produziert als wir insgesamt bräuchten, um die Staatsschulden zurückzuzahlen. Das haben wir zwar nicht vor, aber es zeigt die Größenordnung der Staatsschulden im Vergleich zu der jährlichen und bisher immer wiederkehrenden Wirtschaftsleistung. Selbstverständlich wollen und können wir nicht unser ganzes Bruttoinlandsprodukt für die Tilgung von Schulden verwenden, denn wir wollen leben und nicht nur Schulden zurückzahlen. Aber der Vergleich der Schulden mit der Wirtschaftsleistung pro Jahr nimmt den in der Öffentlichkeit diskutierten Zahlen etwas von ihrer Dramatik.
Wir haben also 62,4 Prozent Schulden gemessen an der jährlichen Leistung. Die Vergleichsziffer für Österreich lag bei 67,6 Prozent, die für Belgien sogar bei 105,4 Prozent, die für Großbritannien bei 50,3 Prozent, die der Vereinigten Staaten bei 61 Prozent, und ganz hoch lag sie für Japan mit 147,2 Prozent; die vielgerühmten Schweden liegen mit 59,7 Prozent nicht weit von uns entfernt (allerdings muss man mit Respekt anerkennen, dass die Schweden in den letzten Jahren die Schuldenrelation verringert haben), Frankreich hat mit 67,1 Prozent einen höheren Schuldenstand als wir. (Alle genannten Ziffern beziehen sich auf 2002.)

Wenn man das Verhältnis von Schulden und Bruttoinlandsprodukt einerseits und diese Rate im Vergleich zu anderen Ländern andererseits nüchtern betrachtet, zieht man der bei uns üblichen Dramatisiererei schon den Boden unter den Füßen weg. Weder in Frankreich noch in den USA, in Österreich oder Schweden gibt es eine vergleichbar hysterische Debatte. Es ist aufschlussreich, die genannten Ziffern mit den Daten von 1991 zu vergleichen, also dem Jahr nach der deutschen Vereinigung. Damals lagen wir mit 38,8 Prozent noch ganz niedrig, niedriger als Großbritannien mit 44,3 Prozent, Österreich mit 57,5 Prozent weit über uns, genauso Dänemark mit 71,8 Prozent, das seine Schulden übrigens in Relation zum Bruttoinlandsprodukt abgebaut hat und heute nur noch bei 51,9 Prozent liegt. Auch Deutschland hat in den neunziger Jahren Schulden abzubauen versucht, aber die Sparversuche zwischen 1992 und 1997 waren konjunkturelle und fiskalische Fehlschläge, die Wachstumsrate erreichte im Durchschnitt nur einen (schlechten) Wert von 1,2 Prozent, die Arbeitslosenquote stieg von 8,5 Prozent auf 12,7 Prozent. Trotz Sparversuchen ist es in dieser Phase nicht gelungen, den Bundeshaushalt zu konsolidieren. Das hängt mit der deutschen Einheit zusammen, aber nicht nur (siehe dazu Denkfehler Nr. 31, S. 305).

Warum jammern der Grünenpolitiker und Fellow der Bertelsmann Stiftung Oswald Metzger und der Spiegel-Redakteur und Buchautor Gabor Steingart und all die Initiativen und Konvente, die bei uns so vehement gegen Deutschland Stimmung machen, nicht auch über die Staatsschulden von Österreich und von Frankreich, von Japan und Belgien oder in den USA und vor allem über deren Auslandsverschuldung? Da gäbe es unendlich viel mehr zu beklagen als über das eigene Land. Warum engagieren sich diese gut besoldeten Kritiker so vehement dafür, die Lage des eigenen Landes so schwarz zu malen? Wenn ihre Sorge um die Schulden echt wäre, müssten sie sofort aufhören, den Standort Deutschland mieszumachen, denn diese Miesmacherei ist Gift für die dringend notwendige Belebung unserer Konjunktur und des Wachstums in Deutschland.

Nur über eine bessere Auslastung der Kapazitäten und den Abbau der Arbeitslosigkeit wird es gelingen, mehr Steuern einzunehmen und Schulden zurückzuzahlen. Die Wirtschaftsbelebung ist die Grundvoraussetzung für wirkliches Sparen. Dass man mit Deklarationen und schönen Bekenntnissen nicht weiterkommt, müsste sich nach der Erfahrung mit dem »Sparkommissar« Hans Eichel langsam herumsprechen. Trotz bester Absichten hat er es seit 1999 nicht geschafft, Schulden abzubauen, im Gegenteil. Seine vom Mainstream der Meinungsmacher beklatschte »Sparpolitik« hat die Konjunktur weiter in den Keller getrieben und mit ihr die Einnahmen an Steuern und Sozialbeiträgen.

Die außerordentliche Veränderung der deutschen Schuldenrate in Relation zu anderen Ländern spiegelt deutlich erstens die große finanzielle Last wider, die die Vereinigung mit sich gebracht hat, und zweitens die miserable Auslastung unserer volkswirtschaftlichen Kapazitäten und damit die miserable Konjunkturpolitik nach neoliberalem Muster. Wenn es uns gelänge, die Kapazitäten unserer Volkswirtschaft richtig auszu Lasten, würden wir auch den Einigungsprozess besser bewältigen und wären nicht so in die Staatsverschuldung geraten. Nach Schätzungen gehen uns durch die Unterauslastungen jährlich 150 Milliarden Euro verloren. Selbst wenn nur ein Teil davon zur Vermeidung weiterer Verschuldung genutzt worden wäre, hätte das über einen Zeitraum von zwölf Jahren ausgereicht, um die Verschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt wenigstens auf dem Niveau von 1990 zu halten.

Wir sind überschuldet, das geht zu Lasten unserer Kinder?

Von Überschuldung spricht man normalerweise, wenn die Passiva die Aktiva übersteigen. Es gibt keine Belege dafür, dass dies bei unserer Volkswirtschaft oder beim Staat der Fall ist. Vielmehr hat Deutschland eine aktive Vermögensbilanz gegenüber dem Ausland. Die Kinder erben nicht nur die Schulden, sondern auch die Forderungen. Und sie erben die Infrastruktur.

Seit über dreißig Jahren bürden die Politiker unseren Kindern jedes Jahr neue Schulden auf – ohne Ausnahme.« Hans-Olaf Henkel, 8.5.2003 »Wir dürfen heute nicht aufessen, wovon morgen unsere Kinder und Enkel auch noch leben wollen.


Gerhard Schröder, 01.05.2003

Ob man sagen kann, wir lebten zu Lasten unserer Kinder, hängt unter anderem davon ab, wie man die Infrastruktur bewertet. Wenn man der Meinung ist, dass die vorherige Generation und die jetzige Generation eine Menge aufgebaut haben, auf dem unsere Kinder und Enkel weiterbauen können, dann ist es nicht schlimm, wenn diese Investitionen zum Teil über Kredite finanziert worden sind und auch die künftigen Generationen daran abzahlen. Wenn man allerdings der Meinung ist, dass wir unser Haus und die Infrastruktur haben verlottern lassen, sieht das kritischer aus. Meine zwanzigjährige Tochter macht mich in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass allein der Neubau der Bahnstrecke von Köln nach Frankfurt rund 6 Milliarden Euro gekostet hat. Die Strecke von Nürnberg nach Erfurt kostet rund 5 Milliarden, und für den Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin waren 10 Milliarden Euro veranschlagt. Wenn man die 11 Milliarden Euro, die alleine für zwei Eisenbahnteilstrecken aufgewendet wurden, und die Umzugskosten der Regierung in Relation setzt zu den 1300 Milliarden Euro Staatsverschuldung und bedenkt, wie viele Investitionen dieser Art es in Deutschland gibt, dann verliert man den Schrecken vor einer vermeintlichen Überschuldung.
Sollen übrigens der Umzug und die damit zusammenhängenden Bauten in Berlin allein von der jetzt arbeitenden Generation bezahlt werden? Als Abgeordneter habe ich damals zwar gegen den Umzug gestimmt, weil ich dies in Zeiten europäischer Integration für eine Fehlinvestition hielt. Aber die Mehrheit war anderer Meinung. Dem habe ich mich wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger zu fügen, und ich verteidige das Verfahren, die Kosten nicht nur einer Generation anzu Lasten. Dass die heute erwachsene Generation nicht auf Kosten der Kinder und Enkel lebt, erkennt man leicht an der Höhe der Sparquote. Wie in Denkfehler Nr. 11 schon ausführlich erläutert (siehe S. 161), sparen die Deutschen rund 10 Prozent ihres jährlich erarbeiteten Einkommens und damit mehr als die meisten vergleichbaren Nationen. Aufs ganze gesehen sorgt die heute aktive Generation immer noch für die kommenden Generationen vor, sie spart und investiert. Wenn Gerhard Schröder meint, wir würden aufessen, wovon unsere Kinder und Enkel auch noch leben müssen, dann zeigt er damit nur, dass er entweder von Ökonomie wenig versteht, oder aber, dass er die populären Sprüche liebt und deshalb in amtliche Panikmache verfällt. Er befindet sich dabei allerdings in »guter Gesellschaft«.

»Das Land hängt am Tropf der Banken, die Schulden wirken wie ein schleichendes Gift, das die Muskeln lähmt und den Atem erstickt. (…) Eine Rückzahlung der Erblast ist schon heute unvorstellbar, sagen alle Ökonomen.« Spiegel, 19.5.2003

Können wir die Schulden wieder loswerden?

1,3 Billionen Euro sind viel Geld, aber dennoch sind diese Schulden zu bewältigen.

  • Die Schulden machen rund 62 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts aus.
  • In anderen Ländern – die keine Wiedervereinigung zu bewältigen haben – ist es gelungen, den Staatsschuldenstand in den neunziger Jahren zu verringern (siehe Tabelle A3 im Anhang, S. 408): in Dänemark von über 80 Prozent auf knapp über 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Finnland von über 65 Prozent auf unter 50 Prozent, in den USA von 75 Prozent auf rund 60 Prozent – wenn auch vermutlich vorübergehend, weil Bush wie Reagan sorglos mit dem Geld umgeht.
  • Wenn es uns endlich gelingt, die Produktionskapazitäten unseres Landes besser auszunutzen, haben wir jährlich rund 150 Milliarden Euro mehr Bruttoinlandsprodukt zur Verfügung.

Es gibt keinen Grund, in Panik zu verfallen. Wir haben gute Möglichkeiten, die Staatsschulden wieder zu reduzieren:

  • Erstens und vor allem durch die Belebung der Konjunktur.
  • Zweitens sollte der Staat sparen, wenn und wo Sparen sinnvoll ist. Zur Zeit allerdings bewirkt der Sparversuch das Gegenteil dessen, was man erreichen will. Wenn der Staat in der Wirtschaftskrise spart, verschärft er die Krise und erhöht die Schulden.

Privatisierung ist keine Lösung

Einige Kritiker der hohen Schulden raten dazu, dass der Staat staatliche Vermögen privatisieren solle, um seine Schulden abzubauen. Das kann man machen, es kann aber auch ein »Schuss in den Ofen« sein. Niemand käme im Privatleben auf die Idee, es sei in jedem Fall gut, das eigene Haus zu verkaufen, um Schulden zu tilgen. Wenn das Vermögen wertvoll ist und notwendig für das Wohlergehen einer Familie, wird man es nicht verkaufen, auch wenn man damit Schulden zurückzahlen könnte. Auf keinen Fall wird man ohne Zwang verkaufen, wenn man einen schlechten Preis für das Haus erzielt. Nicht viel anderes gilt für öffentliches Vermögen: Wenn man zum Beispiel Anteile an der Deutschen Telekom oder an der Post AG zu einem schlechten Kurs verkauft, machen das Volk insgesamt und die Volkswirtschaft kein gutes Geschäft. Dann wird Vermögen verschleudert. Das ist kein gutes Geschäft für den, der verkauft, es ist aber meist ein gutes Geschäft für den, der kauft. Sinnigerweise raten oft diejenigen zur Privatisierung, die bei solchen Privatisierungsvorgängen viel Geld verdienen, weil sie billig einkaufen oder weil sie an den Provisionen kräftig verdienen oder weil sie einen der hochdotierten Posten ergattern wollen, die mit der Privatisierung oder Teilprivatisierung von Staatsunternehmen geschaffen werden. So ist es bei der Privatisierung von Post und Telekom und bei der Umwandlung der Bahn in eine Aktiengesellschaft geschehen. Hochdotierte Jobs – auch für Spezis. Um den Abbau der Staatsschulden geht es dabei nur in zweiter Linie.

Stimmungsmache mit sogenannten impliziten Schulden

Das Thema Schulden ist angstbesetzt. Um so schlimmer, dass diese Ängste auch mit sehr unlauteren Behauptungen geschürt werden. So rechnen der frühere haushaltspolitische Sprecher der Grünen Oswald Metzger und andere inzwischen auch die Leistungsversprechen der Sozialversicherungen zu den Schulden. Sie nennen dieses Leistungsversprechen »die implizite Verschuldung«. Mit den 1,3 Billionen Euro »explizite Schulden« kommen sie dann auf die gigantische Zahl von 5,7 Billionen Euro.

Diese Addition klingt einleuchtend, ist es aber nicht. Die erworbenen Leistungsversprechen sind keine Schulden. Es handelt sich in einem einigermaßen intakten System von Sozialversicherungen und privaten Versicherungen um Ansprüche, die die späteren Leistungsempfänger durch Prämien- beziehungsweise Beitragszahlungen erworben haben. Ihre Beiträge werden im Umlageverfahren für Leistungen an die Älteren beziehungsweise – im Falle von Krankenversicherungen – an die jeweils gerade Kranken ausgezahlt. Jene, die später dann mit der Rente oder im Krankheits- und Pflegefall eine Leistung in Anspruch nehmen, haben ihren Beitrag zum System früher geleistet. Und jene, die schon früher Leistungsempfänger waren, haben wieder eine Generation früher ihre Beiträge geleistet. Dieses System kann gestört werden, wenn nicht für eine ausreichende Auslastung der Volkswirtschaft gesorgt wird und so zu wenig Beiträge eingezahlt werden oder wenn sogenannte versicherungsfremde Leistungen auf den Beitragszahlern abgeladen werden, wie dies im Zuge der deutschen Vereinigung geschehen ist. Aber dieser Mangel der vergangenen Jahre rechtfertigt weder die fundamentale Kritik am System selbst noch die übertreibende Addition zu den Schulden. Das ist reine Demagogie.

Denkfehler 31: »Wer spart, baut Schulden ab.«

Variationen zum Thema:

  • »Der Finanzminister muss Ausgaben streichen, um endlich weniger Schulden zu machen.«
  • »Wer spart, der spart.«

Beginnend mit dem Jahr 1999 waren wir für einige Zeit Zeugen eines spannenden Wettstreits zwischen Deutschland und Frankreich um die beste und erfolgreichste wirtschaftspolitische Konzeption zur Konsolidierung der Staatsfinanzen. Damals regierte in Frankreich Ministerpräsident Jospin, in Deutschland hatte die rotgrüne Koalition nach dem Rücktritt von Oskar Lafontaine, der gerade ein halbes Jahr im Amt war, eine neue Linie in der Finanzpolitik eingeschlagen, die eng mit dem Namen das Bundesfinanzministers Hans Eichel verbunden ist. Man nannte ihn damals »Sparkommissar«, und seine Popularität war mit der Wahrnehmung dieser Rolle enorm gestiegen. Die Schulden des Bundes hatten sich in der Zeit von Helmut Kohls Kanzlerschaft auf 1,5 Billionen, also auf 1500 Milliarden DM, verfünffacht; der Bund musste jährlich rund 82 Milliarden Mark aufwenden, um die Zinsen für seine Schulden zu bezahlen. Der »Eiserne Hans« nahm sich vor, eisern zu sparen. Im Jahr 2006 – so seine Zielmarke – sollte mit einer Nettokreditaufnahme von Null ein ausgeglichener Haushalt erreicht werden. Auch wenn die Betroffenen – Bauern, Rentner und Arbeitslose – protestierten, Finanzminister Eichel erntete Zustimmung bei einem großen Teil der Medien, bei Sprechern der Wirtschaft, der Wissenschaft und im Grundsatz auch bei der Opposition.

Frankreich entschied sich schon zwei Jahre vor dieser Weichenstellung zu einem anderen Konzept, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Oktober 1997 notierte: »Die Regierung Jospin hat die Stärkung der inländischen Massenkaufkraft zu einem Ziel ihrer Wirtschaftspolitik erhoben, um auf diese Weise die Konsumnachfrage und damit das Wirtschaftswachstum anzuregen.« Die französische Regierung entlastete die Bezieher von Löhnen und belastete dafür stärker die Bezieher von Kapitaleinkommen; sie legte ein großes Programm gegen die Jugendarbeitslosigkeit auf und ermunterte die Konsumenten, ihr Geld auszugeben, anstatt es zu sparen. Sie setzte darauf, dass sich die Belebung der Konjunktur für den Fiskus auszahlt, dass also die Einnahmen an Steuern und Beiträgen wegen steigender Umsätze, Löhne und Einkommen ebenfalls steigen.

Ein Kurs des Streichens, Kürzens, Sparens ist unverzichtbar.


Angela Merkel, 03.10.2003

1999 resümierte die FAZ: »Die Regierung Jospin stellt die Förderung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage durch einen Verzicht auf eine konsequent dem Sparziel verpflichtete Politik vor die rasche Sanierung der angespannten Staatsfinanzen.« Bei volkswirtschaftlichem Wachstum und Sparerfolg haben die Franzosen 1999 die Nase vorn. »Frankreich senkt das Staatsdefizit deutlich«, meldete das Handelsblatt im September 1999, und die damals noch existierende Woche notierte unter der Überschrift »Früchte des Wachstums«: »Verkehrte Welt? Während Deutschland ums Sparpaket streitet, schwimmt Frankreich im Geld.« Infolgedessen könne Frankreich die Staatsschulden beschleunigt tilgen und obendrein das größte Steuersenkungsprogramm seit zehn Jahren auflegen.
In Deutschland wie in anderen Ländern sind die Schulden der öffentlichen Hände hoch, das ist unbestritten. Deshalb muss etwas geschehen. Wie aber kommt man zum Sparerfolg? So wie Frankreich Ende der neunziger Jahre oder so wie Deutschland? Auf deutscher Seite überträgt man die Lebenserfahrung eines einzelnen, also die Erfahrung von privaten Haushalten und Unternehmen, auf die gesamte Volkswirtschaft. Darin liegt ein Denkfehler. Wenn eine Familie weniger ausgibt und spart, hat sie am Ende des Jahres Schulden abgebaut oder Vermögen angesammelt. Wenn aber der Staat in einer labilen Wirtschaftslage seine Ausgaben zusammenstreicht, dann ist überhaupt nicht gewährleistet, dass er am Ende mehr Geld in der Kasse hat. Es gibt volkswirtschaftlich betrachtet nämlich einen Unterschied zwischen Sparabsicht und Sparerfolg.
Gibt der Staat zum Beispiel weniger für Investitionen bei der Deutschen Bahn aus, dann haben Tiefbauunternehmen im Gleisbau und die Waggonbaubetriebe weniger Arbeit, es werden weniger Löhne ausgezahlt und weniger Maschinen gekauft. Kürzt der Bund das Geld der Arbeitslosen und der Rentner, dann trifft das Gruppen, die ihre Einkommen in der Regel ausgeben, jetzt aber sparen müssen. Das spürt der Einzelhandel und bald auch die zuliefernde Industrie. Alle nüchtern kalkulierenden Unternehmen, deren Kapazität nicht voll ausgelastet ist, werden nicht gerade ermuntert sein, durch Investitionen neue Kapazitäten aufzubauen, wenn sie überall nur noch »sparen, sparen, sparen« hören. Das schwächt die Konjunktur und damit auch die staatlichen Einnahmen. Deshalb garantiert in der heutigen konjunkturellen Situation, die von hoher Arbeitslosigkeit und unausgelasteten Kapazitäten in vielen Betrieben gekennzeichnet ist, die wohlklingende Sparabsicht noch lange nicht den Sparerfolg. Mit diesem Denkfehler stieg Hans Eichels Populärität – und es stiegen die Schulden.

Der “Eiserne Hans” hielt gerade mal zwei Jahre durch. Dann kamen die ersten Tricks, die ersten kleinen Lügen, denen schnell größere folgten.


Spiegel, 19.5.2003

Hans Eichel kündigte eine drastische Verschärfung des Sparkurses an. Sein oberstes Ziel bleibe die Haushaltskonsolidierung.


Regierung online, 15.05.2003

Der Theorie der sogenannten Angebotstheoretiker folgend hat Finanzminister Eichel darauf gebaut, dass durch seinen Sparwillen in der Bevölkerung wie in der Wirtschaft Vertrauen entsteht, und er hat wohl auch darauf spekuliert, es könnte mit Hilfe der Medien gelingen, einen Stimmungsumschwung in Deutschland einzuleiten. In diesem Fall könnte die Annahme der Angebotstheoretiker greifen, und die Unternehmen würden unabhängig von ihren Absatzchancen und unausgenutzten Kapazitäten investieren; das bedeutet aber, dass sie irrationale Investitionsentscheidungen treffen, nur weil der Staat sagt, er wolle sparen.
Für so irrational halte ich die deutschen Unternehmer nicht. Das deutsche Konzept hat nicht funktioniert, die Franzosen behielten die Nase vorn, und wir brachen im Jahr 2000 und später erneut wegen einer falschen Wirtschaftspolitik ein. Nicht ohne Grund warnten damals amerikanische Wirtschaftswissenschaftler in einem Appell an ihre deutschen Kollegen vor einer falschverstandenen Sparpolitik und wiesen darauf hin, die USA könnten sich in den neunziger Jahren auch deshalb einer niedrigen Arbeitslosigkeit erfreuen, weil dort eine expansive Geld- und Finanzpolitik betrieben worden ist. Man kann die falsche Konzeption in Deutschland nicht allein der jetzigen Bundesregierung und ihrem Finanzminister anlasten. Sie entspringt einer Misere der wirtschaftspolitischen Debatte, unter der das Land schon seit Jahren leidet. Das hat viel mit der Entwicklung einer medial bestimmten Kommunikation und Gesellschaft zu tun. Der Mainstream der deutschen Wissenschaft und Publizistik und infolgedessen auch der Politik hat sich auf ein recht primitives, aus einzelwirtschaftlichen Erkenntnissen gespeistes Verständnis von der Ökonomie reduziert. Dass man in der Ökonomie alle verfügbaren Instrumente nutzen sollte, dass es auf Sparerfolg und nicht nur auf Sparabsicht ankommt, dass man die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge und Rückwirkungen beachten muss und nicht von einzelwirtschaftlich gültigen Erfahrungen auf die gesamte Volkswirtschaft schließen darf: Solche vernünftigen Erkenntnisse haben in einer der schnellen und gefälligen Medienbotschaft verpflichteten Wissenschaft nur noch geringe Chancen.
Der Rückblick auf den Wettstreit zwischen Deutschland und Frankreich ist in verschiedener Hinsicht interessant:

  • Es hat sich als richtig erwiesen, dass die Sparabsicht unseres Finanzministers eben nicht gereicht hat. Er hat mit seinen Sparversuchen noch dazu beigetragen, die deutsche Konjunktur weiter abzuwürgen. Die Schulden des Bundes sind zwischen 1999 und Mitte des Jahres 2003 um fast 40 Milliarden Euro angestiegen statt abzunehmen. Und dieses Bild ist noch geschönt, da Eichel mehr als 50 Milliarden Euro aus den UMTS-Verkäufen erlösen konnte. Das Ziel, bis zum Jahr 2006 die Nettokreditaufnahme auf Null zu drücken, ist aufgegeben.
  • Der konjunkturelle Einbruch kam, obwohl der Export noch relativ gut läuft und damit die Konjunktur stützt. Das gilt, obwohl auch bei unseren Handelspartnern die Konjunktur in der Zeit zwischen 1999 und 2004 relativ schlecht gelaufen ist. Darauf muss man sich aber als verantwortlicher Finanzminister einstellen. Man kann nicht erwarten, dass die anderen immer die Lokomotive spielen. Jedenfalls kann man sich nicht auf diesen Einbruch hinausreden, wenn man selbst prozyklisch handelt.
  • Die Spekulationen der in Deutschland Verantwortlichen, dass der Sparkurs besonderes Vertrauen gewinnen und die Unternehmen deshalb investieren würden, haben sich als haltlos erwiesen.
  • Interessant ist der Vergleich mit Frankreich. Zwar haben die Franzosen ihren damals eingeschlagenen Kurs nicht unangetastet eingehalten, und Jospin war auch nicht lange Ministerpräsident, aber ihre Linie, zum Sparerfolg zu kommen und vor allem auch mehr Beschäftigung zu schaffen, unterschied sich deutlich von der unseren und hatte wenigstens einen erkennbaren Erfolg (siehe Tabelle 26).

Tabelle 26: Tatsächliche Entwicklung zwischen 1998 und 2001 in Frankreich und Deutschland*

Tabelle 26: Tatsächliche Entwicklung zwischen 1998 und 2001 in Frankreich und Deutschland*
* Hier werden wegen der internationalen Vergleichbarkeit die von der OECD verwendeten Zahlen benutzt. Sie weichen zum Beispiel bei den Werten für die Arbeitslosenquote von den Ziffern des Statistischen Bundesamts ab. Quelle: OECD (Hrsg.): Economic Outlook 2003, Paris 2003, S. 195, 209 und 227

Diese parallelen Erfahrungen bestätigen, dass die Wirkungszusammenhänge in einer Volkswirtschaft anders verlaufen als in einer Familie. Wenn eine Familie mit durchschnittlichem Einkommen beschließt, im nächsten Jahr 1000 Euro zu sparen, dann schafft sie das in der Regel. Sie fährt nicht in Ferien, sie geht nicht mehr aus, sie kauft sich keine neuen Kleider. Wenn hingegen der Bundesfinanzminister beschließt, 30 Milliarden Euro weniger Schulden zu machen, dann schafft er es in diesen konjunkturell schlechten Zeiten nicht, wie man schon mehrmals sehen konnte. Er macht, wenn er in einer Depression sparen will, mit seiner Sparabsicht den Sparerfolg zunichte, weil weniger Steuern und Arbeitslosenbeiträge eingenommen werden und höhere Zuschüsse des Bundes zu den Arbeitslosenversicherungen fällig werden.
Daraus folgt: Wer als Finanzminister in einer Krisenlage mehr ausgibt und weniger zu sparen beabsichtigt, spart am Ende vielleicht mehr und macht weniger Schulden. Dieser Zusammenhang ist in der deutschen und europäischen Diskussion immer noch nicht begriffen: Als die Bundesregierung aus der Erfahrung lernen wollte und die dritte Stufe der Steuerreform vorzuziehen beschloss, da formulierte die Redaktion der ZDF-Sendung Berlin Mitte am 26. Juni 2003 den klassischen Trugschluss: »Steuern runter, Schulden rauf.« Wenn die Konjunktur jedoch anspringt, stimmt dieser Schluss nicht. Dann kann die Verschuldung am Ende geringer sein als ohne stimulierende Steuersenkung. Und wenn die Konjunktur weiter lahmt, auch weil man nicht den Mut hat zum »Steuern runter«, dann kann gerade deshalb der Fall »Schulden rauf« eintreten. Volkswirtschaftliche Abläufe machen einzelwirtschaftlich geprägte Erwartungen zur Makulatur. Der Bundeskanzler hat versucht, gegen den Denkfehler anzugehen. Zu spät. Und bei den meisten Medien mit wenig Erfolg.
So ähnlich war es auch bei der öffentlichen Debatte im Umfeld des Vermittlungsverfahrens zur Steuerreform im November 2003. Der Denkfehler »Wir werden nicht zulassen, dass 80 Prozent der Steuersenkung mit höheren Schulden bezahlt werden« galt als logische Einlassung. Zweifel an der volkswirtschaftlichen Logik eines solchen Satzes hat nur eine verschwindende Minderheit. Die Verblendung, gestiftet von Angebotsökonomen der Chicago-Schule und gefördert von einzelwirtschaftlichem Denken der Mehrheit, ist fast nicht wegzukriegen.
Das gleiche Spiel dann bei einem neuen Versuch der Koalitionsspitze, angesichts nochmals trüberer Konjunkturaussichten und sinkender Steuerschätzungen Ende April/Anfang Mai 2004 den Kurs zu korrigieren. »Regierung bricht Konsolidierungskurs ab« lauteten die ebenso eintönigen wie sinnlosen Schlagzeilen. Was man beim Sparversuch nicht erreicht hat, die Konsolidierung, das kann man wohl nicht abbrechen. Wieder scheiterte die Regierung an einer zu tiefst irrationalen veröffentlichten Meinung und am darin wohlgebetteten Bundesfinanzminister.

Die Konsolidierung der Staatsfinanzen sollte meiner Meinung nach nicht aufgegeben werden.


Horst Köhler, FAZ-Interview vom 12.05.2004

Ein weiteres Beispiel für das herrschende Missverständnis ist die Reaktion auf die Entscheidung des Rats der Wirtschafts- und Finanzminister der EU-Staaten (»Economic and Financial Council« oder kurz Ecofin-Rat) vom 25. November 2003, das von der EU-Kommission eingeleitete Strafverfahren gegen Deutschland und Frankreich wegen der Verletzung der Maastricht-Kriterien auszusetzen. Die daraufhin einsetzende massive Kritik – Tod des Stabilitätspakts, Gefahr für den Euro, Abkehr von der Sparpolitik – gründete auf dem Denkfehler, dass Deutschland effektiv sparen würde, wenn es der Aufforderung der EU-Kommission nachkäme, noch 4 Milliarden Euro im Bundeshaushalt einzusparen. Das Gegenteil kann richtig sein, dass nämlich mit weiteren Sparabsichten der angestrebte Erfolg noch mehr zunichte gemacht wird. Deshalb ist es auch richtig, auf eine vernünftige Auslegung des EWU-Stabilitätspakts zu pochen, der durchaus Spielraum lässt für beschäftigungspolitische Initiativen. Wenn diese Interpretation keinen Rückhalt findet, sollte man versuchen, eine rationalere Interpretation des Maastrichter Vertrags festzuschreiben. Denn wenn eine Fessel Millionen Menschen unglücklich macht und obendrein das erklärte Hauptziel nicht erreicht, nämlich tatsächlich zu sparen und nicht nur die Absicht dazu zu haben, dann muss man sie sprengen.
Hans Eichels publizistischer Erfolg gründete auf einer desinformierten Öffentlichkeit – das ist unser wahres Problem. Wenn wir nicht lernen, die Denkfehler in der ökonomischen Debatte und Willensbildung zu vermeiden, wenn wir nicht lernen, die Lügen und die Legenden zu durchschauen, dann wird es auch weiterhin eine fehlerhafte Meinungsbildung und daraus folgend bedrückend schlechte politische Entscheidungen geben. In den letzten Jahren war die regierende Politik nicht irrationaler als die Meinungsmacher. Sie hat gelegentlich versucht, aus dem Ghetto des einzelwirtschaftlichen und dogmatischen Denkens auszubrechen. Allerdings hat sie es versäumt, um die Meinungsführerschaft zu kämpfen, was besonders dann notwendig ist, wenn die öffentliche Debatte schon in ihren Grundstrukturen so vorurteilsbeladen ist wie bei dem Thema »Wer spart, der spart«.

Tabelle A3: Staatsschuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in vergleichbaren Ländern

Tabelle A3: Staatsschuldenstand im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) in vergleichbaren Ländern


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