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Titel: „Wollt ihr den totalen Wahnsinn?“

Datum: 6. Juli 2025 um 14:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Kultur und Kulturpolitik
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Was ist wirklich mit dem kleinen Adolf passiert? Und was mit dem auch nicht sonderlich großen Goebbels? Der Roman „Wollt ihr den totalen Wahnsinn?“ taucht ab in eine Welt, in der sich Realität mit Fiktion vermischt und Fiktion mit Realität. Alles scheint plötzlich möglich, inklusive des totalen Wahnsinns. Verantwortlich für ein Werk, das sich mit dem akkuraten Seitenscheitelträger, der CIA, dem Vatikan, den Rattenlinien und noch einigem mehr auseinandersetzt, ist Autor Timm Koch. Koch, dessen Onkel der mit den Hitler-Tagebüchern beim Stern war, erzählt im NachDenkSeiten-Interview, wie er – angeblich – persönlich …, aber ach, lesen Sie doch einfach selbst. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Marcus Klöckner: Herr Koch, wollen wir über Nazis reden?

Timm Koch: Ja. – Auch wenn es schönere Gesprächsthemen gibt. Man kann die Biester leider nicht wegschweigen.

Eigentlich wollten wir ja über Ihr neues Buch reden, wobei wir – wenn wir über Nazis reden, ja über ihr Buch reden. Ihr Buch, das will ich mal vorwegschicken, handelt von Nazis, nur auf eine, sagen wir: etwas spezielle Weise. Es geht um Deutschland. Es geht um Südamerika. Es geht um Nazis. Und dann sind da solche Figuren wie klein Adolf und ein gewisser J. G., die – irgendwie – noch leben; oder gelebt haben, also nicht so richtig gestorben sind. Doch bevor ich zu viel verrate, frage ich Sie im Sinne Ihres Buchtitels: Wollen Sie den totalen Wahnsinn?

Gute Frage. Will man sowas? Vor 82 Jahren hat der „gewisse J. G.“ auf seiner berüchtigten Sportpalastrede die Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“ in die Menge gebrüllt, und all die Wahnsinnigen haben herzhaft „Ja!“ zurückgeschrien. Vielleicht sollte ich die Frage nach dem totalen Wahnsinn bei meiner nächsten Lesung einfach mal an mein Publikum richten. Es wäre bestimmt interessant, zu sehen, wie es reagiert.

Nun, die heutige Zeit ist ja durchaus von einem gewissen Wahnsinn durchdrungen, oder?

Ja, und es wird schlimmer. Das liegt auch daran, dass die Propagandamaschinerie immer weiter durchdreht. Seuchen und Gemetzel hat es schon immer gegeben. Aber heute stellen sich dieselben Typen vor das Mikrofon, die vor Kurzem noch die Corona-Protestler als „Nazis“ beschimpft haben (sie also gleichsetzten mit den Unmenschen, die Millionen von Juden, Sinti, Roma, Schwulen, Lesben, Kommunisten etc. im KZ vergasten), und halten vor dem Holocaust-Mahnmal wohlfeile Sonntagsreden – während sie hintenrum die Waffen für den Vernichtungskrieg in Gaza liefern. Sie tun dies mit dem Hinweis darauf, dass der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 der schlimmste Massenmord an Juden seit dem Holocaust war. Dieselben Propagandamaschinisten kommen allerdings nicht auf die Idee, zu hinterfragen, wieso der israelische Geheimdienst zwar genau weiß, wo die iranischen Atomwissenschaftler pennen, sodass man ihnen eine Rakete ins Schlafzimmer jagen kann, von den Vorbereitungen auf das Hamas-Massaker aber nichts mitbekommen haben will. Vollkommen wahnsinnig ist auch eine Definition von Antisemitismus, die nicht der Tatsache Rechnung trägt, dass die Palästinenser genau wie die Israelis ebenfalls zu den Semiten zählen. (Die am häufigsten gesprochene semitische Sprache auf diesem Planeten ist – nebenbei bemerkt – übrigens nicht Hebräisch, sondern Arabisch.) Als Krönung des Wahnsinns bezeichnet ein Emporkömmling, der sich mit Lug, Trug und Nazi-AfD-Mauscheleien zum Bundeskanzler emporgeschwungen hat, Israels blutiges Tagwerk als „Drecksarbeit“, die „für uns“ erledigt würde. Diese rhetorische Glanzleistung wäre des wahnsinnigen Horrorclowns Donald Trump würdig gewesen. Aber lassen wir das. Spätestens, wenn man anfängt, über die Entwicklungen in den USA und den Krieg in der Ukraine nachzudenken, kann man ja nur noch verrückt werden.

Ich überlege gerade, wie wir den Zugang zu Ihrem Buch für dieses Interview hinbekommen. Fangen wir doch mal wie folgt an: Bekannt ist, dass klein Adolf zum Ende des Krieges die Welt von sich selbst befreit hat. Andere Nazis haben ebenfalls Selbstmord begangen oder wurden zum Tode verurteilt. Allerdings sind auch einige aus Deutschland geflohen. Es gibt da so einen Begriff: Rattenlinie. Was ist damit gemeint?

Was Hitlers Selbstmord angeht, so kann man sich darüber bei nüchterner Analyse nicht wirklich sicher sein. Aber zunächst zu ihrer Frage: Nach der Niederlage Nazideutschlands 1945 zogen der Vatikan, das Rote Kreuz, das Franco-Regime und nach kurzer Schamfrist auch die CIA bzw. ihre Vorgängerorganisationen OSS/SSU gemeinsam am selben Strick, um Tausende von Holocaust-Superverbrechern über Italien und Spanien nach Südamerika zu schleusen. Besonders Argentinien war ein beliebtes Ausreiseziel, wo Juan Perón – zeitlebens ein glühender Hitler-Fan – den „politisch verfolgten“ Nazis großzügiges Asyl gewährte.

Was waren die Motive?

Die Motivlage hierfür dürfte mehrschichtig gewesen sein. Der Vatikan plante, die morderprobten Faschos für seinen Kampf gegen die Sozialrevolutionäre Lateinamerikas zu instrumentalisieren. Amerika liebte die Idee faschistischer Diktaturen, weil sie mit deren Hilfe ihre rücksichtslosen imperialen Interessen leichter durchsetzen konnten. Perón wiederum träumte von einer Vormachtstellung Argentiniens über den Rest des Kontinents. Er ließ den Nazi-Wissenschaftler Ronald Richter auf einer Insel in einem großen See in Patagonien den ersten Kernfusionsreaktor der Menschheitsgeschichte errichten. Richter versprach Perón, ihm die „Sonne in Milchtüten“ zu liefern. Als dies nicht klappte, war es recht schnell vorbei mit der Herrschaft Peróns.

Gut, so weit, so bekannt. In Ihrem Roman – Schock! – ist es aber nun so, dass Totgeglaubte nicht wirklich tot sind. Vielmehr leben Sie noch, oder genauer: Sie lassen sie als Romanautor auferstehen. Oder beschreiben Sie unter dem Vorwand des Fiktiven doch die Realität? Oder vermischen Sie Fiktion mit Realität? Oder geben Sie nur vor, Realität in die Fiktion zu gießen? Oder Fiktion in die Realität? Oder … oder … oder? Wobei: Jetzt sind wir ja schon wieder – irgendwie – beim Wahnsinn angelangt. Uff! Ich bitte um Antworten.

Totgeglaubte leben länger, aber zum Glück auch nicht ewig. Aber dazu später … Was ist schon Realität, was ist Fiktion? Wo liegt die Wahrheit? Goebbels hat angeblich mal gesagt, man müsse eine Lüge nur oft genug wiederholen, um sie zur Wahrheit werden zu lassen. Oder der hier: Geschichtsschreibung ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat. Mein persönliches Rezept in dieser komplizierten Gemengelage sah beim Schreiben folgendermaßen aus: Ich vermischte in „Wollt Ihr den totalen Wahnsinn – Der Nazi-Roman“ historische Persönlichkeiten und Gegebenheiten, über die sich vornehmlich bei Wikipedia nachlesen lässt, mit Figuren, die ich frei erfand, und Stories, die sich eben nicht bei Wikipedia nachschlagen lassen. Das Ganze würzte ich mit einem ordentlichen Schuss Voodoo. Ab einem gewissen Punkt greifen die Loa, also die Gottheiten der haitianischen Mythologie, in die Geschichte ein.

Es verhält sich nämlich so, dass eine hochinteressante Person dieser Epoche, der irische Priester und Papst-Vertraute Monsignore Hugh O´Flaherty, für dessen Verstrickung in die Rattenlinien sich allerhand Indizien finden, eine Weile auf Haiti gelebt hat. Im Synkretismus haitianischer Prägung, der die Götterbilder des Voodoo mit der Lehre der katholischen Kirche verschmelzen lässt, wird Damballah, der Gott der Schlangen, im Bildnis des irischen National-Heiligen Sankt Patrick verehrt. Für mich als Romanautor, der ich mich sowohl in Irland als auch in Haiti ein wenig auskenne, sind solche Überschneidungen natürlich ein gefundenes Fressen.

Lassen Sie uns doch mal richtig in die Geschichte einsteigen. Es gibt da eine Figur, die heißt Timm Koch! Pardon, jetzt habe ich die Namen vertauscht, Timm Koch sind Sie. Ich meinte natürlich Frank Fuhrmann. Wer ist Fuhrmann?

Frank Fuhrmann ist eine Kunstfigur, in der ein gerüttelt Maß Timm Koch steckt. Das fängt bei der Familiengeschichte an. Franks Opa Emil arbeitet als Auslandskorrespondent dem NS-Propagandaministerium zu. Genauso verhielt es sich mit meinem, Timm Kochs, Großvater Erwin – nur dass Erwin im Nachkriegsdeutschland, mit CIA-Unterstützung, nicht zum Südamerika-Reisenden wurde, sondern zum Asien-Spezialist. Es existiert ein Interview von ihm, in dem er mit dem jungen Dalai Lama spricht. Ferdinand Fuhrmann hingegen, der im Roman den gefälschten Liebesbriefen Hitlers an Magda Goebbels hinterherjagt, findet seine Entsprechung in meinem Onkel Peter, der als Chefredakteur des Stern mit den Hitler-Tagebüchern reingelegt wurde. Natürlich finden auch ein paar Antifa-Aktionen und persönliche Erfahrungen aus meiner Zeit im Berlin der Wende-Ära Eingang in den Verlauf des Romans.

Und dann tauchen da aber auch Figuren wie ein gewisser Goebbels und ein Hitler auf, und zwar sowohl in Deutschland als auch in Südamerika. Was ist da passiert?

Was Goebbels angeht, so trifft Frank Fuhrmann, von Voodoo-Göttern und dem Geist seiner toten Stiefoma geleitet, den greisen NS-Propagandaminister in dessen Penthouse-Wohnung in Venezuelas Hauptstadt Caracas. Bei meiner, Timm Kochs, Begegnung mit ihm, im Januar 1994, waren hingegen Leute vom Film im Spiel. Der venezolanische Bekannte, über den ich mit Goebbels in Kontakt kam, war im Bereich der Telenovela, jener lateinamerikanischen Spielart der Seifenoper, tätig.

Langsam, langsam. Heute bin ich etwas begriffsstützig. Sie haben Goebbels getroffen? 1994? Also in einem Film? Also fiktiv? Oder wie? Oder was?

Ich will es mal so ausdrücken: Wenn dieser Nazi-Greis, der mir damals die Tür zu seiner Wohnung öffnete, niemand anders als Goebbels war, hat er sich nach seiner Flucht ganz augenscheinlich keiner Gesichtsoperation unterziehen lassen. Wahrscheinlich dachte er sich, dass er mit seinem Klumpfuß sowieso jederzeit erkannt werden würde. Seine zwergenhafte Statur und sein rheinischer Tonfall taten ein Übriges, um das Bild abzurunden. Zudem erzählte er mir bei unserer zugegebenerweise recht kurzen Begegnung, er sei über Italien und Spanien „entkommen“.

Von Goebbels vermeintlicher Leiche existiert Foto- und Filmmaterial, das einen komplett verkohlten Körper mit verkrüppeltem Fuß neben einer ebenfalls verkohlten Frauenleiche und der unverkohlten Goebbels‘schen Kinderschar zeigt. Verschiedene Historiker haben sich gefragt, was die Goebbels-Kinder eigentlich im Bunker zu suchen gehabt haben. Er hätte seine Brut ja auch irgendwo in Sicherheit bringen können. Die Antwort ist ganz einfach: Er brauchte sie für diese makabren, von den Russen angefertigten Familienfotos, um sich selbst in Sicherheit bringen zu können.

Hitler-Tagebücher: Ick hör dir trapsen, oder so?

Natürlich bin ich mir im Klaren, dass ich als Neffe des Mannes, der mit den Hitler-Tagebüchern die größte Ente der Zeitungsgeschichte in die Welt gesetzt hat, in dieser Frage vollkommen unglaubwürdig bin. Deswegen habe ich die Geschichte auch in einem Roman verpackt und nicht als Sachbuch herausgebracht.

Von Hitlers Leiche wiederum existieren noch nicht einmal diese Fake-Fotos. Alles, was offiziell von ihm übrig blieb, sind ein zerschossenes Stück Schädelplatte und ein Gebiss mit jeder Menge Goldzähnen. Die Schädelplatte stammt laut DNA-Analyse von einer Frau. Das Gebiss hat ganz sicher nicht im kolportierten Benzinfeuer gelegen, mit dem Hitlers Leiche laut offizieller Geschichtsschreibung von seiner Dienerschaft behandelt wurde. Es stimmt zwar mit einer Röntgenaufnahme überein, die in den Katakomben des Führerbunkers gefunden wurde. Aber die Zeugenaussagen von Hitlers Zahnarzt Hugo Blaschke und dessen Assistentin Käthe Heusermann, die das Gebiss und das Röntgenbild Hitler zuordnen, sind alles andere als glaubwürdige Quellen. Auf der anderen Seite finden sich verdächtige U-Boot-Fahrten nach Kriegsende mit dem Ziel Argentinien und zusätzlich eine ganze Reihe von Zeitzeugen, die Hitler nach dem Krieg am Ufer eben jenes Sees bestätigen, an dem Ronald Richter an der Kernfusion bastelte.

Ihr Buch lässt sich als mit viel (schwarzem) Humor geschrieben verstehen, aber das würde ihm nicht vollends gerecht. Unter der Oberfläche des Humoristisch-Satirischen steckt ein ernstes Thema. Ich zitiere mal eine Stelle aus dem Buch: „Angeführt von kroatischen Franziskanern, die selber bei den bestialischen Morden der Ustascha an Serben, Juden, Sinti und Roma Hand angelegt haben, wurden die Rattenlinien gezogen, um den infektiösen Eiter des Faschismus als Gegenmittel gegen linke Bewegungen in die neue Welt zu tragen (…).“ Im Grunde genommen dreht sich Ihr Buch um die Frage, was wirklich mit den Nazi-Größen passiert ist, aber auch: Welche Rolle spielten etwa die CIA, der Vatikan und so manch andere vorgeblich „Guten“. Warum interessieren Sie sich für das Thema?

Goebbels wird ganz sicherlich nicht ohne das Wissen der CIA oder auch des BND in Südamerika ein biblisches Alter erreicht haben. Dafür wird er Gegenleistungen erbracht haben. Auf seine teuflische Art war er ja, was die Manipulation der Massen anging, auf jeden Fall ein Genie. Er wird gewissen Kräften mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben. Es gab ja auch für die Amerikaner genug zu verklären, von den extrem opferreichen Massakern in Korea und Vietnam bis hin zum Genozid an den Mayas in Guatemala oder anderen Schweinereien in Lateinamerika. Mein Kontakt zu ihm über Leute vom Film spricht dafür, dass er bis zum Ende im Geschäft gewesen ist. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass an den Narrativen der Nachkriegsordnung bis in die Mitte der 1990er-Jahre die Hand des Klumpfüßigen mitgestrickt hat.

Die berüchtigte „Operation Paperclip“ der CIA betraf eben nicht allein deutsche Wissenschaftler, die nach dem Krieg den Amerikanern bei ihren Waffenprogrammen zu Diensten waren. Es ging dabei auch um Folterspezialisten wie etwa Klaus Barbie, den psychopathischen „Schlächter von Lyon“, der mit seinen „Spezialkenntnissen“ der CIA auch bei der Jagd auf Che Guevara in Bolivien zugearbeitet hat. Oder eben um NS-Propagandatypen wie Goebbels und meinen Großvater Erwin. Letzterer wurde in seiner Königswinterer Wohnung regelmäßig von einem amerikanischen Agenten mit braunen Umschlägen voller Geld bedacht, damit er die faschistoiden Aktionen unserer „amerikanischen Freunde“ schönschrieb.

Was ist Ihre Botschaft an die Leserschaft?

Spätestens, wenn jemand sich selber in der Öffentlichkeit als seriös bezeichnet und vor den Lügen und Fake-News der anderen warnt, sollte man misstrauisch werden. Als Sohn eines Journalisten ist mir schon auf Kindesbeinen zu verstehen gegeben worden, dass die „Wahrheit“ ein sehr dehnbares Ding ist. Abgesehen davon muss die Botschaft natürlich lauten: Lehnt euch zurück und genießt den Wahnsinn, der sich da als Buchstabensalat vor euren Augen auftut. Wem das nicht reicht: Vielleicht hilft er euch ja, die Welt ein wenig besser zu verstehen.

Titelbild: © privat

Lesetipp

Timm Koch: Wollt ihr den totalen Wahnsinn? Der Nazi-Roman. Frankfurt am Main 2025, Verlag FiftyFifty, gebundene Ausgabe, 352 Seiten, ISBN 978-3946778516, 24 Euro.


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