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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Deutschland, uneinig Vaterland
Datum: 3. Oktober 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gedenktage/Jahrestage, Wertedebatte
Verantwortlich: Maike Gosch
Am 3. Oktober feiern wir den Tag der Deutschen Einheit und damit die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands 1990 – zugleich erinnert dieser Tag auch an die historische nationale Einigung, die im 19. Jahrhundert mit der Reichsgründung 1871 erreicht wurde. Wir haben jetzt eine staatliche Einheit, aber was ist mit der gesellschaftlichen Einheit? Die scheint weniger vorhanden und weniger erreichbar zu sein denn je. Eine Reflexion von Maike Gosch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Und wieder ist der Tag der Deutschen Einheit. Ich habe ihn in diesem Jahr fast vergessen. Auch generell scheint mir mit jedem Jahr, das seit 1990 vergeht, die Begeisterung für diesen Feiertag zu sinken. Warum weckt dieser Tag in diesem Jahr besonders wenig Enthusiasmus? Vielleicht, weil Deutschland sich so uneinig anfühlt wie lange nicht. Das Land ist tief gespalten: Zwischen arm und reich, Ost und West, Alt und Jung, AfD und „unsere Demokratie“, links und rechts, Maßnahmengegnern/Corona-Aufklärern und Maßnahmenverteidigern, Stadt und Land, „woke“ und konservativ, Palästinaaktivisten und Israelunterstützern, und man könnte diese Liste noch lange weiterführen. Die Substanz dessen, was eine gemeinsame Basis sein könnte – eine nationale Erzählung, geteilte Werte, das, worauf wir uns alle einigen können –, scheint immer mehr wegzuschmelzen. Oder ist der Fokus einfach zu wenig darauf gerichtet? Sprechen wir überhaupt je noch davon, was uns einigt?
Gefühlt seit etwa zehn Jahren ist der öffentliche (und oft auch private) politische Diskurs so stark dominiert von all dem, was uns trennt, dass dieses Trennende, von der Aufmerksamkeit wie Luftballons aufgeblasen, immer größer erscheint. Wenn überhaupt etwas Gemeinsames beschworen wird, dann ist es immer gleichzeitig gegen eine „outgroup“ gerichtet und es geht gerade nicht um Verbindung und Integration, sondern darum, eine Front gegen eine andere Gruppe zu bilden. Sei es die Kommunikation um die Corona-Maßnahmen, bei der so stark gegen Impfskeptiker und Maßnahmenkritiker gehetzt wurde, dass einem angst und bange wurde. Die tiefen Verletzungen und Spaltungen aus dieser Zeit sind noch lange nicht geheilt.
Oder die Beschwörungen von „unserer Demokratie“ und den „Märschen gegen rechts“, die sich offen und feindselig gegen die Politiker, Wähler und Unterstützer der größten Oppositionspartei (und inzwischen größten Partei überhaupt) richteten, sie von „unserer Demokratie“ auszuschließen versuchten und als Anti-Demokraten, Feinde der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, Nazis und damit als eigentlich nicht zu Deutschland (dem guten Deutschland) gehörend darstellen. Spiegelbildlich wurden aber auch Deutsche mit Migrationshintergrund vom anderen Ende des politischen Spektrums oft ausgegrenzt und aus dem nationalen Gemeinschaftsgefühl herausgeschrieben – das natürlich vor dem Hintergrund der hohen Migrationszahlen und der vielen großen Probleme bei der Integration.
Es ist schon extrem, wie sehr sich die Stimmung gewandelt hat. Ich erinnere mich noch an den 3. Oktober 1990, an meine Euphorie und Freude damals, an das rauschende Feiern auf der zerbrochenen Mauer, an die Festreden, die Rührung. Was für eine Erleichterung, was für eine Hoffnung, was für ein Gefühl von „Richtigkeit“, dass wir wieder ein gemeinsames Land waren. Meine Großmutter stammt aus Thüringen (Eisenach), und ich weiß noch, wie aufgebracht und traurig sie reagierte, als ihr klar wurde, dass wir westdeutschen Schüler in den 80ern in der Schule nichts über die Geschichte und Geographie ihrer Heimatregion gelernt hatten und uns ausschließlich eine westdeutsche Identität vermittelt wurde.
Ein weiteres Highlight war in meinen Augen auch der Sommer 2006, das sogenannte Sommermärchen, als die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland ausgerichtet wurde – mit Public Viewing überall im Land und der Freude und Überraschung der internationalen Gäste, dass Deutschland so weltoffen, so fröhlich, so unbeschwert war und man hier großartig gemeinsam feiern konnte. Selbst bei meinen eher linksgerichteten Freunden wurde damals die deutsche Flagge salonfähiger, man malte sich die deutschen Farben ins Gesicht und trug Trikots der Nationalmannschaft. Ich erinnere mich noch an Diskussionen mit ihnen, was die Flagge bedeutete und wofür sie stünde – ich damals wie heute auf der Seite, dass Schwarz-Rot-Gold als Symbol der deutschen Demokratie- und Einheitsbewegung im 19. Jahrhundert mit Stolz getragen werden könne, sie in der Angst und mit dem Vorbehalt, dass Nationalflaggen generell nationalistisch und chauvinistisch seien und die deutsche mit unserer Geschichte besonders gefahrbehaftet. Aber langsam schien das neue Gesamtdeutschland in ein neues, heileres Selbstverständnis hineinzuwachsen. Und es wirkte, als würden wir einige der schlimmsten Schatten unserer Vergangenheit endlich überwinden können.
Aber da hatten wir uns wohl zu früh gefreut. Seitdem sind diese und viele neue Schatten aufgetaucht und verstärken sich eher. Schwer zu sagen, ob das eine organische Entwicklung ist, die eigendynamisch abläuft, oder diese Entwicklungen der Teilung und Spaltung auch aktiv und gezielt befeuert werden. Ein geteiltes Land, eine in sich verstrittene Bevölkerung lässt sich leichter dominieren. Dissens ist gut, wir müssen keine Einheit sein, keine „Masse“. Pluralität ist Reichtum und ein Zeichen einer demokratischen Gesellschaft. Aber ich jedenfalls habe das Gefühl, dass es vielleicht Zeit ist, den Fokus wieder stärker auf das Verbindende zu richten. Wir sind ja nun einmal gemeinsame Bürger eines Landes. Wenn man nicht auswandern will oder sich im Sinne des Slogans „keine Grenzen, kein Vaterland“ als staatenloser Weltbürger empfindet, muss man sich hier irgendwie arrangieren – am besten mit allen – und die aktuelle starke Tendenz zur Zersplitterung überwinden.
Aber nicht nur innenpolitisch ist wenig Einigkeit erkennbar, auch außenpolitisch hat Deutschland in den letzten Jahren ungeheuer viel Porzellan zerschlagen. Der massive Anti-Russland-Kurs, den Deutschland im Schulterschluss mit der EU und den USA (ja, auch immer noch, trotz Trumps mäandernden und teilweise abweichenden Aussagen) weiter stur verfolgt, die geradezu blinde Unterstützung der Kriegsverbrechen Israels, die sich verstärkenden autoritären Tendenzen der EU – wo man hinschaut, wirkt Deutschland nicht auf Einigkeit hin, sondern auf Konflikt und Frontenbildung. Sprach Richard von Weizsäcker beim Festakt am 3. Oktober 1990 noch davon, dass Deutschland „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt“ dienen wolle, so ist heutzutage im Jahr 2025 nicht viel davon eingelöst worden. Europa und die EU im Besonderen ächzen unter den inneren und äußeren Spannungen, und mit dem Frieden in der Welt ist es auch nicht besonders weit her.
Wenn man den Blickwinkel allerdings etwas öffnet, ist es beruhigend, zu sehen, dass diese Spannungen, die Spaltung und das Ringen um ein nationales Selbstverständnis, um die Deutung der eigenen Identität diesmal ausnahmsweise keine deutsche Besonderheit sind und nicht nur uns betreffen. In fast allen Ländern des Westens findet diese Krise gerade statt. Was bedeutet es, US-Amerikaner zu sein? Was ist US-amerikanische Identität, was die britische, was die französische? Und auch, was ist die russische und die israelische Identität? Es scheint, als befänden sich viele Länder in dieser Phase der Selbsthinterfragung, der Selbst(neu)erfindung, der Neudefinition, aber auch der Rückbesinnung auf alte Werte bis hin zur Wiedererweckung von Kreuzzugssymbolik – siehe zum Beispiel die aktuelle Kampagne in Großbritannien mit dem Namen „Operation Raise the Colours“, die dazu aufruft, die Flagge mit dem Sankt-Georgs-Kreuz zu hissen, die England repräsentiert, aber auch in den christlichen Kreuzzügen verwendet wurden.
Vielleicht würde es schon helfen, sich in dieser Phase der Neudefinition und des Aufbrechens der alten Geschichten, aber auch der Wiederentdeckung und Wiederbelebung alter Geschichten, in der wir uns auch in Deutschland gerade befinden, etwas offener und geschmeidiger zu bewegen und auszutauschen. Deutschland hat keine leichte Geschichte, aber eine interessante. Und Deutschland war immer schon ein Land, das sich die Dinge nicht leicht macht, sondern eher zu schwer; das Dinge eher zu negativ sieht und sich auf die Probleme konzentriert anstatt auf die Hoffnung und das Positive. Vielleicht könnten wir, wie man im Englischen sagt, „embrace the process“ (den Prozess begrüßen), anstatt unter ihm zu leiden und gegen ihn zu kämpfen. Und vielleicht kommt dann etwas sehr Fruchtbares und Wertvolles heraus – nicht unbedingt ein Endergebnis, aber eine neue Kultur des Austausches und des Respekts voreinander.
Der Traum eines einigen Deutschlands lag schon öfter in Scherben. Aber wir haben die Scherben auch schon oft wieder aufgehoben und neu zusammengesetzt.
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