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Titel: Jeffrey Sachs: Frieden ist jetzt möglich

Datum: 17. Juli 2023 um 8:45 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Erosion der Demokratie
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Kurz vor dem NATO-Gipfel im Baltikum hat Jeffrey Sachs, der US-Ökonom und Berater von Regierungen, UN-Generalsekretären und internationalen Institutionen, ein Interview für die Website Neutrality Studies gegeben, in dem er vor der Gefahr eines nuklearen Infernos als Folge der US- und NATO-Expansionspolitik warnt. Passagen des Interviews hat Bernhard Trautvetter ins Deutsche übersetzt.

Es folgen übersetzte Aussagen aus dem Interview mit Jeffrey Sachs vom 23. Juni:

„Joe Biden könnte einen anderen Kurs einschlagen. Er ist mindestens seit einem Vierteljahrhundert auf dem Weg der NATO-Expansion. … Dies ist sein Weg seit 1990. Er war als Senator einer der wichtigsten Unterstützer des ‚Militärisch-Industriellen Komplexes‘ und der NATO-Erweiterung. Und 2014 spielte er eine persönliche Rolle in den Maidan-Ereignissen. … Ich selbst war für eine kurze Zeit Ratgeber des EU-Kommissars für äußere Angelegenheiten, Josep Borrell. Damals sagte ich, dass die USA die North-Stream-II-Pipeline zerstört hatten, und an diesem Tag feuerte er mich. … Zu meinem Statement stehe ich nach wie vor, … Russland war es nicht …

Viele Diskurse betreffen die Maidan-Ereignisse. Ich glaube nicht, dass es ein Zufall war, dass Victoria Nuland drei Wochen vor dem gewaltsamen Umsturz der Regierung in Kiew war. Es endete mit den Schüssen aus Gebäuden, die die Maidan-Verantwortlichen kontrollierten, und dem Sturm auf das Regierungsgebäude. … Sie hatte die Zusammensetzung der nächsten Regierung exakt vorhergesagt. Sie war an den Plänen dieses Wechsels maßgeblich beteiligt. … Ich weiß, dass eine signifikante Summe von US-Geldern in den Maidan floss, auf Wegen, die ernsthaft falsch zu nennen sind, und die USA spielten eine bedeutende Rolle in diesen Ereignissen. (Panorama – ARD – nennt diese Ereignisse Putsch, B.T.) Ich bestreite nicht, dass an diesem Punkt Neutralität nicht der Kern des Problems war, außer für die USA, die diesbezüglich gegen Präsident Janukowitsch standen, der Neutralität wollte. Aber die USA wollten eine Regierung, die die NATO-Expansion unterstützte. Und diese Regierung erhielten sie schließlich, da die neue Regierung Ende 2014 einforderte, in die NATO aufgenommen zu werden.

Es ist bekannt, dass das Parlament, obwohl nicht implementiert, als erstes Russisch als Amtssprache verbot … Was da geschah, war ein hegemoniales Unternehmen der USA … Die Idee der US-Administration ist, dass die USA eine vollständige Dominanz in allen Regionen der Welt innehaben. Und die zwei Bedrohungen dafür sind Russland und China. Und so ist in die US-Strategie, die US-Außenpolitik und die Militärpolitik in diesen Punkten völlig klar: … Die USA mögen Europa, aber sie wollen absolute Dominanz über Eurasien. Und das ist, wovon Brzezinski im Buch »Das große Schachbrett« sprach, und er betonte, dass die Ukraine der Eckpfeiler von Eurasien sei, und das war die Theorie, die er in Details ausbreitete, und ich denke, das ist die neokonservative Vision, die nun seit 30 Jahren umgesetzt wird. Ich denke nicht, dass dies per se antieuropäisch ist, aber es ist pro-amerikanisch. Und es ist m.E. extrem fehlleitend, zu denken, dass du mit 4,1 Prozent der Weltbevölkerung die Welt regieren solltest oder anstreben solltest, die Macht zu sein, die in der Welt die konkurrenzlose Überlegenheit überall innehaben sollte.

Und es gibt so viele Beispiele dafür, wie dieses Denken funktioniert. Ich gebe dazu ein interessantes Beispiel: Ein früherer Kollege von mir, der hochgeschätzte Botschafter Robert Blackwell, schrieb 2015, wie die USA die Konfrontation mit China benötigten, weil Chinas Aufstieg nicht mehr im US-amerikanischen Interesse lag. Und er breitete alle Maßnahmen aus, zu denen die USA greifen sollten, um Chinas Aufstieg einzugrenzen; und sie werden eine nach der anderen umgesetzt, zum Beispiel: Verhandele Handelsverträge in Asien, die China ausgrenzen! Was für eine kluge Idee: Lasst uns Handel in Asien betreiben, aber ohne China, den Haupthandelspartner aller asiatischen Länder. … Das ist bizarr und wird explizit gedruckt und dann befolgt. Auf der Liste der Maßnahmen war 2015 der Export von Technologie, Sanktionen unter Inanspruchnahme des Finanzsystems. … Dies sind Fragen, die die Strategieschmieden und US-Spitzenpolitiker beschäftigen, um Nr. Eins zu bleiben, was meines Erachtens eine sehr uninteressante Frage ist, außer dass es gefährlich ist, so zu denken.

Dies ist es, wo wir leider stehen. 1989 wurde ich angefragt, Berater von Polens Solidarność-Bewegung zu werden und dann für seine Regierung mit Premierminister Mazowiecky. Ich entwickelte für sie einen Plan, einen Rahmen für die finanzielle Stabilisierung. Und ich schrieb einige Schlüssel-Schritte (key-steps), wie die Währung, das Finanzsystem und das Geld zu stabilisieren waren. Die USA akzeptierten jedes meiner Elemente. Eines Tages im September 1989 hatte ich die Idee eines Stabilisierungsfonds von einer Milliarde US-Dollar, um Polens Währung zu stützen. Und ich arbeitete die Idee am Morgen dieses Tages aus, und ich übergab das dem Senator Robert Dole, dem Mehrheitssprecher der Senatsmehrheit. Noch am Vormittag sollte ich mit General Scowcroft, dem Nationalen Sicherheitsberater, sprechen. … Er bat mich, am Abend Senator Dole zu informieren: Er sagte, ich möge meinen polnischen Freunden mitteilen, sie erhalten ihre Milliarde US-Dollar. … Ich unterbreitete viele Empfehlungen. Und ich freute mich, sie wurden angenommen, und sie haben funktioniert.

Das war der Grund dafür, dass der sowjetische Präsident Gorbatschow mich um Hilfe ersuchte. Ich schlug eine ähnliche Strategie vor, allerdings mit fünf multipliziert, was dem Unterschied der Größe geschuldet ist. Obwohl ich es ursprünglich mit zehn multiplizieren musste, da es 1991 die Sowjetunion war. (Und nicht nur ihr größter Teil, Russland, B.T.)

Gorbatschow war damals zum G7-Gipfel eingeladen, und ich präsentierte dort mit einem Harvard-MIT-Team einen Plan für die Unterstützung von Gorbatschow unter dem Begriff »The Great Bargain« (Die günstige Gelegenheit, B.T.). Das war vor Russlands Unabhängigkeit. Das Weiße Haus wies den Plan ab. Sie wollten nicht einmal eine Nachfolge-Erklärung mit der Aussage, wir geben der Sowjetunion nichts. Dann kam Gorbatschow zurück vom G7-Treffen und wurde im Putsch-Versuch gekidnappt, und Jelzin kam als dominante Figur ins politische Geschehen. Und im September 1991 bat mich Jelzin, nach Moskau zu kommen, um ihm zu helfen. So kam ich nach Moskau und ich erklärte, wie Polen seine Währung … stabilisierte. Und ich erklärte die Prozesse und bekam die Frage gestellt, ob dies für Russland funktionieren könne. … Weil sie ein unabhängiges Russland anstrebten. Ich sagte, es sei wichtig, da ein finanzieller Kollaps droht … Mein ganzes Denken war von John Maynard Keynes‘ »Konsequenzen des Friedens« 1919 geleitet: Lass einen Krieg nie im Desaster enden! … Das wirkt sich noch auf die Folgegeneration aus! … Ich schlug eine Strategie für Russland vor, die der ähnelte, die ich Gorbatschow empfohlen hatte. Sie wurde komplett abgewiesen. Ich sagte: „Es hat sich doch bereits bewährt!“ Der Außenminister sagte mir Anfang 1992 ins Gesicht: „ Mr. Sachs, nehmen wir einmal an, ich würde sogar mit Ihnen übereinstimmen. … Ich gebe Ihnen einen Rat: Es wird nicht kommen!“ Ich glaubte ihm nicht, aber er hatte recht. Es kam weder mit Bush noch mit Clinton dazu. Die Idee, die USA könnten Russland helfen, sich zu erholen, kam ihnen nie in den Sinn …

Dies ist ihr fundamentaler Ausgangspunkt: Russland ist auf der Außenseiterposition, wir verschieben den Eisernen Vorhang einige hundert Kilometer ostwärts … Das ist die Denkweise. Die Motivation dafür ist: Die USA sind die Nr. Eins. Wir haben auf niemanden zu hören; wir sind die unipolare Macht, wir sind das mächtigste Land in der Weltgeschichte.

Und da gibt es eine berühmte Episode: Der Oberbefehlshaber der NATO unter Clinton – Wesley Clark –, der in den frühen 1990ern zum Pentagon ging – ihm sagte man 1992, wir werden eine Serie von Kriegen haben und all diese von der Sowjetunion gestützten Regierungen säubern: Iraq, Syrien, Libyen, … Und dann nach 2001 sagte man ihm das Gleiche: Wir werden jetzt alles säubern können. Diese Idee ist ein Konzept von Staatsmacht, kein gesundes. Und es wurde tief verwurzelt, und wir sind immer noch damit befasst. Diese Pläne werden gerade in realer Zeit umgesetzt; sie sind extrem gefährlich, und sie bringen uns zurück zum Abgrund des Nuklearkriegs, da Russland keine von den USA geführte unipolare Welt will. China will das auch nicht. Außerhalb der EU, der USA, Großbritanniens, Japans, Koreas, Australiens, Neuseelands und Singapurs will das absolut niemand.

So haben wir den Westen mit circa 15 Prozent der Weltbevölkerung und den Rest der Welt, der fragt: Was tut Ihr?! Könnt Ihr nicht Frieden machen und aus der Spannung herunterkommen, um nicht alles zu zerstören? Ich verteidige Russlands Verantwortlichkeiten mitnichten. Ich sage, dass wir diesen Konflikt hätten vermeiden können. Und wir können diesen Konflikt jetzt beenden. Aber im US-Verständnis der NATO-Expansion können wir ihn nicht beenden. Wir haben zu verstehen, dass wir vor dem Risiko der Eskalation und im Krieg stehen (‚risk of eskalation and we will have war‘). Der einzige Weg, dies zu vermeiden, ist der Respekt für Russlands Sicherheitsinteressen, konkret, dass die Ukraine kein Mitglied der NATO wird. Wenn wir das akzeptieren, ist vieles möglich.

Titelbild: Shutterstock / Lightspring


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