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Titel: Wellenreiter

Datum: 18. April 2012 um 9:12 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Finanzkrise, Wertedebatte
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DX0BGY war nur ein kleines Rädchen im gigantischen Getriebe der Finanzindustrie. Aber das Tageszertifikat ist gleichzeitig Sinnbild eines abgehobenen Kasinokapitalismus, der mit herkömmlichen Bankgeschäften nicht das Geringste mehr zu tun hat. Von Günter Wierichs.

Das Lied „Wellenreiter“ der Kölschrockgruppe BAP handelt von einem Menschen, der auf jeder Modewelle surft und jedem Trend pausenlos hinterherläuft. Solche Leute gibt es auch heute noch wie Sand am Meer, und auch die Finanzindustrie profitiert von ihnen.

Denn allen Finanz-, Euro- oder Staatsschuldenkrisen zum Trotz wird munter weiter spekuliert. Zunehmend erliegen auch Privatanleger dem Reiz, mehr herauszuholen als jene 1,5 %, die man für eine Bundesanleihe erhält. Interessant wird das Ganze vor allem, wenn man vom eigenen Computer aus coole Börsengeschäfte abwickeln kann. Die Finanzindustrie ist dabei gerne behilflich – natürlich nicht uneigennützig.

Mit WAVE´s auf der Spekulationswelle surfen

Da gibt es zum Beispiel db-x markets. Hier bietet die Deutsche Bank privaten und professionellen Anlegern „das gesamte Spektrum moderner Anlagemöglichkeiten“ (Eigenwerbung) an. Zertifikate, Anleihen, Optionsscheine, strukturierte Anleihen – für jeden ist etwas dabei, ganz gleich, ob man auf steigende, fallende oder stark schwankende Kurse setzt. DX0BGY, emittiert am 12. April 2012, ist eines der hier angebotenen Spekulationswerkzeuge, genauer gesagt: war, denn dieses Zertifikat wurde als DayWAVE konzipiert. Es handelte sich also um eine Eintagsfliege; am Abend war schon alles vorbei. Noch deutlicher kann man den Spekulationsgedanken nicht herausstellen.

Ein Zertifikat ist eine Schuldverschreibung. Der Anleger gibt beim Kauf des Produktes der Deutschen Bank einen Kredit. Nun ist die Deutsche Bank natürlich nicht Lehman. Bei dieser Investmentbank ging die Sache bekanntlich schief, weil Lehman im Zuge der amerikanischen Immobilienkrise 2008 Pleite ging und viele Privatkunden auf ihren Forderungen aus zuvor gekauften Lehman-Zertifikaten sitzen blieben.

Man zahlt also der Deutschen Bank einen bestimmten Betrag für ein Zertifikat. Zu Beginn des Handels am frühen Vormittag des 12. April 2012 waren das knapp 3 Euro. Dann ging die Spekulationswelle los, man hatte ja den ganzen Tag Zeit.

Was steckt hinter DX0BGY? Konkret sind es 100 Millionen „Knock-Out-Call-Options­scheine, bezogen auf den DAX-Future.“ Auf Deutsch heißt dies: man erwirbt das Recht, den DAX-Future zu einem festgelegten Preis kaufen zu dürfen. Dazu muss man zunächst wissen, was der DAX-Future ist.

Die Kursentwicklung der 30 größten deutschen Aktiengesellschaften spiegelt sich in dem Börsenindex DAX wider. Eine Steigerung von 50 DAX-Indexpunkten an einem bestimmten Tag bedeutet, dass sich diese 30 Aktien (von Adidas über die Deutsche Telekom bis zu Volkswagen) im Durchschnitt nach oben entwickelt haben. Dabei mag eventuell die eine oder andere Aktie auch gesunken sein, jedenfalls ergab sich über alle 30 Aktien hinweg gerechnet ein Plus. Nun gibt sich die Finanzindustrie nicht nur mit simplen Indexberechnungen ab. Man kann den DAX als Finanzinstrument auch handeln. Dabei zahlt man einen bestimmten Eurobetrag für einen Indexpunkt. In der Praxis werden 25 Euro je Indexpunkt zugrunde gelegt. Bei einer Steigerung von 50 Indexpunkten würde sich also ein Gewinn von 25 * 50 = 1.250 Euro ergeben, wenn man auf einen steigenden DAX gesetzt hat. Und nicht nur das ist möglich. Man kann darüber hinaus auch den DAX in der Zukunft handeln. Das ist dann der DAX-Future, auch FDAX genannt. Den kauft man heute schon zu einem jetzt vereinbarten Preis, verrechnet das Geschäft aber erst in 3 oder 6 Monaten. Wenn ein Anleger glaubt, dass der DAX in einigen Monaten höher liegen wird als heute, kauft er ihn zum heutigen Preis und verbucht später einen Gewinn – sofern er richtig spekuliert hat. Liegt er in seiner Annahme falsch, macht er Verlust.

Die Käufer von DX0BGY wollten jedoch nicht drei Monate auf ihren Gewinn warten, sondern innerhalb eines Tages Kasse machen. Daher erwarben sie dieses treffliche Produkt der Deutschen Bank. Es gab ihnen nämlich für einen Tag das Recht, den DAX-Future zum Preis von 6.400 erwerben zu dürfen, genauer gesagt zu 64,00 Euro, denn solche Optionsscheine haben meist ein Bezugsverhältnis von 1 : 100; man muss also den Indexwert durch 100 teilen. Da der DAX-Future täglich fortlaufend gehandelt wird und sich minütlich ändert, beeinflusste er am 12. April 2012 direkt den Wert von DX0BGY: Mit jeder Auf- bzw. Abwärtsbewegung des Basiswertes DAX-Future ging DX0BGY nach oben bzw. nach unten.

Am 12. April 2012 eröffnete der DAX-Future mit knapp 6.700 Punkten. Daher war DX0BGY zu diesem Zeitpunkt auch knapp 3 Euro wert, denn man konnte über den Schein den Indexwert von 67,00 Euro für einen Preis von 64,00 Euro kaufen. Falls ein Spekulant sich also mit Optionsscheinen zu jeweils 3 Euro eingedeckt hatte, konnte er jetzt einen Tag lang auf ein Ansteigen des FDAX hoffen. Zunächst ging es munter auf und ab. Gegen 12 Uhr lag DX0BGY bei 2,80 Euro, um 15 Uhr war mit 2,60 Euro der Tiefpunkt erreicht – aber dann ging es bergauf. Bis in den späten Abend hinein war der Handel möglich. Er endete bei etwa 3,60 Euro. Wer bis zum Schluss gewartet hatte, konnte somit 60 Cent Gewinn pro Schein machen. Bezogen auf den Anfangsbetrag von 3,00 Euro sind das 20 Prozent. Kein schlechtes Ergebnis für eine Spekulationsdauer von etwa 20 Stunden. Wer aber gegen 15 Uhr entnervt ausstieg, hatte gegenüber dem Einstiegspreis 40 Cent, also in noch kürzerer Zeit 13 % Verlust gemacht. Ganz schlimm wäre es gekommen, wenn der FDAX zwischendurch einmal auf 6.400 Punkte gefallen wäre. Dann wäre nämlich der Knock-Out-Effekt eingetreten: Das Recht wäre verfallen und pro Zertifikat hätte es noch eine Gutschrift von einem halben Cent gegeben. Das ist quasi ein Totalverlust.

Aus Groß mach Klein und dann wieder Groß – der Hebeleffekt

Gewinne bzw. Verluste von 40 oder 60 Cent klingen recht harmlos, aber hinter der ganzen Spekulationsmaschinerie verbirgt sich ein gewaltiger Sprengstoff. Denn die Vorgehensweise bei der Konstruktion von Spekulationsprodukten ist perfide. Man splittet zunächst einen relativ großen Wert auf. Aus 6.400 Indexpunkten werden durch das Bezugsverhältnis von 1 : 100 relativ magere 64,00 Euro. Durch diesen geringen Kapitaleinsatz kann der Spekulant überproportionale Gewinne einfahren (aber auch Verluste machen). Dies ist der Hebeleffekt, den man an einem einfachen Beispiel verdeutlichen kann:

Angenommen, der DAX-Future notiert bei 6.700 Punkten. Ein Anleger setzt auf einen steigenden Index. Würde man ein Bezugsverhältnis von 1 : 1 festlegen, müsste der Anleger ein Kapital von 6.700 Euro aufbringen und hätte, wenn der Index um 100 Punkte steigt, einen Gewinn von 100 Euro bzw. 1,5 % erwirtschaftet. Bei einem Produkt wie DX0BGY sieht die Sache radikal anders aus. Für einen Anlagebetrag von 6.700 Euro könnte ein Anleger bei einem Preis von 3 Euro je Optionsschein 2.233 Scheine erwerben. Steigt der mit den Scheinen korrespondierende Index nun um 100 Punkte, wird ein Schein rechnerisch aufgrund des Bezugsverhältnisses von 1 : 100 um einen Euro steigen. Das ergibt einen Gewinn von 2.233 Euro. Dieselben Werte ergeben sich, jeweils mit umgekehrtem Vorzeichen, im Falle eines Indexrückgangs um 100 Punkte.

Zur Ausnutzung des Hebeleffektes wird also zunächst aus der großen Einheit eine kleine gemacht. Da Spekulationsprodukte jedoch in immens hohen Stückzahlen angeboten werden (bei DX0BGY zum Beispiel 100 Millionen Scheine) wird in einem zweiten Schritt das Volumen mühelos wieder aufgeblasen. Man muss sich in diesem Zusammenhang darüber im Klaren sein, dass alleine bei db-x markets an jedem Börsentag mehrere solcher Scheine mit einem potenziellen Volumen von jeweils 100 Millionen Stück kursieren und dass die DayWAVE´s nur einen Bruchteil des angebotenen Repertoires darstellen. Außerdem reden wir hier nur von der Deutschen Bank. Alle Kreditinstitute machen das Spiel mit, und Deutschland ist bei weitem nicht der größte Markt. Weltweit sind Derivate im Nennwert von etwa 70 Billionen US-Dollar an den Börsen unterwegs. Hinzu kommt die viel größere Summe von über 700 Billionen US-Dollar an Derivaten, die außerbörslich (OTC = over the counter) gehandelt werden.

Der Emittent generiert Handelsgewinne und sichert sich ab

Die Finanzindustrie hat durch Produkte wie DX0BGY den Kasinokapitalismus in unsere Wohnstube transportiert. Es geht hier nicht mehr um solide Kapitalanlagen oder um eine Absicherung von Beständen (wozu man den DAX-Future nämlich auch einsetzen kann), sondern um reine Spekulation. Der Emittent stellt als so genannter Market-Maker für alle seine Emissionen fortlaufend Kauf- und Verkaufskurse. Die Möchtegern-Investmentbanker können also zu jedem Zeitpunkt aus der Anlage aussteigen oder neu investieren. Dies wird von der Finanzindustrie gerne als großer Vorteil gepriesen. Der Markt werde dadurch liquide gehalten, man könne seine Anlage schließlich jederzeit wieder liquidieren. In Wirklichkeit greifen die Anleger dem Emittenten mit ihren regen Handelsaktivitäten finanziell kräftig unter die Arme, denn dieser realisiert über die Spanne zwischen Kauf- und Verkaufspreis satte Gewinne. Aus den Gewinnen werden Boni und Vertriebsprovisionen beglichen – und es wird das Risiko abgesichert. Denn falls der Anleger mit seiner Kurserwartung richtig liegt, macht er einen Gewinn. Diesen müsste der Emittent als Wettpartner tragen, würde er sein Risiko nicht über den Abschluss eines entsprechenden Gegengeschäftes an einen Dritten durchreichen. Auch die Kosten für dieses Gegengeschäft trägt der Anleger.

Der Branche ist sehr daran gelegen, dass der Spieltrieb von Privatanlegern nicht zum Erliegen kommt. Permanent werden neue Produkte angeboten. Bei db-x markets tauchen täglich mehrere hundert Neuemissionen auf. Wem der Tageshandel von DX0BGY zur Befriedigung seines Spieltriebs nicht ausreichte, dem stand am 13. April mit DX0BRJ ein weiteres Spekulationsinstrument zur Verfügung. Gleicher Basispreis, gleiches Prinzip: Spekulation auf einen steigenden DAX-Future. Und wieder waren 100 Millionen Optionsscheine im Angebot.

Ein Privatanleger mag bei diesem regen Treiben verlieren oder gewinnen. Im Gegensatz zum Emittenten verliert er unterm Strich meist. Der Emittent steht durch sein größeres Know-how, seine enge Vernetzung in der Branche und aufgrund eines systemimmanenten Informationsvorsprungs in der Regel auf der Gewinnerseite. Und sollte er sich tatsächlich einmal heftig verzocken, kann er ziemlich sicher davon ausgehen, dass er durch den Staat gerettet wird. Weil er nämlich meistens „too big to fail“ ist.

Ein Privatanleger, der auf Produkte wie DX0BGY abfährt, weil er glaubt, dass man auf diese Weise tolle Renditen einfahren kann, agiert nur vordergründig im eigenen Interesse. In Wahrheit wird er zum Handlanger des Systems. Mit dieser Botschaft endet auch das Wellenreiterlied der Gruppe BAP.


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