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Titel: Hartz IV für Selbständige – „arm gerechnet“

Datum: 16. Juni 2011 um 15:48 Uhr
Rubrik: Bundesagentur für Arbeit, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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„Selbständige sind oft Abzocker“ meldet der Kölner Stadtanzeiger und die Frankfurter Rundschau springt dem Schwesterblatt bei: „Solche Fälle lassen auf ein verbesserungsfähiges Geschäftsmodell schließen – oder auf gezielten Leistungsmissbrauch.“ (Printausgabe vom 15. Juni) Neue Sündenböcke braucht das Land. Nun sind es die Selbstständigen, die auf der gehartzten Hängematte liegen und an den Pranger gestellt werden.
Von Günter Frech

Die Süddeutsche Zeitung brachte die Geschichte am Dienstag nach Pfingsten auf Seite eins. (Siehe Hinweise des Tages vom 15. Juni.) Weitere Medien legten nach. Die Google-Suche ergab 321 Treffer. In der Regel wurde der Artikel aus der SZ wiedergekäut. Oder eine entsprechende Agenturmeldung übernommen.

Es gab einige Ausnahmen: Die Märkische Allgemeine, ZEIT-Online, Welt-Online und die Saarbrücker Zeitung) erwähnten in ihren Artikeln die aktuelle IAB-Studie [PDF – 496 KB], der zufolge 45 Prozent der Hartz IV-Bezieher, die in einen Job vermittelt werden, nach sechs Monaten wieder auf der Strasse stehen und stellten so den Zusammenhang zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten her, die wegen ihres Hungerlohns mit Hartz IV aufstocken müssen.

Welche „Sau wird da nur wieder durchs Dorf“ getrieben?

Es gibt in diesem Land etwa 4,4 Millionen Selbstständige. Wenn nun davon 125.000 „ergänzende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes“ – also aufstockendes ALG II / Hartz IV – beziehen, so sind das knapp über fünf Prozent der Selbstständigen, die von ihre Selbstständigkeit nicht leben können. Schlimm genug für die Betroffenen! Mag sein, dass sich unter diesen fünf Prozent einig wenige „arm rechnen“, wie der Artikel suggeriert. Aber wo gibt es keine „schwarzen Schafe“?

Bleiben immer noch 4.275 Millionen Selbständige, die von ihrer Selbstständigkeit leben können und ihren Umsatz versteuern müssen. Tun diese das alle redlich? Gibt es Statistiken darüber, wie viele dieser umsatzsteuerpflichtigen Selbstständigen sich „arm rechnen“, um Steuern zu sparen? Wo bleibt hier der Aufschrei der Empörung?

Eine andere Rechnung: Laut Bundesagentur für Arbeit gibt es hierzulande 27,4 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftigte in Voll- und Teilzeit. Davon gelten 1,4 Millionen als „Aufstocker“. Das sind knapp unter fünf Prozent. Und wo bleibt hier der Aufschrei der Empörung?

Die „Aufstocker“ bei Selbstständigen und sozialversicherungspflichtgen Beschäftigten bewegen sich in einem etwa gleichen statistischen Niveau. Ich sehe aber einen signifikanten sachlichen Unterschied: Während den Selbstständigen durch die ALG II / Hartz IV-Aufstockung eine minimale Subvention ihres Kleinstbetriebes zugute kommt (die ich jedenfalls für eine geraume Zeit für gerechtfertigt halte), ist bei den sozialversicherungspflichtigen beschäftigten „Aufstockern“ von einer gigantischen staatlichen Lohnsubvention zu Gunsten der Unternehmer auszugehen. (2009 betrugen diese Subventionen für „Aufstocker“ 11 Milliarden Euro.) Bei „Aufstockern“ wird mit unternehmerischen Geschäftsmodellen hantiert, die sich darauf gründen, den Beschäftigten einen Hungerlohn zu zahlen. Und weil der Hungerlohn zum Leben nicht reicht, sind die eh schon gedemütigten auch noch zusätzlich dazu verdammt, aufs Amt zu gehen, sich dort abermals demütigen zu lassen, um ergänzend Hilfe zu beantragen.

Und während den auf staatliche Unterstützung angewiesenen Selbstständigen dazu geraten wird, ihr angeblich nicht funktionierendes Geschäftsmodell zu überdenken, herrscht gegenüber den Hungerlohnzahlern Schweigen im Walde und auf fast allen politischen Bühnen. Lediglich Gewerkschaften, Linkspartei und Wohlfahrtsverbände prangern solche Hungerlöhne an.

Nun schreibe ich diese Zeilen nicht einfach aus einer abstrakten Empörung heraus. Als freiberuflich tätiger Journalist bin ich selbst Betroffener. Ich beziehe inzwischen Hartz IV und ich fühle mich durch solche Schlagzeilen wie „arm gerechnet“ gedemütigt!

Ich habe mich nicht selber in diese Lage gebracht. Mein „Geschäftsmodell“ hat beinahe 30 Jahre – trotz zum Teil mickriger Zeilenhonorare – relativ gut funktioniert.

Dann sind die deutschen Zeitungsverleger auf die Idee gekommen, mit immer weniger Journalisten und mit immer schlechter werdendem Journalismus die Seiten zwischen den Anzeigen zu füllen. Hintergründiger, aufklärerischer und reflektierender Journalismus ist ein seltenes Gut geworden. Das zeigen mir gerade auch die vorgenannten Artikel, die einseitig auf Betroffene eindreschen und keine Zusammenhänge herstellen. Hier ging z.B. der Journalist der Süddeutschen Zeitung entweder einem Einflüsterer auf den Leim oder er hat die Geschichte einfach nicht zu Ende gedacht.

Zurück zum Thema: Es ist keineswegs so, das die Jobcenter bei den Betriebsabrechnungen der Selbstständigen überfordert wären. Belege werden da durchaus mehrmals umgedreht. Doch die Mitarbeiter der Jobcenter gehen von einer normierten Arbeitswelt aus und haben Mühe, die Arbeitswirklichkeit von Selbstständigen zu begreifen. Ich musste z.B. jedes Zeitungsabonnement, jede Quittung, jedes gekaufte Buch, Telefonrechnungen und vieles mehr rechtfertigen und begründen. Und dass man von 4,28 Euro Lebensmittelanteil pro Tag kein anständiges Essen zu sich nehmen kann, muss hier wohl nicht näher erläutert werden. Für die halbjährliche Betriebsabrechnung gibt es einen umfangreichen, vierseitigen Berechnungsbogen und einzelne Posten müssen auf Extrablättern aufgeführt und erläutert werden. Dieses halbjährliche Bürokmonster nahm viel Zeit in Anspruch, darüber hinaus musste ich gegen die Aufrechnungsbescheide des Jobcenters regelmäßig Widerspruch einlegen.

Im Laufe der Zeit ist mein kleiner „Laden“ so zusammengekracht, dass ich seit dreieinhalb Monaten komplett auf Hartz IV angewiesen bin. Als 59-jähriger habe ich nun das zweifelhafte Vergnügen, an einer „Maßnahme“ im Rahmen der Initiative „Persektive50plus“ des Bundesarbeitsministeriums teil zu nehmen. An zwei Tagen zu je 7,5 Stunden soll ich nun „durch Feststellung und Verringerung von Vermittlungshemmnissen“ in meiner „beruflichen Integration unterstützt werden“, wie es in der mit dem Jobcenter abgeschlossenen „Eingliederungsvereinbarung“ heißt.

Mit 15 weiteren zwischen 51- und 59-jährigen Frauen und Männer sitze ich nun da, recherchiere im Internet oder in den Stellenanzeigen der Berliner Zeitungen nach nicht vorhanden Jobs. (Wir legten auch schon zwei Wandertage zum Schlachtensee und in den Botanischen Garten ein.) Wenn ich gerade nicht nach Stellen fahnde, lese ich ausführlich die Internet-Angebote der Printmedien und die Nachdenkseiten oder recherchiere, was mir gerade in den Sinn kommt. Ich weiß inzwischen ziemlich viel über ein Foto aus dem Jahre 1840, auf dem Constanze Mozart zu sehen sein soll. Oder, weil ich gerade einen Krimi gelesen habe, der in der Edelgastronomie und im Bereich des Fooddesign spielt, machte ich mich über alle Facetten von Zusatzstoffen in unseren Lebensmitteln schlau. Irgendwie muss die Zeit ja mit Beschäftigung ausgefüllt werden, um nicht trübsinnig zu werden.

Keiner der drei „Betreuer“ des Maßnahmeträgers und der sporadisch anwesenden zwei Damen vom Jobcenter haben sich je dafür interessiert, was ich alles in meinem bescheidenen journalistischen Leben zu Papier gebracht habe. Zwei Jobangebote habe ich auch schon bekommen: als Anzeigenvertreter für den Berliner Verlag (ist ja „irgend etwas mit Medien“!) sollte ich anheuern oder für eine Autovermietung für 5,50 Euro Stundenlohn twittern.
Es gibt auch „Erfolge“ zu vermelden: Gerade wurden drei Teilnehmer der Maßnahme zu einer Wachschutzfirma vermittelt und die bewachen künftig für einen Stundenlohn von 6,54 Euro die Neue Nationalgalerie. Das sind „deutsche Karieren“ im Jahre 2011: vom Hartz IV-Empfänger zum Hungerlöhner, der dann wiederum zum Hartz IV-Aufstocker wird.

„Nur Lebenskünstler können auf Dauer von 364 Euro im Monat leben“ sagte BA-Vizepräsident Heinrich Alt am 29. April des Jahres dem Tagesspiegel. Wo Perspektiven zu einer Arbeit mit einem Lohn zum Überleben erkennbar wären, dazu hat er leider nichts gesagt.


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