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Titel: Medienkritik: Penner-Vertreibung mit gutem Gewissen oder wie der Dr. Dr. Erlinger einem Münchner Fitness-Spießer auf die Sprünge hilft

Datum: 1. September 2011 um 9:37 Uhr
Rubrik: Medienkritik, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wertedebatte
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Im „Süddeutsche Zeitung Magazin“ Nummer 34 vom 26. August 2011 bekennt Meike Winnemuth, dass sie die neueste Hut-Mode der Damen der „gehobenen Gesellschaft“ Englands nicht versteht. Solche Probleme – Hüte, die an Satellitenschüsseln oder Klobrillen erinnern – hat oder hätte man gern. Es folgt eine Tiroler Tourismuswerbung mit einem Foto vom steinernen „Herz[en] der Alpen“ und dann lässt uns, so bestens vorbereitet und eingestimmt, der Dr. Dr. Erlinger an der „Gewissensfrage“ eines „Hendrik A., München“ teilhaben und natürlich auch daran, wie er diesem „Hendrik A.“ auch noch das letzte Fünkchen Gewissen, das er aufbringt, erstickt. Von Hans Otto Rößer

Hier zunächst die Frage und die Karikatur, die sie von der Antwort trennt:

Dr. Dr. Erlinger
»Ich habe ein Problem mit meinem liebsten Trimm-dich-Pfad: In einer der öffentlich zugänglichen und überdachten Trainingsstationen hat sich ein Obdachloser einquartiert. Er wohnt dort, wo ich früher meine Bauchmuskulatur trainiert habe, und behindert dadurch das Training vieler Freizeitsportler. Eigentlich hat er da nichts zu suchen, aber es kommt mir unmenschlich vor, ihn fortzujagen. Er braucht eine Wohnung, ich brauche meinen Sport. Was tun?« Hendrik A., München

Die Gewissensfrage: Ist es unmenschlich, einen Obdachlosen von einem Trimm-dich-Pfad zu vertreiben, wenn er dort das Training behindert?

Vorab und jenseits des Gewissens irritiert die ethnologische Information, dass es um München nicht nur immer noch „Trimm-dich-Pfade“ und Menschen gibt, die sie benutzen, sondern sogar Menschen (oder mindestens einen), die über diese abgelebten Kreationen unbehaglicher Leibeskultur Favoritenlisten führen.

Die Frage gibt einen Hinweis darauf, wie sehr es den Fragesteller verlangt, seinem inneren Schweinehund Freilauf zu gewähren: Es „kommt“ ihm „unmenschlich vor“, den Obdachlosen „fortzujagen“, aber, so lesen wir mit, vielleicht kommt ihm das ja nur aus einer unaufgeklärten Sentimentalität oder „Gefühlsduselei“, um es gut deutsch zu formulieren, so vor, vielleicht und hoffentlich verhält es sich in Wirklichkeit, in der Wirklichkeit der aufgeklärten Moral, ja ganz anders? Schein oder Sein? Diesem Wissensdrang und Gewissenszwang gewährt bereits der erste Satz der Erlingerschen Antwort Erleichterung. „Einen Obdachlosen von einem Platz zu vertreiben, der ihm sprichwörtlich ein Dach über dem Kopf bietet, erscheint tatsächlich inhuman.“ Gemeint ist, um es präziser zu formulieren: Es scheint inhuman zu sein, ist es aber in der Welt der Erlingerschen Moral ‚nicht wirklich’.

Diese Pointe schwingt hier zunächst nur mit, wird angedeutet. Denn Dr. Dr. Erlinger scheint sogar in die Kritik und Klage einzustimmen, dass „Menschen wie ihm“, dem Obdachlosen in der überdachten Trainingsstation, „in unserer Gesellschaft immer weniger Raum gelassen wird: In immer mehr Bereichen der Städte, etwa in Shoppingcentern, aber auch Bahnhöfen, werden Verhaltensweisen wie das Sitzen auf Freiflächen verboten und so bestimmte Gruppen der Gesellschaft ausgeschlossen.“ Dies werde „kritisch“ unter dem Stichwort „Privatisierung des öffentlichen Raums“ „diskutiert“.

Jetzt ahnt man bereits, was kommen wird. „An der Stelle stutzt man.“ Lässt sich der kritische Gedanke nicht auch gegen den Obdachlosen in Stellung bringen? Tatsächlich, er nimmt doch auch „einen Teil des der Allgemeinheit dienenden Trimm-dich-Pfades in Beschlag“, „besetzt“ ihn und betreibt damit „Privatisierung eines öffentlichen Raums“, und dies „mit umgekehrten Vorzeichen“.

Peter Sloterdijk hat vor zwei Jahren vorgemacht, wie diese Umkehrung funktioniert: Einfühlend interpretiert er zunächst Rousseaus Erklärung der Entstehung von Ungleichheit durch Landnahme: „Wer hierbei zu spät kommt, den bestraft das Leben. Arm bleibt, wer auf der falschen Seite des Zauns existiert. Den Armen erscheint die Welt als ein Ort, an dem die nehmende Hand der anderen sich schon alles angeeignet hat, bevor sie selber den Schauplatz betraten.“ Das sei ein Mythos, ein Verdacht, der zur Respektlosigkeit vor dem Eigentum führe, in deren Folge es etwa durch die progressive Besteuerung von Reichen als „funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung“ zu einer „Ausbeutungsumkehrung“ komme: „Lebten im ökonomischen Altertum die Reichen unmissverständlich und unmittelbar auf Kosten der Armen, so kann es in der ökonomischen Moderne dahin kommen, dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben.“ (FAZ vom 13.06.2009)

Dr. Dr. Erlingers Umkehrung der „Vorzeichen“ geht so: Da der obdachlose Besetzer der Trimm-dich-Station „die Sportler“ von der Benutzung dieser Anlage ausschließe, sei derjenige, dessen Ausschluss aus „immer mehr“ gesellschaftlichen Bereichen eben noch – scheinbar – kritisiert wurde, zum eigentlichen Betreiber der Exklusion geworden. Der Exkludierte ist in Wirklichkeit der Exkludierer, der Unsportliche lebt auf Kosten der Sportlichen.

Tatsächlich lässt sich die Vertreibungsrechtfertigung, die der Dr. Dr. Erlinger seinem Münchner Fitness-Spießer ausgestellt hat, auf jede beliebige andere Situation übertragen. Wenn ein Obdachloser auf einer Parkbank nächtigt, darf er davon nunmehr guten Gewissens mit dem Hinweis vertrieben werden, dass er damit „andere dauerhaft von der Benutzung öffentlicher Einrichtungen“ ausschließe. Es ist eben dem Reichen und dem Armen verboten, länger als sagen wir eine Stunde auf einer Parkbank zu sitzen – länger sitzen oder gar liegen wäre eben schon Exklusion. „Sozial Benachteiligte, wie etwa Obdachlose“, heuchelt der Dr. Dr. Erlinger, „haben es schwer, deshalb sollte man ihnen auch Raum lassen.“ Wo sollte der sein, wenn jedes Sich-Niederlassen schon für Exklusion gilt? Im Polizeigewahrsam? Da täten wir dem Gewissensbereiniger Unrecht. „Die Polizei zu rufen schiene“ ihm „tatsächlich hart.“ Also erstmal Gespräche führen und wenn diese „nicht fruchten“, halte er „zumindest (!) einen Anruf bei dem für den Trimm-dich-Pfad zuständigen Amt für sinnvoll“.

Abschließend noch einen Hinweis auf zwei Leerstellen in Dr. Dr. Erlingers asozialer Dünnbrettbohrerei:

Der Frager hat ein Abwägungsproblem: „Er [der Obdachlose] braucht eine Wohnung, ich brauche meinen Sport.“ Hier hätte Herr Erlinger nicht nur das unterschiedliche Gewicht von Bedürfnissen, sondern auch unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten abwägen müssen. Dazu kein Wort. Um mit der Lösung des moralischen Problems – Ordnungsamt – kompatibel zu bleiben, hätte sich diese Abwägung, wohlwollend formuliert, auf Stufe 1 der moralischen Urteilsbildung nach Kohlberg bewegen müssen.

Der Frager behauptet, der Obdachlose behindere allein durch seine Anwesenheit „das Training vieler Freizeitzeitsportler“. Da hätte man gern Genaueres erfahren, aber Dr. Dr. Erlinger erspart seinem Kunden jede Nachfrage. Die Karikatur füllt diese Lücke. Sie ist so gnadenlos dumm, dass man sie weniger als Verhöhnung des Obdachlosen, sondern als kritischen Kommentar zu Frage und Antwort lesen sollte.

Was tun? war einmal eine Frage, die ein Jahrhundert eröffnet hat. Die Antwort damals hieß Solidarität. Heute sollen wir uns ans Ordnungsamt halten. Das nennt man Fallhöhe.


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