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Titel: Die Demokratie vor Gericht – Wie Juristen und Eliten die Volkssouveränität verdrängen
Datum: 18. Mai 2025 um 13:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie
Verantwortlich: Redaktion
„Das Bundesverfassungsgericht muss aufgrund seiner Praxis als Kontrahent der Volkssouveränität bezeichnet werden.“ Ingeborg Maus’ scharfe Analyse klingt zunächst radikal, trifft jedoch einen wunden Punkt der heutigen demokratischen Realität. Sie wirft ein Schlaglicht auf eine Entwicklung, die sich schleichend vollzieht, aber tiefgreifende Folgen für die politische Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger hat. [1] Von Detlef Koch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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In den letzten Jahrzehnten ist eine zunehmende Verrechtlichung demokratischer Entscheidungsprozesse zu beobachten. Immer häufiger nehmen Gerichte Einfluss auf politische Beschlüsse, ja, sie definieren mitunter sogar die Grenzen dessen, was politisch überhaupt möglich ist. Was zunächst als Schutz von Minderheiten und Grundrechten erscheint, entpuppt sich auf den zweiten Blick als Problem: Politische Entscheidungen werden zunehmend juristisch-technokratisch legitimiert, nicht mehr demokratisch. [1]
Die Politikwissenschaftler Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer zeigen in einer viel beachteten Studie, dass der Bundestag politische Entscheidungen in Deutschland immer häufiger zugunsten der Interessen wohlhabender Bürger trifft, während die Anliegen einkommensschwacher Gruppen systematisch ignoriert werden. Die Demokratie gerät so in Schieflage: „Politische Gleichheit wird systematisch verletzt, da vor allem Personen mit höherem Einkommen Gehör finden.“ Damit verliert die Volkssouveränität – das Grundprinzip der Demokratie – ihren Kern. [1]
Jürgen Habermas, der wohl bekannteste lebende deutsche Philosoph, beschreibt diesen Prozess als systematische Entkoppelung der „Lebenswelt“ der Bürger vom technokratisch-juristischen „System“ politischer Eliten und Institutionen. Für Habermas ist Demokratie nur dann intakt, wenn Bürgerinnen und Bürger aktiv und wirksam am politischen Prozess teilnehmen können. Er warnt seit Jahrzehnten davor, dass „die in ihre autonomen Bezirke zurückgezogene kulturelle Moderne geschmeidig gemacht werden müsse, um sie einer Lebenspraxis zuzuführen, die gleichzeitig vor Zumutungen eines unvermittelten Zugriffs der Experten behütet wird.“ [2]
Genau diese Zumutung aber findet derzeit statt. Politische Streitfragen wie Klimaschutz, Mieten oder soziale Gerechtigkeit landen vermehrt vor Gerichten. So erklärte das Bundesverfassungsgericht 2021 Teile des deutschen Klimaschutzgesetzes für verfassungswidrig. Was als juristischer Erfolg für den Klimaschutz gefeiert wurde, hat jedoch auch eine Schattenseite: Das Gericht setzte klare politische Vorgaben und entzog damit der demokratischen Auseinandersetzung entscheidende Gestaltungsspielräume. [1]
Ähnlich beim Berliner Mietendeckel: Mehrheitsbeschlüsse des demokratisch gewählten Senats wurden gerichtlich kassiert. Die Berliner mussten erfahren, dass ihre politische Willensbildung rechtlichen Einschränkungen unterworfen ist, die nicht von gewählten Vertretern, sondern von juristischen Instanzen definiert wurden. [1]
Ingeborg Maus sieht hierin eine gefährliche Verschiebung: „Die einstigen Menschenrechtssubjekte finden sich als Objekte einer Menschenrechtsverwaltung wieder.“ Durch juristische und supranationale Institutionen, wie beispielsweise in der EU, werde Demokratie de facto ausgehöhlt. Maus’ Diagnose ist radikal, aber in der Substanz zutreffend. Wenn politische Prozesse zunehmend von technokratischen Eliten und Juristen kontrolliert werden, entsteht ein neuer Typus der Herrschaft – eine „Verrechtlichung“, die demokratische Souveränität verdrängt. [3]
Der britische Historiker Tariq Ali spricht sogar von einer „extremen Mitte“, einer politischen Klasse, die weder links noch rechts eindeutig einzuordnen ist, sondern deren gemeinsames Merkmal eine technokratische, kapitalorientierte und zunehmend autoritäre Regierungsweise darstellt. Diese technokratischen Regierungen, so Ali, verschaffen Konzernen und wirtschaftlichen Eliten Vorteile auf Kosten der breiten Bevölkerung. [4]
Ein markantes Beispiel für diese Tendenz ist das deutsch-französische Rüstungsabkommen (DFA), dessen demokratische Kontrolle nach einem Gutachten von Greenpeace massiv eingeschränkt ist. Entscheidungen über Waffenausfuhren werden demnach außerhalb parlamentarischer Kontrolle gefällt, wodurch die politische Verantwortlichkeit verschleiert wird. [5]
Welche Konsequenzen hat diese Entwicklung langfristig für unsere Gesellschaft? Wenn die Bürger zunehmend das Gefühl bekommen, dass ihre politische Stimme nicht zählt, wächst die Gefahr von Politikverdrossenheit und einer weiteren Spaltung der Gesellschaft. Gleichzeitig nimmt die Macht von Gerichten und technokratischen Instanzen zu, deren Entscheidungen kaum demokratisch legitimiert sind.
Der Weg zurück zu mehr Demokratie führt über eine Revitalisierung der politischen Teilhabe. Maus und Habermas stimmen überein, dass die Stärkung einer partizipativen Demokratie, in der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich über wesentliche politische Fragen entscheiden können, notwendiger ist denn je. [2] [4]
Eine lebendige Demokratie braucht nicht nur juristische Schutzmechanismen, sondern vor allem den Raum zur demokratischen Gestaltung. Es ist Zeit, die Demokratie aus ihrer juristisch -technokratischen Umklammerung zu befreien und sie wieder als das zu verstehen, was sie eigentlich sein sollte: „Herrschaft des Volkes, durch das Volk und für das Volk.“
Titelbild: WESTOCK PRODUCTIONS / shutterstock.com
Verwendete Online-Quellen:
Bock, Stefanie (2017): Zurechnung im Völkerstrafrecht. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, Heft 7-8/2017, S. 410 ff.
Online: https://zis-online.com/dat/artikel/2017_7-8_1121.pdf
Fußnoten:
[«1] Maus, Ingeborg (2018): Justiz als gesellschaftliches Über-Ich. Zur Position der Rechtsprechung in der Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
[«2] Habermas, Jürgen (1981): Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
[«3] Maus, Ingeborg (2011): Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
[«4] Ali, Tariq; Flassbeck, Heiner; Mausfeld, Rainer; Streeck, Wolfgang; Wahl, Peter (2020): Die extreme Mitte. Wien: Promedia Verlag.
[«5] Boysen, Sigrid (2020): Rechtsfragen des deutsch-französischen Abkommens über Ausfuhrkontrollen im Rüstungsbereich vom 23. Oktober 2019.
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